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#1310287 - 12.11.17 18:08 La Grande Boucle du Doubs
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La Grande Boucle du Doubs

Kühle Pedalvariationen zwischen oben und unten um ein jurassisches Schleifenidyll im Spiegel präziser Zeitwertgedanken

Dargestellt in 2 Post-doc-graduate-Jura-Forschungs-Exkursionen und 2 Poesie-Extrakten





Inhaltsverzeichnis

Einführung in die Zeitwertgedanken (gleich hiernach)

Poesie-Extrakt I: Die Zeit

Elsgau – Sundgau

Montagne Lomont – Pays Horloger – Franches Montagnes

Poesie-Extrakt II: Le Doubs


Den erfahrenen Forumsleserinnen und –lesern wird nicht entgangen sein, dass meine umfängliche Dissertation zur Großen Jura-Prüfung eine Denk-würdige Krönung meines juristischen/jurassischen Radreisewissens darstellt, wenngleich rechtswissenschaftliche Erkenntnisse sich dort kaum finden lassen – könnte man das doch seines mehrdeutigen Begriffes wegen vermuten – ebenso wie solches Wissen über die nochmals gleichnamige Erdzeitepoche der Paläontologen. Google schmeißt bei „Jura“ meist sogar eine Kaffeemaschine als erstes in die Suchergebnisse. Kaffee ist zwar immer eine willkommene Zugabe der Reisekulinarik, doch Kaffeemaschinen sind im Jura nur eine Randerscheinung, wenn wir es mal großzügig erweitern wollen auf Kaffeemühlen, deren Entwicklung (mehr noch Mühlen für Pfeffer) am Anfang einer bekannten Velo- und Automobilfirma standen und deren historische Exponate sich in einem Museum am Rande des Juras und zu Ufern des Doubs bewundern lassen (indes auch heute noch hochwertige Mahlwerke zur Freude von Hausfrauen und -männern produziert werden).

Überraschend referiert mein Examensexposé dort mehr über Aufklärungsphilosophie, die von der Schülererziehung, Glaubensfragen, Demokratieverständnis bis zur erotischen Selbstbestimmung reicht. Der Jura also nicht nur ein urtümliches, nicht selten archaisch anmutendes Landschaftsmodell, sondern auch ein Urquell des modernen, geistreichen wie freien Weltdenkens, das umso mehr heute von plakativen Gedankenfetzen bedroht scheint, als Stammtischgeschwätz nicht neu, aber in seiner digitalen Verbreitungsgeschwindigkeit und –dimension eine wahrhaftige Gefahr für das durchdachte Argument und die menschliche Gemeinschaft generell. Aufklärung tut Not, heute mehr denn je.

Es wäre nicht der akademischen Kreise würdig, gäbe es nach der Examinierung nicht eine Vertiefung von Wissen und Forschung auf der Basis des Erreichten. „Nur die fortgesetzte Bemühung bewirkt Mühelosigkeit“, heißt es von Robert Walser geistreich, etwas unterschlagend, dass die Mühsalen des Radfahrens trotz fortgesetzter Bemühung im Alterungsprozess selten geringer werden, während die Berge immer größer zu wachsen scheinen. Doch war ja hier von Forschung, von Wissen oder auch einfach von der Gabe des Schauens die Rede. Einige Forumistas wie etwa Juergen und Hansebiker haben die prüfungsrelvante Erkundung jurassischen Wissens auf nicht unerkleckliche, wenn auch andere Weise aufgegriffen und vertieft. Einschlägige Forumsliteratur dazu ist leicht zu finden. Die Folgen meiner wissenschaftlichen Aufbereitung des Juras – immer wieder in selbstauferlegte, wenngleich strenge Prüfungsmaßstäbe eingeflochten –, darf ich insofern als nachhaltig bewerten. Wohl auch dürfte es bisher keine folgenreichere Zusammenkunft von Forumsradlern gegeben haben, welche da am Bieler See am Anfang der vertieften Jura-Forschung gestanden hat. Der damalige Organisator Markus dürfte sich immer wieder die Augen reiben, welche jahrelangen akademischen Folgewirkungen dieses Treffen bei einigen Veloadvokaten ausgelöst haben. Gewiss ist der Kreis der jurassischen Examensradler klein geblieben, was aber weiterhin für die Exklusivität und schwierige Nahbarkeit der Landschaft und ihrer Menschen spricht.



Ökonomisches Update und Kampf um Forschungsmittel

Es gingen nun einige Jahre ins Land, bis mir im Jahre 2016 und 2017 neue Forschungsmittel bereitgestellt wurden, um die jurassische Forschung weiter voran zu treiben. Leider sind die allseits bekannten Mittelbeschränkungen der öffentlichen Hand und privaten Gönner hier besonders drastisch wirksam, erweist sich der Jura immer noch als schwer erreichbar. Nimmt man die Bahnbetriebe aus Deutschland, Frankreich und der Schweiz als Maßstab, befindet sich die Dreiländerzusammenarbeit auf dem Niveau des 19. Jahrhunderts. Weder kooperieren die Eisenbahngesellschaften mit geeigneten Verbindungen, noch können dergleichen Buchungen aller Art grenzüberschreitend vorgenommen werden, von den Klimmzügen bei der Velomitnahme mal ganz zu schweigen. Städte wie Basel oder Strasbourg sind in ihren bahntechnischen Knotenpunkten zu Systemgrenzen aufgerüstet worden, obwohl es dererlei Beschränkungen zur Straße nicht gibt. (Ich will nicht spekulieren, ob die Schießscharten der Schweizer Armee auf der Strecke vom Doubs-Weiler La Goule nach Le Noirmont herauf nicht doch noch mal besetzt werden könnten, um den französischen Feind auch in der menschenleeresten Gegend zu bekämpfen – und sei es im Kampf um die Gourmet-Krone jurassischer Zauberköche.)

Auto-frei vs. Bahn-Schranken, ist das Europa? Selbst die Sprachgrenzen scheinen im Fortschrittszeitalter fester denn je, Mehrsprachigkeit im frankophonen Schweizer Jura ist eher selten – abgesehen von der ohnehin bekannt mürrischen Zurückhaltung des Eidgenossen. Gelingt die Überwindung der Grenzen trotz aller Hindernisse, steigen die geldwerten Kosten in unangenehme Höhen bzw. weiten sich die Fahrzeiten ähnlich zu Interkontinentalreisen aus.

Entspechend gestaltet sich der Kampf der Bewilligung von Forschungsmittel immer schwieriger – schlicht durch die Preis- und Währungsgestaltung der Eidgenossen. Konnte ich 2016 noch ca. 10 % vom Frankenpreis abziehen, um zum Europreis zu gelangen, hat sich ein Jahr später der Kurs auf fast 1:1 eingependelt (ich erlebte noch Zeiten, als der Franken 1:1 zur D-Mark stand). Einige Betriebe sind nicht mehr bereit, überhaupt die Differenz zu berücksichtigen (einmal waren es bei ca. 59 CHF umgerechnet ca. 62 €). Das Komplettmenü in Morteau (F) kostete samt Wein etwa die Hälfte des nicht ganz kompletten Menüs in La Goule (CH). Kaum noch verblüffend dann, dass es bei den Franzosen nochmal klar besser war, wertiger in den Zutaten, finessenreicher in der Zubereitung und auch die Räumlichkeiten den Schweizern klar überlegen. Sicherlich hier etwas drastisch zugespitzt, aber doch kein Einzelfall. Ich will hier immerhin erwähnen, dass bei der ersten Reise das Essen in St-Ursanne sogar ein paar Euro günstiger war als im sehr ländlichen Gasthof im französischen Sundgau, doch auch hier überzeugten Qualität, Quantität und Ambiente in Frankreich deutlich mehr, sodass man „gerne“ etwas mehr Geld gibt.

Die irrwitzige Preisentwicklung lässt auch immer mehr Schweizer darüber grübeln, ob das noch lange gut gehen kann (genau genommen ist das Problem zu ungleicher Einkommen und Preise europäisch und sogar global, eine Ursache von Massenmigration). Wie ein Basler Radlerpaar (in der Bahn nach Lyon für Rhoneradweg weiter südlich zu fahren) bestätigte, wird nicht nur kräftig immer in Deutschland eingekauft, sondern floriert auch das Bestellwesen (für Internetangebote) über deutsche Freunde in den Nachbarstädten wie Lörrach. Die Spuren der inselförmigen Hochpreisentwicklung in Europa zieht auch weiterhin sichtbar seine Spuren. Der Investitionsstau veralteter Gastbetriebe trat einmal mehr deutlich ins Auge wie in St-Ursanne, auch das Gerichteangebot der Speisen scheint mir eher altbacken 70er-Jahre -Stil, wenn auch die Qualität nie schlecht ist. Alter Charme ist okay, manchmal ist aber das wohl nur ein vorgeschobenes Argument für mangelnden Willen zur Innovation und Investition. Sperrmüllstühle darf man auch mal austauschen!

Für Schweizer lohnt das Arbeiten in vielen Branchen kaum noch. Die gehobenen Löhne können ja unternehmerisch gesichert nur in bestimmten Bereichen bezahlt werden. Vor allem kleine und mittlere Gastbetriebe machen ein schlechtes Geschäft, die Gäste bleiben aus, das Personal zu teuer, Handwerker zu teuer für Investitionen usw. Selbst das einstige Ladenzeitwunder Schweiz mit gehobenen Binnenkonsum ist heute spartanisch: In Le Locle, Sitz mehrerer weltbekannter Uhrenfirmen wie etwa Tissot, gab es am Samstag nach 12 Uhr schon keine geöffneten Uhrengeschäfte mehr, ohnehin waren derer kaum welche zu sehen. Das Geschäft verlagert sich auf den Export, die Vogelgrippe in China löste einst eine Krise in der Schweizer Uhrenindustrie aus, – weil es an chinesischen Touristen mangelte, die die Prestigezeitmesser in großen Mengen auch mal gerne überteuert kaufen.


Immer weniger Gäste auch in den touristischen Kleinoden am Doubs wie im pittoresken St-Ursanne

So wenig Osterbetrieb wie in St-Ursanne habe ich schon lange nicht mehr gesehen, ohnehin haben dort bereits ca. der Hälfte der Betriebe, jahreszeitlich oder gänzlich geschlossen, innerhalb eines Jahres die Lage nochmal schlechter. Vom Campingplatz abgesehen, war es an Pfingsten – immerhin ein Monat weiter in der Jahreszeit – auch nicht wirklich besser. Unerklärlich auch, dass der pittoreske Ort an der Spitzkehre der Doubs-Schleife ausgerechnet an Ostern komplett aufgerissen wurde, sodass die Häuser nicht mal zu Fuß sicher erreichbar waren – manche haben dann Hotels/Restaurants lieber ganz dicht gehalten, bevor noch jemand in die Grube fällt.

Ich will nicht verhehlen, dass der Camping in St-Ursanne noch ungewöhnlich günstig ist mit 15 SFr (mit Resten meines Fränkli-Bestandes bezahlt, etwa 14,30 €, das Jahr zuvor zahlte ich noch 12 €, was allerdings schon damals günstiger als der offizielle Umrechnungskurs war); dass es dort auch ein Hostel und günstiges Restaurant gibt, dass man im Hotel/Restaurant „La Couronne“ günstiger übernachten könnte als in vielen „Logis de France“-Hotels, derer es kaum noch günstige gibt; dass ich dort beim Ostermenü vom Hauptgericht mit Lammfilet (und peinlich kleinen Minikroketten) einen sättigenden kostenlosen Nachschlag bekam. Letzteres war sicherlich aber auch den wenigen Gästen geschuldet, wäre der Koch wohl auf dem Lamm sitzen geblieben (rosa, en point gegart!). Gäste gab es zwar, aber zu wenige für einen Ostersonntag.

Magie der Wiederkehr im Spiegel des neuen Forschungsthemas der horologischen und nicht-horologischen Zeitwerte

Nun also nochmal Jura, nicht zuletzt der An- und Abreisemöglichkeiten wegen auch mit mehr Sundgau als eigentlich gewollt. Da reihen sie sich dann wieder, die zahlreichen mystischen Akzente dieses Tafel- wie Faltengebirges, das gleichzeitig Alpenpanoramaterrasse und Alpenvorgebirge ist: Wunderschauplatz lieblicher Wasserspiegel wie üppiger Wasserfontänen wie auch rauer, gar als sibirisch titulierter Hochebenen mit Moorwiesen und -seen. Weniger wild, und doch auch häufig steinmauerngegliederte Kulturlandschaft mit Löwenzahnteppichen im Frühjahr, schon oft nahe am Bild von Parklandschaften. Fast ein Prägestempel von Erdgeschichte und Erosionszeit die tiefgreifenden Schluchten – hier an der Doubs-Schleife sehr augenfällig vertreten –, oder gar ausgewachsene Talkesseln (hier: Cirque de Consulation), und noch mysteriöser die Karsterscheinungen mit Schlucklöchern, Höhlen und Quellen aus Felsen heraus (hier: mehrere Doubs-Versickerungen/Saut du Doubs, Source du Dessoubre). Und dann schließlich der gut gefütterte Mantel der Vergänglichkeit, die Unschärfe der Zerfallzeit im Kontrast zur Wiedergeburt als Abbild zyklischer Zeitachsen, die Verweilästhetik des Augenblicks mit verwunschenen Mooszottelbärten, mit eingeknickten, gesplitterten Biografien von Astwerken, mit federlichten Samenbüscheln, mit Uferlampions von sonnenleuchtenden Sumpfdotterblumen, mit dem Abhängen von splissigen Lianen - archaisch anmutende Urwälder an schattig beschirmten Fließgewässern, den rauschenden Metronomen der Hydrozeit.

Wir wollen nicht vergessen, dass hier in den entrückten, gering besiedelten Gebieten und nicht selten als verarmt geltenden bäuerlichen Regionen auch zivilisatorische Hochkultur – ja sogar Präzisisionstechnologie entwickelt wurde und wird, wenngleich ihr Höhepunkt überschritten scheint. So führte die zweite dieser Reisen durch das Pays Horloger (Uhrenland), exakt so nur zur französischen Seite benannt, letztlich aber auch treffend die gegenüberliegende Schweizer Seite so zu bezeichnen, der offiziell der Titel „Freiberge“ vergeben wurde – also überwiegend nackte Wiesengrate und Hochtäler mit oft inselförmigen Hainen, zu den Ufern und Steilabbrüchen des Doubs hin allerdings zur Blätterzeit kaum durchsehbar überwuchert von großen Waldflächen.

Das Land der Uhrmacher ist auf seltsame Weise ähnlich zum Schwarzwald (zumindest zur Höhe auch dunkle Nadelwälder mit Hochweiden), sind es doch auch dort lange Winternächte gewesen, die die Menschen in geduldige Beschäftigungen getrieben hat, zu tüfteln, filigrane und präzise Zeitmesser zu bauen. Sind die traditionellen Häuser zunächst sehr verschieden, dort charakteristisch dunkle Holzbauten, hier eher helle Steinbauten, ähneln sie sich in beiden Regionen durch große Hofbauten und Dachstühle – im Schwarzwald aber steil und wie eine Schutzhaube gebaut, hier recht flach und offen ins Land schauend gewiesen, als wolle man jeden Sonnenstrahl nutzen oder sei man frei im Denken. Das ist nicht falsch gedacht, konkurriert z. B. der ländliche Jura-Kanton mit den Metropolkantonen in der Schweiz wie Genf, Basel oder Zürich um die liberale Krone – so etwa abzulesen an den politischen Urnenentscheiden.


Wo die Zeit langsam fließt, entstand oft das Handwerk präziser Zeitmesser – so auch im Pays Horloger zu beiden Seiten der oberen Hälfte der Doubs-Schleife

Uhrenmuseen gibt es mehrfach, etwa in Morteau und Villers-le-Lac in Frankreich, oder in Le Locle in der Schweiz. Besucht habe ich keine dieser Stätten des Uhrenhandwerks, was nicht nur an ungünstigen Öffnungszeiten zu meinem Routenverlauf lag, sondern auch an mangelnder Flexibilität bei doch sehr anstrengenden Witterungsbedingungen und den kurzen Reisezeiträumen. Dies soll mich aber nicht davon abhalten, Gedanken über den Wert der Zeit zu verlieren, auch ein wenig das zu revidieren, was ich schon weiter oben erwähnte. Denn der veraltete Charme da und dort wirft auch die Frage auf, ob er nicht auch sein Gutes hat, ein Kontrapunkt zur übereifrigen Moderne. Was braucht der Mensch? – Tisch und Stuhl und auf dem Gedeck ein gutes Stück nachhaltig produzierten, schmackhaften Käses, ein Stück guten Fleisches – gewiss zu sein, dass die Kühe und Hühner hier keiner Massentierhaltung anheim gefallen sind. Viehzucht gehört im Jura zu den Innovationsfaktoren – die weltweit geschätzten Charolais-Rinder verdanken wir dem Zuchthandwerk jurassischer Bauern.

Und sogar der Wein ist nicht weit, von den Rebenhängen der großen Juraseen in der Schweiz, oder von den Abhängen des südwestlichen französichen Jura wie etwa bei Arbois (vgl. dazu mehr in der „Großen Jura-Prüfung“) – auch dort moderne Kulinarik aus traditionellen Wurzeln, wobei alte Rebensorten zu neuem Ruhm gelangen. Landwirtschaft erscheint gegenüber städtischen und industriellen Räume als traditionell und rückständig, wie Jon Mathieu in seiner historischen Übersicht über die Entwicklung des Alpenraums bemerkt. „Bei genauem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass die ‚Modernität’ mehrdeutig und nicht genau lokalisierbar, sondern eher das Produkt einer gesellschaftlichen Zuschreibung war.“ (S. 210, in: Jon Mathieu „Die Alpen – Kultur, Raum, Geschichte“, Reclam, Stuttgart 2015) Diese Erkenntnis scheint für Zukunftsfragen immer wichtiger zu werden, und dabei nicht nur Natur- und Nachhaltigkeitsapekte berühren, sondern auch die visionären Perspektiven aus dem Silicon Valley hinsichtlich neuer Wirtschaftsformen, die an Systeme traditioneller Kulturen jenseits der kapitalistischen Wachstumsgesellschaft europäischer Prägung erinnern. Zeite(en) kann (können) nicht nur vergehen, sondern auch wiederkehren.

Dieser ganze Schnickschnack des elektronischen Beschleunigungskonsums mutet überdrüssig an, wenn doch ruhig da liegt der Fluss, der Doubs – keinerlei Eile, nur wenige Gefällstufen nimmt er für sich selbst in Anspruch. Die Angler, der Hecht, die Forelle und der Karpfen jeden Tag frisch aus den Gewässern fischen: nur mit Geduld stellt sich der Erfolg ein. Was braucht also der Mensch, wenn er die Zeit achtet? Er hat jetzt hier Zeitmesser entwickelt, von weltweit geachteter Präszision, schon immer geschätzt, und doch schmeißt er heute die Zeit weg – achtlos, ohne den Atem der Zeit noch zu kennen. Das alte Handwerk entstammte damals noch dem Lauf der Zeit der Menschen – es war kohärent, heute kommt die digitale Anonymität von irgendwo, von Billigwerkbänken in Ostasien oder sonstwo. Es begann wohl mit dem Puls des Quarzes, weiter mit dem Chip, übermannen wie Spinnennetze jeden freien Gedanken, kanalisieren und managen jeden Handgriff, denken für uns voraus und rauben Zeit um Zeit. Das Versprechen ist der Zeitgewinn, das Ergebnis ein Verlust an Zeit. Technologie und Werte entkoppeln sich. Der Zeitwert entwertet, der Werte an sich weniger. Zeit, nicht mehr zeitlos, sondern eine Endlosschiene der Zeitpflichten, technologische Zeitraster – die neue Zeit, rastlos. Was braucht der Mensch wirklich? – Vielleicht: JURAaaa!!!


Braucht die Moderne mehr Schneckentempo um den Käfig des rastlosen Hamsterrades zu entkommen?

Okay, auch eine Karte: Michelin Bourgogne/Franche-Comté 1:200000 (alte Ausgabe aus 2002, noch mit Campingplatzeintragungen auf frz. Seite) reicht für alles (GR 5 ist auch eingetragen), sogar davon nur ein kleiner Ausschnitt. Weitere Reiseliteratur ggf. in bereits vorhandenen Berichten, wobei Sundgau i.d.R. im Elsass-Reiseführer behandelt wird (der südliche Grenzland-Sundgau, stärker hügelig geprägt und hier schwerpunktmäßig befahrene Teil, wird auch als „Elsässischer Jura“ bezeichnet). Selbst der atmosphärisch gelungene Jura-Führer von Jenni/Ikenberg ist für hier besprochene Routen der fortgeschrittenen Seminaristen wenig hilfreich – mal von der schmackhaft einladenden Beschreibung zu Wengers Gourmet-Restaurant in Le Noirmont abgesehen (mit kaum hier als Fahrradnomaden zu erwartender Klientel). – Und ja, liegt nahe – Gedanken über die Zeit. Eine der geistreichsten Lektüren dazu: Rüdiger Safranski: Zeit – Was sie mit uns macht und was wir mit ihr machen (Fischer-TB). Nicht Jura, sondern Philosophie. Fürs Jura reicht eben nicht eine Fakultät. Jura ist universell und essentiell – Zeitenraum, au coeur du temps, in Gedanken und in der Technik zugleich. Auch einen Blick hier wert, über sein Biografie mit dem Jura verbunden: Robert Walser für Müßiggänger (Insel TB).

Zeit kann auch zeitlos sein: Die Uhr ist stehen geblieben. Als ich nach 15 Jahren wieder nach St-Hippolyte kam, da schien alles unverändert – ein bisschen schicker, ja, aber immer noch ein Fleck, an dem man verweilen kann, ohne Rauschen der Moderne, altes Gemäuer, ruhiges Wasser, Terrassenblicke, die Bäume hängen über dem Wasser, ein Aquarell ganz ohne Maler geglückt, ohne ge-appte Zeitwerte – zeitlos. Und diese Orte sind überall. In St-Ursanne – gleichwohl 15 Jahre her – spekulierten einst drei junge Damen, ob ich vom Schweiße überflossen vielleicht nackt in den Dorfbrunnen springen würde. Diese Gefahr bestand heuer beide Male nicht – ob an Pfingsten oder Ostern –, die Temperaturen waren das, was man „frisch“ nennt. Die Neu- und Gewerbebauten sind weiterhin überschaubar, dem Bevölkerungsschwund scheint man kaum Herr zu werden – die Kehrseite der mittelalterlichen Idylle. Mal sehen, was sie jetzt mit dem historischen Pflaster im Zentrum machen.


Orte, in denen die Zeit stehen geblieben scheint, geben ein Bild zeitloser Malerei am Doubs ab

Noch ein Stück zeitverlorener die Orte am Doubs weiter abwärts – so wie Clerval oder L’Isle-sur-le-Doubs. In beiden Orten gibt es heute Döner-Buden, das gab es früher auf dem Lande in Frankreich nicht – nicht einmal Wein im Ausschank, stattdessen nur versalzener Ayran. Ich meine auch, heute mehr Speditionsverkehr am Doubs entlang – in Clerval war der Camping nicht so ganz leise, sicherlich die Frequenz des Verkehrs nicht hoch, aber auch nicht still. Doch sonst steht die Zeit still, die Ufernischen der Orte am Doubs träumen wie ehemals. Die traditionellen Restaurants stehen mehr im Abseits, mehr Verfall als Aufbruch, geschlossene Betriebe – weniger Geld, man geht seltener essen, Touristen waren – hier zu Ostern – kaum unterwegs. Auf dem Eurovelo 6 sah ich (das kleine Stück war etwa 25 km lang) eine einzelne Radlerin am Freitagmorgen.

Karfreitag ist in den meisten Teilen Frankreichs kein gesetzlicher Feiertag (Elsass aber wohl!) – auch das macht Ostern recht klein dort, wenig Ausflugsverkehr. Ein visueller Unterschied aber wohl zur Schweiz: eine kleine Osterdeko gibt es fast überall, ein Hase auf der Fensterbank, ein Hühnchen auf einem Gartentisch oder eine organisierte Eiersuchaktion für Kinder wie im Park des Uhrenmuseums in Morteau. In der Schweiz hingegen waren Osterhasen und seine Eiergelege fast unbekannt, sogar in Boulangerie, Tea-Room oder Patisserie – schon fast eine freudlose Nüchternheit, der schönen Dinge überdrüssig? Die Märchen gehen verloren – fantasielose Moderne oder zuviel Geld? Paradise Papers statt Paradiese? Woher soll die Poesie noch fließen? – Was braucht der Mensch?

Velophile Interpretation einer topografisch anspruchsvollen Flussschleifengeografie

Gewiss, die Große Doubs-Schleife kann man sehr verschieden interpretieren. Beziehen wir die gesamte Schlucht mit ein, kann man die Trennlinie nach Westen etwa zwischen St-Hippolyte und Morteau ziehen. Der Doubs macht noch zwei weitere markante Knicke, und zwar eine West-Nord-Schleife bei St-Hippolyte und eine Nord-West-Schleife bei Montbéliard. Beide Kehren kann man auch als Teile der Gesamtschleife sehen, mit der sich die Fließrichtung des Doubs von Osten komplett nach Westen ändert. Damit begrenze ich hier den Raum der Schleife mit der Linie Clerval – Morteau, also eine sehr weit gefasste Interpretation. Ein Übersicht der Region mit beiden Touren gibt es hier (violette Punkte = 1. Tour, grüne Punkte = 2. Tour).

Zu der weiteren Interpretation gehören die zahlreichen Auf- und Abfahrten zum Doubsufer, derer ich auch mit diesen beiden Touren noch nicht alle im gesetzten Raum der Schleife erradelt habe, aber doch sehr viele. Es sei hier den Flussradlern gesagt, dass es keine durchgehende Zu-Uferberadlung des Doubs für die gesamte Schleife gibt – zumindest nicht für gängige Touren- bzw. Reiseräder mit Gepäck. Weiterführende Uferwege (meist Pisten) gibt es zu Teilen zwischen Morteau und St-Ursanne immer wieder, manche davon enden aber als Sackgasse oder führen später nach oben. Andere Wege sind offiziell für Radler gesperrt oder sogar nur Wandertrail. Wanderer finden auch den GR 5, um Teile der Doubs-Schleife zu erkunden, gewiss hat dieser den gesamten Jura im Fokus. Diese Ufer-Varianten sind sodann erreichbar über die Talpunkte der Staustufen mit den Brückenverbindungen, derer ich die meisten hier überfahren habe. Viele dieser Orte eignen sich auch als Fixstandorte mit ausreichender Infrastruktur inkl. Camping, um Wander-, Kanu- oder MTB-Touren zu unternehmen.


Kleiner Mäander am unteren Ende der großen Flussschleife: Der Doubs bei Clerval

Letztlich beziehen meine beiden Touren ihre Spannung aus den unterschiedlichen Landschaftselementen in der Frosch- und in der Vogelperspektive, sowie in dem Blick in das Hinterland des Doubs. Gewiss braucht es dafür nicht nur einer bergfähigen Schaltung, sondern auch die Bereitschaft, im ständigen Wechsel recht anspruchsvolle Steigungen anzugehen. Einige davon sind heftige Rampen, andere bleiben überraschend gemäßigt. Lassen wir einmal die Ausgangsbasis des Oberrheins mit dem Sundgau außer Betracht, bewegen sich beide Touren im maximalen Höhenbereich zwischen ca. 300 m und 1200 m, wobei die maximal durchgehende Steigung eher unter 600 Hm gelegen haben dürfte – also unter alpinen Dimensionen, wie man sie an anderen Stellen des Juras eher fahren könnte.

Mehr zu beachten ist die fortgesetzte Staffelung von Höhenstufen. Auf den Hochebenen ergeben sich nochmals „Gipfelhöhen“, die bis über 200 Hm von den Hochtälern abweichen können, weil die besiedelten Hochtäler wie etwa mit Le Locle und La Chaux-de-Fonds oder Maiche, Charquemont und Damprichard in einer Synklinale liegen, die zu beiden Seiten mit einer Antiklinalen überhöht wird. So sitzt man in einem „Loch“ (geografisch gesehen zwischen zwei Sattelgraten), wie mir eine Dame im ca. 900 m hoch gelegenen Le Locle sagte, weil es zu zwei Himmelsrichtungen jeweils einschließende Bergrücken gibt, die bis auf über 1200 m hoch reichen können. Lediglich in einer vorgegebenen Richtung ergibt sich eine recht flache Hochtaltransversale, die auch für den Eisenbahnbau genutzt wurde. Einige wenige Stellen ermöglichen einen Engpassdurchbruch ohne die Sattelüberhöhung der Antiklinale, so etwa gut zu sehen am Col des Roches, wo ein kleiner Tunneldurchstoß einen flachen Übergang aus der synklinalen Hochtalebene hinunter zum Doubstal ermöglicht (auch dort die Bahn weiter nach Morteau geführt). Diese Antiklinalanstiege aus den Hochtälern heraus weisen nicht zuletzt auch knackige Steigungen auf, fehlt diesen Anstiegen ja meist eine Talflucht. Die klassische Berg-Tal-Konstruktion wird hier nicht zuletzt auch dadurch aufgehoben, weil das Wasser in Teilen über Karstböden versickert, also die Hochtäler keine oder nur schwach ausgeprägte Oberflächenabflüsse haben. Unterbrochen wird diese Hochebenenstruktur eben durch den markanten Einschnitt des Doubs mit seinem sodann eigenartigen Richtungsverlauf als Schleife.

Für die Doubs-Strecke Besançon – Montbéliard darf ich noch weiter zurückblicken auf eine Reise im Jahre 2004, einschließlich von Besichtigungen etwa des Peugeot-Museums in Montbéliard. Für die Kurzreisen nunmehr galt es großstädtische Besichtungsprogramme eher auszublenden und sich auf Landschaftseindrücke zu beschränken. So wählte ich für die zweite Reise einen Stimmungseinstieg am flachen Doubs und einen kleinen Ort, dort wo bereits der heutige Eurovelo 6 (EV 6) verläuft – also westlich von Montbéliard, das zu Deutsch auch auf den schnuckeligen Namen Mömpelgard ob seiner württembergischen Grafschaftsgeschichte hört. Es sei der geografischen Bestimmung hinzugefügt, dass der Doubs hier (gleichwohl EV 6) von Montbéliard abwärts die Grenze von Jura und Burgund markiert, also zweier Landschaften gerecht werden muss – und das gelingt ihm geradezu gelassen und immer wieder mit lieblichen Winkeln auf still ummantelter Schönheit. Gewiss, wer Jura in all seinen Facetten kennenlernen will, darf nicht am EV 6 kleben bleiben.


In den synklinalen Hochtälern konnten sich trotz der schwierigen Jura-Topografie Eisenbahn und Wirtschafszentren etablieren: Die Uhrenstadt Le Locle auf ca. 900 m Höhe

Zu beiden Reisen kristallisierte sich nicht ganz zufällig St-Ursanne als Dreh- und Angelpunkt heraus, nicht zuletzt wegen der zentralen Lage strategisch wichtig am Wendepunkt der Doubs-Schleife gelegen und Schnittpunkt mehrerer Auf- bzw. Abfahrten. Auch hier ergaben sich dann Dopplungen zu einer früheren, sogar der ersten Reise durchs Jura im Jahre 2002, da ich damals dem Fluss zwischen St-Ursanne und St-Hippolyte ganz gefolgt bin. Diesmal habe ich die Strecke fast komplett wiederholt, wenn auch stark gestückelt, folgend den ständigen Auf- und Abfahrten zu den Seiten. Andere Teile blieben allenfalls Schnittpunkte mit früheren Reisen, so etwa Gigot, bis wo ich einst dem Unterlauf des Dessoubre folgte, diesmal hingegen aufwärts dem Oberlauf bis zur Quelle. Auch Uhrenstädte querte ich schon mal auf meiner Jurareise-Herbstreise 2010 mit Grenchen und La Chaux-de-Fonds, die hier nicht auf dem Programm standen.

Fortsetzung folgt
Liebe Grüße! Ciao! Salut! Saludos! Greetings!
Matthias
Pedalgeist - Panorama für Radreisen, Landeskunde, Wegepoesie, offene Ohren & Begegnungen

Geändert von veloträumer (15.11.17 20:55)
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Betreff von verfasst am
La Grande Boucle du Doubs veloträumer 12.11.17 18:08
Re: La Grande Boucle du Doubs Keine Ahnung 12.11.17 18:48
Re: La Grande Boucle du Doubs  Off-topic veloträumer 12.11.17 19:01
Re: La Grande Boucle du Doubs  Off-topic natash 12.11.17 19:55
Re: La Grande Boucle du Doubs  Off-topic Keine Ahnung 13.11.17 08:45
Re: La Grande Boucle du Doubs Juergen 13.11.17 08:24
Re: La Grande Boucle du Doubs Holger 13.11.17 08:58
Re: La Grande Boucle du Doubs Juergen 13.11.17 10:08
Re: La Grande Boucle du Doubs Thomas S 13.11.17 11:15
Re: La Grande Boucle du Doubs veloträumer 13.11.17 11:27
Re: La Grande Boucle du Doubs Keine Ahnung 13.11.17 14:14
Re: La Grande Boucle du Doubs veloträumer 13.11.17 21:39
Re: La Grande Boucle du Doubs Keine Ahnung 14.11.17 10:20
Re: La Grande Boucle du Doubs veloträumer 14.11.17 19:14
Re: La Grande Boucle du Doubs Holger 13.11.17 11:22
Re: La Grande Boucle du Doubs Tine 13.11.17 14:21
Re: La Grande Boucle du Doubs  Off-topic veloträumer 13.11.17 20:30
Re: La Grande Boucle du Doubs veloträumer 13.11.17 21:41
Re: La Grande Boucle du Doubs veloträumer 14.11.17 19:18
Re: La Grande Boucle du Doubs Holger 14.11.17 20:50
Re: La Grande Boucle du Doubs  Off-topic iassu 14.11.17 21:54
Re: La Grande Boucle du Doubs  Off-topic Holger 14.11.17 22:14
Re: La Grande Boucle du Doubs veloträumer 15.11.17 13:12
Re: La Grande Boucle du Doubs Holger 15.11.17 13:21
Re: La Grande Boucle du Doubs veloträumer 15.11.17 13:56
Re: La Grande Boucle du Doubs Keine Ahnung 14.11.17 21:42
Re: La Grande Boucle du Doubs  Off-topic veloträumer 15.11.17 12:11
Re: La Grande Boucle du Doubs veloträumer 15.11.17 20:50
Re: La Grande Boucle du Doubs veloträumer 15.11.17 20:54
Re: La Grande Boucle du Doubs max saikels 24.11.17 22:12
Re: La Grande Boucle du Doubs veloträumer 24.11.17 23:48
Re: La Grande Boucle du Doubs Juergen 25.08.22 15:37
Re: La Grande Boucle du Doubs veloträumer 18.09.22 11:34
Re: La Grande Boucle du Doubs Juergen 18.09.22 15:08
Re: La Grande Boucle du Doubs veloträumer 18.09.22 17:56
Re: La Grande Boucle du Doubs Juergen 19.09.22 09:55
Re: La Grande Boucle du Doubs cyclerps 20.09.22 23:42
Re: La Grande Boucle du Doubs veloträumer 21.09.22 18:18
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