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#480402 - 16.11.08 22:45 Große Alpentour der 2000er
veloträumer
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Beiträge: 17.178
Dauer:1 Monat, 7 Tage
Zeitraum:18.6.2005 bis 24.7.2005
Entfernung:3493 Kilometer
Bereiste Länder:frFrankreich
itItalien
atÖsterreich
chSchweiz

Große Alpenpässe der 2000er

Stuttgart || Lindau – Bludenz – Ischgl – Sölden – Meran – Kaltern – Cavalese – Alleghe – Passo Pordoi – Cortina d’Ampezzo – Pieve di Cadore – Toblach – Lienz – Huben – Antholz – Sterzing – Meran – Prad – Tirano – Pontresina – Zuoz – Tiefencastel – Silvaplana – Chiavenna – Splügen – Bonaduz – Ilanz – Andermatt – Gletsch – Innertkirchen – Wassen – Andermatt – Airolo – Ulrichen – Brig – Zermatt – Martigny – Aosta – Cogne – Bourg St. Maurice – Albertville – Beaufort – Bourg St. Maurice – Val d’Isère – St. Michel-de-Maurienne – Briancon – Guillestre – Larche – Vinadio – Isola – Barcelonnette – Colmars – Guillaumes – Valberg – Puget-Théniers – Daluis – Guillaumes – le Lauzet-Ubaye – Tallard – Veynes – Luc – Die – Pont-en-Royans – Villard-de-Lans – Voreppe – Chambéry – Aix-les-Bains – Cusy – Annecy – Genève – Lausanne || Stuttgart

Zeit: 37 Tage ≡ 240:10 h (gesamt) ≡ 6:40 h/Tag
Distanz: 3493 km (gesamt) ≡ 94 km/Tag ≡ 14,3 km/h
Höhe: 56781 Hm (gesamt) ≡ 1577 Hm/Tag

Pässe und Bergankünfte (in der gefahrenen Reihenfolge):
Bielerhöhe 2036 m
Timmelsjoch 2509 m
Passo Valles 2033 m
Passo Pordoi 2239 m
Passo Sella 2214 m
Passo Gardena 2121 m
Passo Valparola 2197 m
Passo Falzarego 2105 m
Col San Angelo/Misurina 1756 m
Staller Sattel 2052 m
Jaufenpass 2094 m
Stilfserjoch/P. d. Stelvio 2757 m
Berninapass 2328 m
Albulapass 2321 m
Julierpass 2284 m
Malojapass 1815 m
Splügenpass/P. d. Spluga 2113 m
Oberalppass 2040 m
Furkapass 2431 m
Grimselpass 2165 m
Sustenpass 2224 m
St. Gotthard/San Gottardo 2109 m
Nufenenpass/P. d. Novena 2478 m
Zermatt 1616 m
Col du Grand St. Bernard 2469 m
Lillaz 1617 m
Col du Petit St. Bernard 2188 m
Col de Méraillet 1605 m
Cormet de Roselend 1967 m
Col de l’Iseran 2764 m
Col du Télégraphe 1566 m
Col du Galibier 2654 m
Col du Lautaret 2058 m
Col d’Izoard 2360 m
Col de Vars 2109 m
Col de Larche/Maddalena 1991 m
Col de la Lombarde 2350 m
Col d. l. Bonette-Restefond 2802 m
Col d’Allos 2247 m
Col des Champs 2087 m
Col de Valberg 1673 m
Col de la Cayolle 2326 m
Col d’Espréaux 1160 m
Col de Cabre 1180 m
Col de Rousset 1254 m
Villard-de-Lans 990 m
Col de la Placette 587 m
Col de Couze 626 m
Col de Leschaux 897 m
Col d’Evires 810 m

Ausstattung: Reiserad (Nishiki), 21-Gänge, Rennlenker, 28 mm Reifen, Schutzbleche, Lichtanlage mit Dynamo, Ständer, 2 Trinkflaschen, 1 Lenkertasche, 2 Lowrider, 2 Backpacker (inkl. Zelt, Schlafsack, Schlafunterlage, Kleidung, Waschzeug, Ersatzschlauch, Werkzeug, Kamera, Filme, Karten, Reiseführer, var. Proviant)

Karten: 4 x Michelin 1:200 000 (F/CH), 3 x Die Generalkarte 1:200 000 (A/I/CH)

Literatur: Schweiz/Liechtenstein (Reise Know-how), Südost-Frankreich per Rad (Cyklos), Mini-Reisewörterbücher Italienisch & Französisch (Langenscheidt), weitere Infos auf Kleinkopien

Gesamtgewicht: ca. 35-40 kg

Der Bericht wurde nicht mit Blick aufs Internet geschrieben. Daher die epische Länge. Für eine Neugestaltung bin ich zu faul. Ich bitte das zu entschuldigen. – Die Fotos sind (schlecht) eingescannt und stellen nur eine kleinste Auswahl dar.

Diese Alpentour 2005 war insgesamt meine siebte große Radreise und die vierte davon, die sich über fünf Wochen erstreckte. Mit knapp 3500 km und einem Schnitt von 94 km/Tag (gemessen einschließlich der Ruhetage) bleibe ich unter den Werten der Vorjahre (bis über 3800 km und 101 km/Tag, teils aber mit einem Tag mehr). Dennoch war diese Tour die schwierigste Tour überhaupt – zumindest wenn es der Papierform nach geht, der Erschöpfungsgrad lässt sich ja schlecht messen und war auf den Touren mit großen Hitzeschlachten wohl deutlich größer, z.B. Andalusien 2001. Während ich im letzten Jahr beim Ritt über die Pyrenäen und das französische Zentralmassiv mehr als 30 Mal Höhenpunkte von über 1000 m.ü.M. (davon drei 2000er) passierte, waren es dieses Jahr gleich 32 Zweitausender-Pässe (!), die ich bezwingen konnte (rein statistisch, denn sowohl Falzarego als auch Lautaret waren nur sog. Abrollpässe, weil von einem höheren Pass kommend – andererseits sind zwei Pässe nur ganz knapp unter 2000 m gewesen, nämlich Roselend und Larche). Der Rekord dieser Tour liegt daher im Höhenmeterbereich (knapp 57.000 Hm) – auch wenn ich erstmals die Höhenmeter mit Unterstützung eines Fahrradcomputers messen konnte und mir Vergleichsdaten der Vorjahre leider nicht vorliegen (geschätzte Daten liegen für Jura-Alpen-Toskana sowie Alpen-Kroatien bei je mindestens 25.000 Hm, für die Pyrenäen-Auvergne-Tour bei mindestens 35.000 Hm).

Die Idee meiner Tour war es, eine große Zahl von bedeutenden, höchsten und schönsten Alpenpässen in möglichst vielen und unterschiedlichen Alpenregionen zu einer Rundfahrt zu verbinden. Es sollten möglichst wenig Überschneidungen mit bereits gefahrenen Pässen oder Routen geben (deswegen ohne Großglockner-Hochalpenstraße) und keine Pässe mit extremer Steigung (z.B. Gavia-Pass 16%) oder Schotterpisten (z.B. Col de la Finestre) dabei sein. Ausgangs- und Endpunkt sollten bequem und preiswert mit dem Zug erreichbar, der Endpunkt außerdem flexibel wählbar sein. Leider erwies sich dabei die Schweiz als sperriges Hindernis und einmal mehr habe ich über den grenzüberschreitenden Bahnverkehr zu klagen, der nicht dem zeitgemäßen Mobilitätsbedürfnis entspricht – insbesondere in Verbindung mit einem Velotransport (im letzten Jahr gab es altertümliche Probleme mit Frankreich bei der Buchung eines Drahtesels). Die Mängel liegen nicht nur bei einer nationalen Bahnlinie, sondern auch in der schlecht vernetzten internationalen Kommunikation der nationalen Bahnen. Fast durchgehend erfüllen die euphorischen Werbeslogans zu Bahn+Bike nicht die geweckten Hoffnungen. Das Velo ist immer noch ein unerwünschter Exot im Fernverkehr, leider aber auch im alternativen Flugverkehr. Und preiswert ist es auch nicht. (Näheres dazu im Kapitel der Schlussetappe.)

Für mich gab es auch keinen eindeutigen Pass als „Königspass“. Mal waren kleinere Pässe schwieriger als größere, mal sind die Talfahrten super, mal sind es die Bergpanoramen. Es waren fünf Wochen Faszination Alpen voller Höhepunkte – vom ersten Tag im Montafon über die Dolomiten im Osten bis zum Alpenvorgebirge des Vercors im Westen. Letztlich ergab sich aus der Planung auch noch ein rekordverdächtiger sportlicher und eher zufälliger Aspekt: In 32 Tagen 32 Zweitausender zu bezwingen. Tatsächlich habe ich den Col de la Cayolle am 32. Tag als 32. Zweitausender-Pass gemeistert. Die restlichen fünf Tage vervollständigten als Dessert durch mittelgebirgige Alpenregionen das Hauptgericht der 2000er, wobei gerade die vermeintlich leichten Tage am Schluss von einer kleinen Krise gekennzeichnet waren. Eine Tour im Reich der Murmeltiere – „ Le Tour des Marmottes“.



Einige Anmerkungen zu den Daten:

Meine Höhenmetermessung mittels Fahrradcomputer ist nicht präzise. Soweit mir die Daten aus Karten vorliegen (Tiefst- und Höchstpunkte), habe ich nachgerechnet. Dabei sind an Tagen mit über 1500 Hm Abweichungen von 200 Hm durchaus normal, bei der Dolomitenrunde waren es sogar 450 Hm. Es werden immer zu wenig Höhenmeter angezeigt, weil einerseits der höchste Punkt niedriger vom Gerät festgestellt wird wie auch der tiefste Punkt. Soweit ich mich im leichteren Hügelland befinde, scheint mir die Messung genauer zu sein. Dort kann ich allerdings die Werte nicht genauer überprüfen. Die Tageswerte müssten nach dem Kartendatenabgleich jetzt mit +/- 50 Hm genau sein.

Die Geschwindigkeitsmessung ist keine Wettbewerbsmessung! Ich messe fast immer, wenn das Rad rollt, also auch beim Sightseeing in einer Stadt oder beim schieben auf dem Campingplatz. Alles andere wäre zu aufwändig. Die Werte sind daher nur als Anhaltspunkte der Leistung gedacht. Besonders niedrig liegen einige Werte dadurch, dass ich zwei Berganstiege und nur eine Talfahrt an einem Tag bewältigt habe. Wenn ich im Text von gutem Tempo spreche, heißt das immer noch, dass ich langsam unterwegs bin, aber etwas schneller als erwartet. Wenn ich z.B. an den großen Anstiegen von 8-10% mit über 7 km/h hochfahre, ist das ein sehr guter Wert, bei 12% darf es auch schon mal 6 km/h sein – läuft es schlecht oder sind es gar 14%, fällt die „Nadel“ auch schon mal unter 5 km/h. Wichtiger als die reale Geschwindigkeit ist, dass ich einen guten, beständigen Rhythmus finde. Bei Abfahrten lasse ich die meisten Reiseradler hinter mir (fahre wohl etwas riskanter), die meisten reinen Rennradler ziehen aber trotzdem vorbei. Ein natürlicher Grenzwert liegt i.d.R. bei 55-60 km/h, 65 km/h sind schon selten, ein Spitzenwert von 79 km/h (Julierpass) bildet die Ausnahme. In der Ebene fahre ich ähnlich schnell wie ohne Gepäck, meist 22-26 km/h, manchmal -30 km/h. Bei Gegen- und Seitenwind aber wird die Gepäckfront zu einem Bollwerk mit einer überdurchschnittlichen Geschwindigkeitseinbusse gegenüber einem leeren Rad. Auch Strecken im stetigen Auf-und-Ab verlangsamen ein Lastenrad überdurchschnittlich. Noch ein Vergleichswert: Während ich auf der gesamten Tour einen Durchschnitt von 14,3 km/h erreiche, liegt dieser bei meinen heimatlichen Touren durch Alb und Schwarzwald mit minimalem Gepäck (Lenkertasche, 1 leichter Backpacker, Gesamtgewicht des Rades 16-20 kg) bei 19-23 km/h.

Das Radreisen dieser Art bedeutet seinem Wesen nach der Entdeckung der Langsamkeit zu folgen. Manchmal schafft jeder Tritt eine neue Wahrnehmung der Bergwelt, wie sich ein Gipfel näher schiebt, ein neuer Zacken im Horizont herauswächst, ein Schatten sich verändert, eine Lichtbrechung mutiert. Die rauschenden Abfahrten sind dabei ein kurzweiliger Kontrast, die mitunter sehr intensive Gefühle freisetzen können. Und in der Ebene kann sich alles in ein Gefühl des Stehenbleibens verwandeln, wenn man trotz kräftigen Tretens nicht glaubt voranzukommen oder der Wind die denkbare Geschwindigkeit halbiert oder gar drittelt (z.B. im Rhonetal).

Es kam häufiger vor, dass in langsamen Passagen am Berg – insbesondere wenn ich nicht immer eine gerade Spur halten konnte – die Anzeige auf Null ging. Zusammen mit zwei Mitradlern in der Dolomitenrunde vermutete ich, die Batterie im Sensor sei zu schwach. Eine neue Batterie verbesserte die Anzeige aber nicht. Einige wenige Tage lag aus diesem Grund auch der Kilometerwert falsch, weil ich zu lange auf der Null gefahren war. Entsprechende Verzerrungen treffen wohl auch auf ein paar Geschwindigkeitswerte zu. Starke Hitze und Sonneneinstrahlung wirkten sich ebenfalls ungünstig auf den Computer aus.

Der Zeitwert gibt nur die reine Fahrtzeit an, also immer wenn das Rad bewegt wurde. Kleinere notwendige Pausen (Kartenlesen, Verkehr, kurze Stärkung, Verschnaufen) verlängern die Werte für einen realen Tageswert um ca. eine Stunde, dazu kommt mindestens eine größere Pause für ein kleines Mittagessen, was auch ein Sandwich im Rahmen einer Badepause sein kann. Längere Bade- oder Besichtigungspausen sind dann ein „fakultativer“ Bestandteil für die reale Dauer eines Tourtages.

Mangels guten Sommerwetters und wegen des hohen Schwierigkeitsgrades der Etappen bin ich häufiger ohne größere (Bade-)pausen durchgeradelt. Das bewirkt auf Dauer allerdings verstärkt Gesäßprobleme. Immerhin kam es auf der Tour zu keinerlei Muskelproblemen wie Wadenkrämpfen etc., die Beine waren weitgehend locker. Gelegentlich habe ich ein erhöhtes Schlafbedürfnis verspürt, woran einige schlecht durchgeschlafene Nächte nicht zuletzt infolge der kalten Nachttemperaturen schuld waren (nicht nur zu warm ist ungut für einen gesunden Schlaf).

Die Distanz zwischen zwei Orten kann in Einzelfällen etwas unterhalb meiner Angaben liegen, weil ich sämtliche Fahrten dazurechne – also auch Campingplatz- oder Hotelsuche, abendliche Fahrten ohne Gepäck zum Essengehen etc. Ebenso lassen sich aus meinen Erfahrungen Ruhetage, Halbruhetage oder abgebrochene Etappen (z.B. wegen schlechtem Wetter) nicht eindeutig abgrenzen. Entsprechend nehme ich alle geleisteten Kilometer auf, auch wenn es sich um eine Spazierfahrt ohne Gepäck handelt (Rundfahrt Kalterer See) und beziehe „echte und unechte“ Ruhetage mit in den Durchschnitt ein.

Teil 1: Die Ostalpen

Sa, 18.6. Stuttgart |5:32-8:57| Lindau (400m) – Dornbirn – Götzis – Rankweil – Bludenz – Gaschurn – Bielerhöhe (2036m)
[116 km – 7:12 h – 16,1 km/h – 1847 Hm]

Als ehemaliger Bodensee-Bewohner kann ich es mir leisten, gleich aus dem Lindauer Bahnhof heraus aus der Stadt herauszufahren, ohne die wunderbare Inselstadt näher ins Auge zu nehmen. Noch in diesem Jahr habe ich im Frühjahr den Hauptsee von Meersburg über Bregenz bis kurz vor Konstanz umradelt. Entsprechend ist mir der Uferradweg nach Bregenz bestens bekannt. Jetzt am Morgen ist außerdem noch wenig Betrieb. In Bregenz wähle ich den Weg landeinwärts Richtung Dornbirn. Die stark befahrene Bundesstraße führt teils wie ein gerader Strich von der Vorarlberger Kunst- und Verwaltungshauptstadt in die Handels- und Industriehauptstadt des kleinen österreichischen Bundeslandes. Durch einen gut ausgebauten Radweg lässt sich aber auch dieser Teil schnell – ein wenig Rückenwind – und bequem befahren. Langsam heitert der anfangs bewölkte Himmel auf. Aus der Ebene ragen bei Dornbirn unvermittelt und steil Felsen bis an den Stadtrand auf, ähnlich wie im Allgäu etwa bei Füssen und Schloss Neu-Schwanstein. Ich spüre den Ruf der Berge – Kopf und Beine sind bereit!

In Götzis verlasse ich die Bundesstraßenroute nach Feldkirch und schlage den Weg in ein kleines Seitental nach Rankweil ein (Geheimtipp!). Beim sanften Anstieg durch das feuchte, im morgendlichen Sonnenlicht hell-grün schimmernde Tal verspüre ich ein angenehmes Fahrgefühl, der Urlaub hat begonnen. Über einen offenen Wiesenhang führt eine kleine Abfahrt in ein breites Tal aus Wiesen und Weiden. Mehrere Straßen, darunter die Autobahn Richtung Arlberg-Tunnel, verschwimmen im Blick über die Gräser, über denen die aufgewärmte Luft ein sommerlichen Dunstspiegel bildet. In Bludenz nehme ich mir etwas Zeit, durch das Stadttor und ein paar Pflastergassen zu wandeln. Es ist gerade Markt und Gelegenheit etwas Obst einzukaufen. Die Preise des Bodenseeobstes sind überraschend teurer als an dem Bodenseestand, der in der Stuttgarter Bauernmarkthalle seine Waren das ganze Jahr anbietet. Offenbar verleitet die günstige Wirtschaftsentwicklung in Österreich zu einer gewissen Preisspirale nach oben – insbesondere Essen und Lebensmittel scheinen mir einen Preissprung gegenüber dem Niveau von vor zwei Jahren gemacht zu haben.

Kurz hinter Bludenz trennen sich die Wege Richtung Arlberg und Silvretta. Ein nunmehr enges Tal entlang der Ill markiert das Montafon. Es ist ein herrliches Tal, unten glitzerndes Wasser, vielfach von Misch- oder Nadelwald im Schatten gehalten, an den Hängen satt-grüne Wiesen mit charakteristischen Häusern aus dunklem Holz. Oben wieder durch Nadelwald bewachsene dunkle Bergkuppen. Unter blauem Himmel frönen zuweilen Paraglider ihrem Hobby. Andernorts hängen Freeclimber unscheinbar im Fels. Ausgesprochen lobenswert ist auch der Radweg, auch wenn einige kleinere Passagen gehärteten Sand/Kies-Belag aufweisen. Es gibt viele Stellen, wo man sich zu einer wilden Badestelle begeben könnte. Ich stoppe in der Nähe einer kleinen Staustufe kurz vor Tschagguns und genieße das Kribbeln des kaltes Gebirgswassers, welches die kräftige Sommersonne gleich wieder von der nackten Haut abdunstet.

Der bisher sanfte Anstieg wird nunmehr durch ein paar steilere Stellen Richtung Gaschurn alpiner. Bei Gaschurn fahre ich über offene Wiesenhügel, der Boden wölbt sich Richtung Berge. Noch kann ich ein ordentliches Tempo halten, schwitze aber auch erheblich. Ein paar junge Mountainbiker, die sich wohl in Gaschurn Räder für sportliche Urlaubstage gemietet haben, bleiben noch locker hinter mir zurück. Gaschurn – vor nicht allzu langer Zeit Tatort eines Fernsehkrimis um den Kreuztod bei einem Mysterienspiel (was wohl auch das dortige Sporthotel „Nova“ bekannter gemacht haben dürfte wie auch das Badezentrum „Mountain Beach“) – erstreckt sich über mehrere Teilorte und der Ortskern ist vom Radweg aus nicht auszumachen. Hier sollte eigentlich mein erstes Etappenziel sein, es ist der letzte Campingplatz vor der Passhöhe, der nächste liegt erst in Landeck.

Ich bin jedoch wesentlich zu früh für einen Stopp und entscheide mich weiterzufahren. Die Bielerhöhe traue ich mir noch zu, dort gibt es ein Hotel. Auch Galtür oder Ischgl im Paznauntal halte ich noch für möglich. Mittlerweile ist es stark bewölkt und die Luft eher kühl. Kurz nach dem Ortsteil Partenen beginnt mit der Mautstelle die Silvretta-Hochalpenstraße. Es geht gleich steil bergan. Die 8-10% lassen mich nun mit der Steigung kämpfen, es ist mir eher zu kalt. Es geht durch dicht bewaldete Stücke ebenso wie an von Schmelzwasser überflossenem Steingeröll vorbei, entlang halboffener Blumenhänge und durch helleren Mischwald in Kurven nach oben. Zunehmend setzt lichter Lärchenwald den Blick auf alpine Felswände frei. Die Bäume werden knorrig und kurzstämmig. Im schweren Tritt stoße ich in die Einsamkeit des Hochmontafon vor, nur wenige Autos und Motorräder brechen die Stille, die Mautstraße wird ohnehin nachts geschlossen. Lediglich zwei Rennradler passieren mich noch auf der gesamten Strecke.

Die einzige Erholungsphase folgt nach einer steilen Rampe (ca. 13%) am Vermunt-Stausee. Ich vernehme Murmeltiere ohne sie zu sehen. Erste eigentümliche Bergpflanzen prägen eine offene Gebirgslandschaft, die auf der gegenüberliegenden Seite in steilen Geröllhängen emporwächst. Schneereste verraten den späten Sommerbeginn dieses Jahres. Nach dem Stausee steigt die Straße wieder bekannt steil weiter an. An einem Aussichtspunkt Richtung Montafontal bleibt der Blick bereits in schlechter Sicht stecken. Hoch am Berg entlang verläuft eine voluminöse, grüne Wasserleitung, die wie ein endloses ET-Wesen den Berg erwandert. Aus einer Zufahrt von unten mit einer Gaststätte kurz unter der Passhöhe kommt ein Rennradler. Er meint, ich könne es bequem noch bis Galtür schaffen. Mein Einwand, dass ich nach 21 Uhr im ländlichen Österreich nichts mehr zu Essen bekomme, will er erst widerstrebend (weil selbst Österreicher), dann aber doch bestätigen. Schließlich meint er, etliche Hotels könnten noch geschlossen haben, sodass ich vielleicht in dem Hotel auf der Bielerhöhe (immerhin 3 Sterne) wohl günstiger übernachten könne als weiter unten.

Oben angekommen, liegt die Silvrettagruppe in den Wolken. Der Stausee gibt nur ein trübes Bild ab. Es ist ziemlich kalt. Ich entscheide mich für das Hotel hier am Pass. Ein schönes Zimmer, ca. 55 € kostet mich Zimmer inklusive Abendessen, das es aber eigentlich nicht mehr gibt. Hier schließt die Küche bereits um 20 Uhr! Trotzdem bereitet man mir aus der Kalten Küche noch einen üppigen Salat mit panierten Putenstreifen zu, dazu eine Suppe und Apfelstrudel – letztendlich noch ein schmackhafter Abschluss.






So, 19.6. Bielerhöhe – Ischgl – Landeck – Oetz-Bahnhof (750m) – Huben – Sölden (1362m)
[119 km – 5:51 h – 20,3 km/h – 725 Hm]

Morgens schweift mein Blick aus dem Zimmer auf einen klaren blauen Himmel, der Stausee glänzt in den ersten Sonnenstrahlen. Majestätisch thront die Silvrettagruppe mit den Dreitausendern über dem See, sie heißen Großlitzner, Piz Linard, Hohes Rad, Rauher Kopf und sogar Piz Buin. Der Firn reicht zwischen den hinteren Bergwänden scheinbar fast bis auf die Stauseehöhe runter. Eine vierköpfige Gruppe steigt am frühen Morgen aus einem Auto, bepackt mit Rucksäcken und darin eingesteckten Skiern – es sind wohl erfahrene Skitourenfahrer. Welche Mühsal, mit soviel Last den Berg hinaufzustiefeln nur um ein vielleicht bescheidenes Abfahrtserlebnis zu haben – aber bin ich nicht selbst ein verrückter Lastesel, der das kurzweilige besondere Erlebnis hier in den Bergen sucht?

Bei gutem Frühstück unterhalte ich mich einem Deutschen, der hier mit seiner Frau Bergblumen bewundern will. Sie müssen wegen des späten Sommerstarts wohl eher nach unten als nach oben, denn die Pflanzenwelt lässt sich noch Zeit ihre volle Pracht zu entfalten. Die morgendliche Bergluft jedenfalls erreicht winterliche Kältegrade. Das Licht, die leuchtenden Bergwiesen, durchzogen von überlaufenen Bergbächen und wilden Schmelzwasserrinnsalen, kreisende Raubvögel in der ersten Thermik des Tages und die alles wieder klein machenden Berge lassen mich staunend über das Wunder der Natur hinuntersausen – und prompt erhasche ich einen Blick auf ein Murmeltier dicht an der Straße – allerdings gleich um Unterschlupf bemüht. Ihre Stärke ist nicht die reale Fluchtgeschwindigkeit, sondern die stete Nähe zu einem Erdloch, in das sie sich schnell in Sicherheit bringen können. Dabei sind sie stabsmäßig organisiert und werden von ihren Wachposten immerzu zur Vorsicht gemahnt. Diese possierlichen dickpelzigen Tierchen, die sich höchst selten mit dem Auge ausmachen lassen, beherrschen mit ihrem Pfeifen akustisch weite Teile der Bergwelt (eigentlich bellen Murmeltiere, dazu mehr in der zweiten Engadin-Etappe).

Noch vor dem ersten Ort Galtür zweigt eine Straße zum Zeinisjoch ab, wo auf über 1800 m auch ein entlegener Stausee mit einer einfachen Unterkunftsmöglichkeit liegt. Mountainbiker können sogar einen Rundkurs nach Partenen fahren. Für mich geht es weiter runter, ein erstes Radreisepaar kommt mir entgegen, vermutlich von Galtür oder Ischgl gestartet. Das noch ruhige Galtür bestärkt meine These des Vorabends, dass auch hier um 20 Uhr der Ort zu schlafen beginnt. Noch deutlicher wird das in Ischgl. Es gibt ein fast unerschöpfliches Unterkunftsangebot. Fast jedes Haus hat irgendetwas mit Fremdenverkehr zu tun. Dennoch trügt der Schein, denn alles orientiert sich am Wintersport und der Sommer beginnt hier frühestens am 1. Juli – entsprechend häufig lese ich „Bis 1. Juli geschlossen“ – typisch für große Teile der österreichischen Berggebiete und das angrenzende Südtirol. Das Freizeitangebot richtet sich überwiegend an Wintersportler. Skiverleiher belassen ihre Angebotsschilder für den Winter, obwohl sie auch Aktivitäten für Bergwanderer, Mountainbiker und andere Sommersportler anregen. Der Sommer bietet nur ein Nebengeschäft. Daher sind die Sommerpreise in den Hotels meist deutlich günstiger als im Winter.

Nur noch teilweise eröffnen sich Abfahrtspassagen, flachere Passagen erfordern schon ein kräftiges Strampeln, um ein gute Geschwindigkeit zu halten. Es wird zunehmend wärmer und kurz vor Landeck kann ich bereits ein sehr luftiges Sommer-Outfit anlegen. Landeck hat sich an einem wichtigen Verkehrsknotenpunkt zu einem wichtigen Industrieort entwickelt. Arlbergroute, Silvrettastraße, Inntal Richtung Engadin, über Reschenpass Richtung Südtirol, Nach Osten Richtung Innsbruck führen hier einige der niedrigsten und daher auch meistbefahrenen Alpenübergänge zusammen. Entsprechend unappetitlich ist das Verkehrsaufkommen für den Radfahrer und ich bin bald froh, dem stinkenden und lärmenden Treiben zu entkommen, allerdings kann ich zunächst dabei den einmal angekündigten Radweg nicht entdecken. Trotz paralleler Autobahn ist auch die Bundesstraße stark befahren.

Irgendwann kann ich dann ruhiger auf dem Radweg teils direkt am Inn entlang radeln. Es gäbe diverse Möglichkeiten am Fluss zu rasten, die Fließgeschwindigkeit des kanalisierten Inns ist aber so hoch, dass das Baden zu gefährlich wäre. Das Inntal ist immer noch weitgehend eng zugeschnitten, erst bei Arzl öffnet sich eine breite Ebene (Abzweige Richtung Imst, Fernpass und Hochtannbergpass – eine Route, die ich auf einer Kurztour mit kleinem Gepäck Ende Oktober desselben Jahres noch fahren sollte). Gleich schnüren beidseits die Felsen den Flusslauf wieder ein. Auf einer Seite verläuft die Bahnlinie, auf meiner Seite (der Radweg endet hier) muss die Straße einen Bogen über einen kleinen Hügel machen. Ein ungemein trockener Gegenwind erschwert in der mittlerweile heißen Mittagsluft das Fahren. Es geht nun ohne Schatten weiter.

Mit der Route ins Ötztal ändert sich daran zunächst nichts. Landschaftlich bietet das untere Ötztal wenig Aufregendes. Kurz hinter Oetz gibt es ein paar steilere Kehren, denen aber gleich wieder ein flacherer Teil folgt. Solch unrhythmischer Verlauf prägt das fast gerade und in die Länge gezogene Ötztal. Insgesamt ist die Strecke einfach zu bewältigen, weil die Straße bis Sölden auf ca. 30 km nur ca. 500 Höhenmeter gewinnt (gute Pässe geben einem dafür gerade mal 4 km). Beidseits der Ötztaler Ache überwiegt an den Hängen Nadelwald, nach Süden schaut man im Sichtkanal des Tales auf die weit entfernten Spitzen der Ötztaler Alpen – vielleicht heißt einer Grießkogel, vielleicht Brunnenkogel oder Kirchenkogel. Dieses Bild bleibt lange im Auge. Auch die durch große Steinblöcke weitgehend kanalisierte Ötztaler Ache mit dem grau-braunem Sediment des Schmelzwassers bietet wenig Abwechslung. Das vortags befahrene Montafon war da deutlich attraktiver. Irgendwo zwischen Umhausen und Längenfeld suche ich beim Abzweig nach Köfels eine Badestelle, die aber nicht sehr bequem ist. Die Ötztaler Ache eignet sich nur wenig und derzeit gar nicht zum Baden. Das viele Schmelzwasser hat sie in einen reißenden Gebirgsfluss verwandelt.

Nach der größten Mittagshitze nehme ich die Fahrt wieder auf, wohl wissend, dass ich Sölden bequem erreichen werde und das Timmelsjoch samt Abfahrt nicht mehr machbar ist. Nach Längenfeld (exklusives Badezentrum) in einer Ebene rückt das Tal dichter zusammen, die Straße schlängelt sich mit mehr Tuchfühlung zur Ache durch früh schattig werdende Passagen. Überraschend hat sich der Gegenwind mittlerweile in einen Rückenwind gewandelt. Hin und wieder ein kleineres Steilstück und bald bin ich in Sölden, nochmal ein kleine Talöffnung, bevor es steiler Richtung Timmelsjoch geht (oder aufwärts die Ötztaler Gletscherstraße, eine Sackgasse auf über 2800 m). Zwei, drei Stunden könnte ich noch fahren, aber eben nicht genug Zeit, bis San Leonardo zu kommen. Sölden hat den letzten Camping vor der Passhöhe, wenngleich eine Reihe anderer Unterkunftsmöglichkeiten auf dem Passwege noch folgen, worüber ich hier aber keine Informationen habe. Es ist jetzt Zeit das mitgeschleppte Zelt zu nutzen – auch um das Budgetloch der ersten Nacht etwas auszugleichen. Und der Camping ist schön gelegen, gleich in Ortsnähe und sehr komfortabel.

Auch in Sölden sind viele Hotels und Restaurants bis zum 1. Juli geschlossen. Wintersport ist der eigentliche Tourismus. Viele vermieten zwar ihre Zimmer, die Gastronomie liegt völlig brach. Es sind nur ca. drei als Restaurant zu bezeichnende Gaststätten offen. Durchschnittliche, aber deftige Kost in einer zünftigen Gaststätte mit nervender Musik – ein Bauerngulasch (mit Spiegelei und Knödel) erweist sich etwas streng im Geschmack. Ein klarer Nachthimmel mit kräftigem Mondlicht verbreitet romantisches Feeling – leider wird es hier schon recht kühl – es ist eben nicht Mittelmeer.


Mo, 20.6. Sölden – Timmelsjoch (2509m) – San Leonardo – Merano (325m) – Kaltern (426m) – Kalterer See/St. Josef
[123 km – 7:34 h – 15,9 km/h – 1410 Hm]

Der klaren Nacht folgt auch ein klarer Tag. Um ca. 7:40 Uhr starte ich, auf einer Baustelle wird schon kräftig gearbeitet. Einer ersten steilen Rampe folgt sogar eine Zwischenabfahrt durch ein schattig enges Tal nach Zwieselstein. Hier zweigt das geradlinige Venter Tal ab. Bereits zum zweiten Mal „beginnt“ hier die Timmelsjochstraße mit einer Schranke, die bei entsprechenden Schneemengen die Straße sperrt. Die Steigung verläuft unrhythmisch, steile Rampen (bis 15%) und flachere Passagen wechseln sich im Gurgltal ab. Der Wald lichtet sich zunehmend mit Lärchenbewuchs, offene Galerien bieten zusätzliche Facetten. Dann öffnet ein weites, eher flaches Tal den Blick Richtung Obergurgl und das Firnfeld Großgurgler-Ferner mit den weißen Spitzen diverser „Kogels“. Verschiedene Hotels und Gasthöfe (einige sind geöffnet, darunter eine heimelig anmutende „Dorfalm“) liegen hier an der Straße, Richtung Obergurgl scheint es noch deutlich mehr zu geben. Bei einer kleinen Rastpause genieße ich die wärmende Morgensonne, deren Strahlen die Gurgler Ache wie glitzernde Perlen spielen lässt.

Schon wieder „beginnt“ die Timmelsjochstraße mit einer Schranke, aber immer noch nicht handelt es sich um die Mautstelle. Mit konstanten ca. 12 % erklimme ich die weiteren Kurven durch einen Waldteil, bis endgültig der Blick dauerhaft frei wird. Kurz vor der Mautstelle Hochgurgl gibt es herrliche Panoramablicke Richtung Obergurgl und den Kogel-Spitzen sowie nach Norden über das Ötztal, das man zwar nicht einsehen kann, aber dessen bewaldete Berghänge zusammen mit den hier oben eigenartigen Baumbewuchs ein etwas urtümliches Bild abgeben. An der flachen Passage um die Mautstelle habe ich das Gefühl, der Passhöhe nahe zu sein – immerhin bin ich schon auf über 2170 m. Doch nach einem scharfen Knick am Windeck fällt die Straße wieder deutlich ab (auf 2100 m). Die Vegetation ändert sich schlagartig. Mondartige Geröllhänge werden von einer spärlichen Alpenflora unauffällig geschmückt – blauer Enzian und rote Alpenrosen. Überall läuft Schmelzwasser am Berg, in der unteren Wiesenmulde um den Flusslauf weiden Almkühe und wenig später heißt es bremsen, denn eine Gruppe der Wiederkäuer ergreift von der Straße Besitz. Zwangspause auch für eilige Autofahrer.





Mittlerweile sind die später gestarteten Rennradler aus verschiedenen Winkeln des Tales an mich herangerückt. U.a. passieren mich Teile einer holländischen Transalp-Gruppe, die von mehren Begleitwagen versorgt und angefeuert werden. Ich bekomme viel Zuspruch und auch einen Becher Wasser sowie ein wenig „Anschubhilfe“. Jetzt brauche ich ständig Verschnaufpausen, auch um mich an die Höhenluft anzupassen. Bis zur Mautstelle hatte ich eine weitgehend flüssige Fahrt, jetzt muss ich schon etwas kämpfen. Zwei Reiseradler mit kleinem Gepäck – ebenfalls aus Stuttgart! – muss ich letztlich davonziehen lassen, wir treffen uns am Pass wieder. Überall liegen noch Altschneereste, obwohl die Sonne recht intensiv daran nagt.

Schließlich kann ich meine erste Bewährungsprobe auf dieser Tour bestehen. Das als schwierig geltende Timmelsjoch ist mit seinen 2509 m geschafft (ich habe Kartenangaben mit 2491 m?). Meiner Zeitprognose gut voraus, kann ich dem restlichen Etappenverlauf gelassen entgegen sehen. Die Sonne strahlt recht intensiv ein, aber ein giftiger Wind mit der kalten Luft erlaubt es nur im Windschutz etwas zu Essen (sogar der Käse fliegt mir vom Brot). Die Gastronomie hier oben ist bescheiden und überteuert, da gibt es bessere Passdomizile.

Mit der Passüberquerung überschreite ich auch die Landesgrenze zu Italien. Doch in Südtirol fühle ich mich eher wie in einem südlichen österreichischen Bundesland – das eigentliche Italien ist hier in Sprache, Kultur und Mentalität weit weg, so werden es die nächsten Tage noch belegen. Kurz nach dem Pass folgen mehrere kleinere Tunnels, die unbeleuchtet sind und gefährlich schlechte Straßenbeläge aufweisen. Es tropft von Wänden und Decke. Trotz der Kürze der Tunnels ist daher Vorsicht geboten. Die Straße wird dann etwas besser, man sollte jedoch ständig auf Schläge gefasst sein und in verschiedenen schmalen Passagen auf Gegenverkehr vorbereitet sein. Eine also nicht ganz ungefährliche Abfahrt, insbesondere wenn man es laufen lassen will wie ich. Aber die Abfahrt ins Passeiertal ist grandios! Wunderbar lieblich geschwungene, im saftigen Grün leuchtende Almwiesen mit Blumen geschmückt liegen über der unten im Tal rauschenden Passer. Die Straße drückt sich an Felsen, taucht steil hinab in eine Waldpassage, bietet dann wieder freie Blicke ins Tal. Das ständige Rochieren auf dem Sattel macht richtig Laune. Bald erreiche ich talwärts die warmen Luftschichten eines Hochsommertages. Nur noch im spärlichen Triathlon-Outfit bekleidet streichelt der Fahrtwind kühlend die Haut. Steile Kehren führen schließlich wie aus der Vogelperspektive über San Leonardo hinunter.

Nach dem Zusammenschluss mit der Jaufenpassstraße verläuft die Route nur noch leicht abfallend bis ganz flach durch das untere Passeiertal. Ab St. Martin benutze ich den Radweg, der vielfach nicht asphaltiert, aber dennoch ordentlich befahrbar ist. Er liegt unmittelbar an der Passer und ich finde schließlich einen sehr schönen Platz, wo man wunderbar – natürlich auch nackt – baden kann. Große runde Steinblöcke liegen wie gestreut im Fluss, Eschen und Pappeln schimmern silbrig im Sonnenlicht, sogar ein Sandstrand liegt im Schatten der Uferbäume. Zeit zu genießen.

Ich muss mich zum Aufbruch zwingen, denn obwohl ich leichtes Terrain erwarte, liegen noch etliche Kilometer vor mir – und man weiß ja nie, wie es weitergeht. Kurz nach der Badestelle wechsele ich wieder auf die Straße. Wer den Radweg weiterfährt, kann auf dem festgestanzten Sand-/Kiesbelag auf Höhe der Passer bis Meran durchradeln. Ich empfehle jedoch die Straße über Rifflan, denn sie bietet nach leichtem Anstieg sehr schöne Panoramablicke ins Tal, führt an Weinbergen vorbei in Manier einer sanft-kurvigen Höhenstraße und öffnet schließlich wunderbare Aussichten auf die noblen Jugendstil-Villen und lieblichen Gartenhänge von Meran. Erst kurz vor Meran und noch durch das Stadtgebiet geht die Straße nach unten. In einer Kurve erkenne ich das Palace-Hotel mit seinem großen Gartenpark wieder, in dem ich als Kind zweimal den Osterurlaub zugebracht habe. Äußerlich hat sich wohl nur wenig verändert.

Meran mag ein mondäner Kurort sein, nichtsdestotrotz tobt hier ein höllischer Verkehr – fast schon ein Moloch. Die Ausschilderung ist mangelhaft, zumindest wenn man nicht Autofahrer ist. Für Räder gesperrte Straßen und die Ausrichtung auf die Autobahn machen es für mich derart unübersichtlich, dass ich zunächst falsch nach Lana fahre, von dort suche ich wieder den Weg über die Etsch nach Burgstall. Es sind mindestens 5 km Umweg. Dazu kommt ein extrem zermürbender Gegenwind im Etschtal, ich komme kaum voran, der Mund immerzu ausgetrocknet. Nach Nals durchstreift die Straße die schier endlosen Obstanbaufelder – meistens Apfelbäume. Baum steht in Reihe und Glied. Sprinkleranlagen wässern geräuschvoll „Tscht tscht tscht“ oder „Tchscht kling tchscht kling“ etc. – jedes Gerät hat dabei seinen eigenen Sound. Agroindustrielle Produktivität und die Frage „Ist dieser Apfel gesund?“

Bald erblicke ich erstmals über die Plantagen hinweg die Dolomitenberge am Horizont. Wieder ändert sich der Charakter der Alpen grundlegend. Sandig-helle Felskegel- und Spitzen trotzen wie kunstvolle Mauern in Kargheit der fruchtbaren Ebene. Ich wähle eine etwas schwierige Nebenroute über St. Paul, Eppan nach Kaltern, der Anstieg ist nach der langen Fahrt durch die Ebene und gegen den Wind besonders mühsam, die Beine wollen nicht mehr richtig. Immerhin geht es auch hier noch einmal über 100 Hm nach oben. Während Kaltern auf der Höhe liegt, ruht der Kalterer See unter den Weinbergen, durch die eine recht belebte Straße hinabführt.

Der erste Camping („Gretl“) ist voll belegt. Ich könnte einen unangenehmen, harten Randplatz bekommen, der eines Urlaubsplatzes allerdings nicht würdig ist. Da ich einen Ruhtag geplant habe, entscheide ich mich trotz der Gefahr, der Essenszeitschranke in die Falle zu laufen, für die Weiterfahrt zum zweiten Camping St. Josef weiter südlich. Dort ist noch genügend Platz, jedoch trennt eine unzureichende Lärmschutzwand den Camping von der Straße, die auch noch nachts mäßigen Verkehr trägt. Das Campingrestaurant hat schon geschlossen und es gibt hier keinen Ort. Also radele ich nach dem Zeltaufbau bereits im Dunkeln zurück zum touristisch stärker frequentierten Bereich des ersten Campings – auch kein richtiger Ort, aber eine Ansammlung von Hotels, Pensionen und Ferienwohnungen. Nach 21 Uhr ist hier auch kein reguläres Essen mehr zu bekommen, aber immerhin gibt es noch Pizza. Nicht nur Sprache und Mentalität sind in Südtirol österreichisch, auch die Küchenschließzeiten sind unitalienisch. Der Service ist eher unfreundlich, das ist dann wieder eher etwas italienischer oder eben auch ein wenig deutsch.

Als krönenden Abschluss des Tages nehme ich, zurück beim Camping, ein nächtliches Bad im See unter vollem Mondlicht – da ist er wieder, der Romantiker. Trotzdem ist auch hier die Zivilisation nicht weit. Aus der Ferne bricht das ständige Rauschen, das aus den Verkehrsadern von Autobahn und Eisenbahn im Etschtal gespeist wird, die Stille über der Wasseroberfläche, in der der Widerschein des Mondes die Träumereien der Seele ins nächtliche Bild setzt. Wohlig warm ummantelt die leichte Brise den schlafdürstenden Körper. Ich entschlummere in stiller Zufriedenheit über das Geleistete.


Di, 21.6. 2 x Seerundfahrt Kalterer See/St. Josef – Tramin – St. Josef (Ruhetag)
[26 km – 2:02 h – 12,6 km/h – 103 Hm]

Nach drei Tagen bei einer solchen Tour bereits einen Ruhetag einzulegen, erscheint zunächst einmal ein bisschen früh. Doch ist es gerade in der ersten Phase einer Tour wichtig, nicht das Pensum zu überziehen und für lockere Beine zu sorgen. In einer späteren Phase bin ich gut eingerollt und kann dann auch mal zwei Wochen durchradeln, Muskelprobleme treten dann i.d.R. nicht mehr auf, eher schon Gesäßprobleme oder Müdigkeit. Außerdem erwartet mich folgend die von mir etwas angstvoll, weil vielleicht zu schwierige große Dolomitenrunde.

Im Nachhinein betrachtet hätte ich den Ruhetag wohl nicht unbedingt nötig gehabt und auch die Angst vor den Dolomiten war eher übertrieben. Aber ich bin ja auch im Urlaub – es gibt genügend Leute, die ich unterwegs treffe und gerade das bei dieser Tour bezweifeln wie auch schon bei vergangenen Touren. Nun, ich würde es selbst schon Urlaub nennen, treffender finde ich aber den Begriff „Reise“. Denn immer ist der Weg mein Ziel, die Touren sind unglaublich bereichernd an Erfahrungen und das Beschwerliche gehört zur echten Reise ebenso wie das Leichte und Entspannende. Vielleicht hat Auto und Flugzeug den Menschen zu weit von der ursprünglichen Idee des Reisens entfernt. Die Trend- und Abenteuersportarten in der Urlaubsenklave sollen dann das verlorene Gefühl wieder zurückbringen. Da bleibe ich lieber bei meinem organischen Reiseverständnis.

Morgens radele ich um den Kalterer See. Von der Westseite und nach Norden ziehen sich die Weinhänge hoch. Nach Süden öffnet sich die Ebene Richtung Etschtal und es ist genügend Platz für Obstplantagen. Im Osten liegen steilere Waldhänge, über die man hinauf zur Ruine Leuchtenburg kommen kann. Auf dieser Nordostseite liegen auch die hübschesten Pensionen und Hotels. Der Platz zum Baden am See ist recht eingeschränkt, denn neben zwei offiziellen Strandbädern versperren Privatstrände der Hotels des Zugang, ein weit größer Teil des Sees ist aber durch eine naturgeschützten Schilfgürtel unzugänglich – besonders im Süden, dort kann man einem Naturbeobachtungspfad folgen und die Uferfauna und -flora studieren. Als besten Badeplatz zu einem herrlich faulen Nachmittag wähle ich den Steg gleich anbei des Campings.

Abends nehme ich nochmal das Rad für eine Exkursion ins nächstgelegen Weindorf im Süden, Tramin. Überraschend sind die Speisekarten trotz der Weinkultur sehr bescheiden. Einige enthalten nicht mehr als zwei bis drei Gerichte. Braten oder Schnitzel. Die Zubereitung der Speisen in Südtirol ist oft ähnlich banal. Da geben sich die Südtiroler deutscher – oder besser österreichischer als ihre Nachbarländer im Norden – Italien, das ist klar, ist hier sehr weit weg. Immerhin finde ich ein schönes Gartenrestaurant im Innenhof des Hotels. Dort probiere ich Ochsenfilet mit Bozner Soße (kalte Eiersoße), ein flambiertes Zuckerstück über der Zitronenscheibe ist der kleine Clou – insgesamt ein ansprechendes Mahl. Am Nachbartisch diskutieren vier Mountainbiker mit dem Wirt, der wohl auch Mountainbiker ist, über verschiedene Dolomitenerlebnisse. Ich bemerke, dass die Mountainbikerwelt wieder eine ganz andere als die meine ist. Aber auch die Mountainbiker grenzen sich wieder bewusst von den Downhillfahrern ab, halten diese für lebensmüde Spinner. So ist das – viele kleine Völkchen voller Spinner – ich bin ja auch so einer.

Zurück am Camping, leiste ich mir noch einen Eiskaffee. Mein etwas seltsamer, langhaariger, schlaksiger Zeltnachbar sitzt auch noch auf der Terrasse des Campingrestaurants. Er hat schon einige Gläschen runtergeschluckt und klagt über deutsche Politik, über Arbeitslosigkeit und die Stuhlkleber auf dem Arbeitsamt, die er für unfähig hält. „Die kriegen doch ihren Arsch nicht hoch! Was ich schon geleistet habe – da stecke ich die locker in die Tasche. Die können nichts und stecken sich die Knete in die Tasche! So wird das nix! Das werden immer mehr Arbeitslose...“, so schimpft der Mann vom Niederrhein zu mir rüber. Obwohl er einen ziemlich „abgebrannten“ Eindruck macht, so manches, was er von sich gibt, ist einfach zustimmungswürdig. Nun, differenziert konnte ich nicht mit ihm diskutieren und irgendwann ist so ein Gespräch recht nervig. Da ist es gut, wenn die Lichter in der Bar ausgehen und ich jetzt meinen Schlaf für die Anstrengungen des nächsten Tages suche.


Mi, 22.6. Kalterer See – Ora (236m) – Cavalese – Passo Valles (2033m) – Cencenighe (773m) – Alleghe – Pieve di Livinallongo (1475m)
[110 km – 8:05 h – 13,6 km/h – 2465 Hm]

Es wird meine früheste Abreise werden. Um 6:40 Uhr starte ich bei klarem Himmel und rolle durch die Obstplantagen nach Ora (Auer). Mit 236 m ist es der tiefste Punkt auf der Ostseite meiner Tour. Die aufsteigende Straße ist schon von sichtbar und wirkt recht martialisch. Tatsächlich erweist sich die Steigung aber als recht gemäßigt. Bald sind die ersten Hügel unter mir, klein und unbedeutend – schienen sie von unten betrachtet doch noch fast unbezwingbar. Und wieder eine Ebene höher, und wieder alles etwas kleiner. Bald weicht die offene Szenerie einer Waldfahrt entlang des Schwarzenbachs. Die Straße ist nun recht steil und ich gewinne stetig an Höhe. Ich sehne mich nach einem Kaffee, muss aber längere Zeit warten. Ein sehr schönes Gasthaus mit dem vielversprechenden Namen „Pausa“ hat leider noch geschlossen. Nicht mehr weit von einem ersten Scheitelpunkt liegt ein kleiner Ort (ich glaube Kaltenbrunn, so heißt auch ein Ort im Schwarzwald…), wo ich endlich mein wohl verdientes kleines Frühstück bekomme.

Ich sehe einen Rennradler vorbeifahren, der schwer zu kämpfen hat. Wenig später habe ich ihn eingeholt. Am Scheitelpunkt (offenbar kein echter Pass) gibt es eine Wasserstelle und wir kommen kurz ins Gespräch. Der Italiener ist 60 Jahre alt! Er ist begeistert von meiner Leistung – aber eigentlich ist seine Leistung doch höher einzuschätzen. Er kann kein Deutsch oder Englisch, unser Gespräch funktioniert daher nur aus einem Mischmasch von Sprachen sowie Händen und Füßen. Er fährt zunächst die gleiche Richtung, wählt aber später den Karerpass weiter nördlich während ich den Passo Valles angehe. Auf der kleinen Abfahrt fährt er wieder vorne weg, bleibt aber noch bis Cavalese in Sichtweite. Hier halte ich schließlich, um mir noch einige köstliche Minitörtchen aus einer Konditorei zu leisten. Cavalese ist eine lebhafte Kleinstadt mit einem wunderschönen Ortsbild. Doch auch die Halbhöhenlage über dem Tal sorgt für herrliche Panoramablicke, insbesondere östlich von Cavalese. Die Straße verläuft eben, aber in Kurven über dem mittelbreiten Tal. Über dem hell leuchtenden Grün der Wiesenhänge flimmert die heiße Luft. Eine echte Traumstraße schlängelt sich durch das untere Val di Fiemme. Nur leichte Steigungen folgen bis Predazzo – auch für wenig Trainierte ein Tipp für eine Radltour.



In Predazzo biege ich ins Val Travignolo ab. Das Landschaftsbild wandelt sich umgehend. Dunkler Tannenwald säumt die Berghänge eines engen Tales, graue alpine Gipfel rücken näher, die Straße wird steil. Bald folgen offene steile Wiesen und ich habe zu kämpfen. In Bellamonte, der letzten geschlossenen Ortschaft vor dem Pass und noch in einer steilen Passage gelegen, besorge ich mir ein Mittagssandwich. Nach dem Ort schlängelt sich die Straße wieder flacher durch einen Nadelwald, dann verläuft sie oberhalb eines Stausees, der noch längst nicht voll gelaufen ist. Der Himmel ist nunmehr stark bedeckt, sogar Regen droht. Sofort weicht das Sommergefühl einem Kältegefühl. Die Straße zum Passo Valles zweigt kurz vor dem Passo di Rollo ab. Hier geht es mäßig steil hinauf, der Gebirgsfluss rückt immer näher an die Straße, verschiedene Picknickplätze laden zur Rast ein. Nach einem kurzen Bad im eiskalten Wasser fröstelt es mich sofort, wenn die Sonne hinter den Wolken verschwindet.

Der letzte Abschnitt ist wieder heftig steil (Rampen bis 13%) und führt durch helleren, aber dichten Lärchenwald, der fast bis zur Passhöhe reicht. So taucht der Pass fast unvermittelt auf, nur noch ein paar Kehren durch die oberen Wiesenhänge und es ist geschafft. Im Hospiz bekomme ich ein leckeres Bruschetta und heiße Schokolade – molto bene. Die Abfahrt ist sehr steil und schnell vorbei. Immer wieder tauchen die Dolomitenberge in neuen Facetten auf, verschwinden im Blickfeld des engen Tales. Schließlich muss ich der Versuchung widerstehen bis Belluno oder Venedig durchzurasen, weil ich gerade soviel Schwung mitnehmen könnte. Also bremsen für die nächste Auffahrt.

Etwas mühsam winde ich mich nach der rauschenden Abfahrt auf der Straße nach Alleghe. Ich muss wieder auf einen Bergrhythmus umstellen, was nach längeren Flach- oder Abfahrtsstrecken stets schwer fällt. Letztlich ist die Strecke noch nicht so schwierig. Der See von Alleghe ist sehr schön gelegen, strahlt eine idyllische Ruhe aus, obwohl ein großes touristisches Angebot vorhanden ist. Vom See steigen dunkle Tannenwaldhänge steil hinauf, aus denen oben Felszapfen herausragen, die die unverwechselbare Dolomitenwelt prägen. Es wäre ein schöner Etappenort, aber ich habe mir ja ehrgeizige Ziele gesetzt und führe meine Fahrt fort. Nochmal stärke ich mich aus einem Supermarkt in Caprile. Ein letztes Mal überlege ich, ob ich doch den Tag beenden soll, doch ich mache weiter, denn eigentlich wollte ich mindestens bis Arabba kommen – nach Plan sogar bis zum Pordoipass. Dabei habe ich aber die Kilometer nicht richtig zusammengezählt und die Höhenmeter nicht korrekt mit einbezogen – es wäre schlicht nicht machbar gewesen.



Ich wähle die auf der Karte weiter westliche Route (geringfügig kürzer), es gibt eine Alternative als rote Straße eingezeichnet – beide kommen etwa an gleicher Stelle heraus. Die Straße steigt steil an und ich glaube, dass ich durch ein Tal komme, das noch weitgehend flach ist. Ich habe aber die Karte nicht genau genug studiert bzw. dort fehlen entsprechende Höhenangaben, um den Schwierigkeitsgrad einschätzen zu können. Der Weg nach Pieve di Livinallongo ist aber schon ein gewichtiger Teil für die Fahrt zum Pordoipass. Zu allem Übel verliere ich in zwei kleineren Zwischenabfahrten Höhenmeter, die dann in entsprechend steilen Passagen wieder zurückerarbeitet werden müssen. Das alles wäre auch noch nicht so dramatisch, aber es gibt ja diese Probleme mit dem Zapfenstreich der Köche bevor es dunkel wird.

Ich beginne das Ende zu ersehnen und bin erfreut, endlich einen Ort zu erreichen. Ein erstes (Panorama-)Hotel oberhalb der Straße erscheint mir zu exklusiv, so wähle ich eines direkt im Dorfkern. Die Küche hat – es ist ja nun schon bekannt – um 20 Uhr geschlossen. Doch immerhin kann ich noch eine Suppe, Spaghetti und Pannacotta mit Waldbeeren aushandeln. Da ist es nur noch ein Kuriosum, wenn in dem stillen Bergort die Nachtruhe massiv durch einen ladinisch herumkrakeelenden Spinner gestört wird. Trotzdem kann ich noch einen guten Schlaf vermelden.


Do, 23.6. Pieve di Livinallongo – Passo Pordoi (2239m) – Passo Sella (2214m) – Passo Gardena (2121m) – Passo Valparola (2197m) – Passo Falzarego (2105m) – Cortina d'Ampezzo – Pieve di Cadore
[115 km – 7:44 h – 14,9 km/h – 2219 Hm]

Bei Traumwetter kann ich auf die große Dolomitenrunde gehen – vier bzw. rein statistisch sogar fünf Zweitausender will ich an diesem Tag bewältigen. Das geht natürlich nur, weil die Distanzen zwischen den Pässen sehr kurz sind und auch die Tiefpunkte zwischen den Pässen relativ hoch liegen. Die Gesamthöhenmeter des Tages liegen sogar unter denen des Vortages, aber die Höhendifferenz zum Passo Valles gehört schon zu den größten, die ich an einem einzigen Pass bei dieser Tour zu bewältigen hatte.

Eine leichte Passage reicht bis Arabba, wo zahlreiche Hotels den Eindruck eines überlaufenen Touristenortes machen. Wanderer, Motorradfahrer, Oldtimerpiloten und Velofahrer beraten und starten an allen Ecken in den herrlichen Ausflugstag. Den von hier ebenso erreichbaren Passo Campolongo als vollständigen Teil einer großen Rundfahrt um das Sella-Massiv fahre ich nicht – er ist unter den hier auf engstem Raum befindlichen Dolomitenpässen der einzige unter 2000 m und nach einem späteren Gespräch mit erfahrenen Dolomitenradlern auch weniger attraktiv als die anderen.

In Serpentinen an einem weitgehend offenen Hang strebt die Straße nach oben. Glitzernd sprudelnde Bergbäche, blumenbunte Almweiden, blendend helle Spitzzacken und Quaderfelsen – majestätisch emporragend, grün schimmernde Grasteppiche, funkelnd blauer Himmel und eine trocken-reine Luft lassen mein Herz höher schlagen – wundern, staunen, besinnen, Demut vor der puren Schönheit. Trotz des regen Verkehrs fühle ich mich als Herrscher der Straße. Etliche Autofahrer, Busse und auch Motorbiker haben mit den engen Kurvenradien so ihre Probleme. Eine ganze Serie von alten Rennwagen (mit den Nummern auf kreisrunden weißen Punktflächen) – alle ähnlichen Typs – flaniert auf dem Bergboulevard. Der Oldtimer-Showlauf hält bis zum Nachmittag an, zum Glück stinken die alten Blechkisten weniger als manch moderner Diesel.

Bald überholen mich die ersten Rennradler, einige haben ein beängstigend hohes Tempo drauf. Ich lerne zwei Berliner, die mittlerweile Hamburger sind, bei einer kleinen Verschnaufpause kennen (eigentlich saßen sie schon im Hotel am benachbarten Frühstückstisch, waren aber nicht als Radler zu erkennen). Sie stürmen ohne Gepäck, aber mit recht klapprigen Rädern ohne professionelle Montur den Berg hoch, überholen sogar manchen der feschen italienischen Radamateure auf ihren Hightech-Rädern. Sie meinen, dass es auch in Hamburg ein paar Hügel gibt, wo man trainieren kann. Ich glaube, dass sie eine gute Kondition haben, die sich im besten Alter (ca. 25-30 Jahre) durchaus auch ohne besonderes Training auf verschiedenste Körperleistungen, also auch auf das Radfahren, übertragen lässt. Das zeigen auch noch andere Beispiele von unbekümmerten Schüler-, Azubi- und Studentenradlern, denen ich so im Rahmen meiner Touren begegnet bin. Da merkt man gleich, welch alter Tropf ich bin (43 Jährchen sind zusammengekommen, also noch kein richtiger Greis, arbeitsmarkttechnisch aber schon nahe am Altenheim).

Der Pordoipass hat nie mehr als 8% Steigung, bleibt eher darunter. Nicht zuletzt auch daher schaffe ich den Berg ohne große Schwierigkeiten. Auf der Passhöhe sind die beiden Flachlandradler immer noch da und bleiben länger als ich. Eine herrliche Abfahrt folgt bis zur Abzweigung Richtung Sellajoch, wo es Richtung Südwest nach Canazei und Karerpass geht. Mit den 1850 m ist der Tiefpunkt höher als mancher schwer erklommene Pass. Die Landschaft wirkt wie ein durch Landschaftsarchitekten gebauter Berggarten. Tannen stehen wie einzeln gesteckt in den Wiesen, verdichten sich stellenweise zu aufgelockerten Hainen. Kleine Steinblöcke reflektieren als helle Tupfer das Sonnenlicht.

Der Weg zum Sellajoch ist nicht weit und doch kämpfe ich jetzt stärker als am Pordoi. Nicht nur die Steigung ist heftiger, sondern auch die aufkommende Hitze fordert ihren Tribut. Aber auch noch andere Radler machen einen schlappen Eindruck. Etwas neidisch schaue ich auf ein Reiseradlerpaar, die sich in den Bergweisen sonnen. Doch wenn ich die große Runde heute schaffen will, muss ich auf längere Entspannungspausen trotz des schönen Wetters verzichten. Es dauert ein Weilchen, dann sind sie wieder da, die Neu-Hamburger. Auf dem Sellajoch essen wir gemeinsam zu Mittag – ich mache aufgrund des wohl schwierigen langatmigen Tages eine Ausnahme und esse ein warmes Gericht mit kartoffeligen Kohlehydraten (sonst begnüge ich mich mit Sandwiches).



Eine kurze Abfahrt geht zu einem immer noch bergoffenen Tiefpunkt auf 1900 m, von wo aus das Grödnertal weiter hinunterführt und wo ein Hotel Unterkunft bietet. Dem monolithischen Quader des Sellamassivs steht hier der eindrucksvolle Zapfen des Langkofels gegenüber. Der Anstieg zum Grödnerjoch ist wieder leichter, es gibt sogar eine fast ebene Gerade zwischendrin. Die Passhöhe erreiche ich ohne Verschnaufpausen, aber die zwei Norddeutschen überholen mich auch diesmal noch zuvor. Erneut pausieren sie bei der Abfahrt um Fotos zu machen. Das Grödnerjoch bietet einen weiten Panoramablick nach Norden. Die berauschende Abfahrt führt zum niedrigsten Punkt innerhalb der Dolomitenrunde. Zahlreiche auf Wintersport ausgerichtete kleinere Orte fliegen an mir vorbei. Auf den knapp 1400 m flimmert die Hitze über der Straße. Es ist richtiger Hochsommer.

Ohne Pause nehme ich Kurs Richtung Passo Valparola. Gemäß Höhendaten muss es jetzt etwas mehr zu kurbeln geben und so beginnt denn auch gleich nach dem Ort schon eine heftige Steigungspassage. Auch die Summe der Passauffahrten und die Hitze haben mich mürbe und müde gemacht. Zu Beginn einer Flachpassage nach St. Kassian beobachte ich eine sehr lange Kolonne von Harley-Davidson-Fahrern in Gegenrichtung. Es sind über 50 Bikes, alle im gemütlichen Tempo – und – sie haben auf dem Rücksitz alle einen Teddybär sitzen. Einen Kilometer später entdecke ich einen LKW, in dem eine Dame die Teddys an die Biker ausgibt, die von einem Sportplatz aus starten. Der weitere Verlauf ist wieder sehr steil, zunächst in Kehren durch Wald, dann auf einer Geraden im aufgelockerten Pflanzenwuchs und schließlich wieder in Kehren durch offene Berglandschaft – Wiesen mit Steinansammlungen, manchmal wie Findlinge aus dem Salzstreuer verteilt. Mittlerweile haben mich auch meine beiden radelnden Tagesbegleiter wieder erreicht – kämpfen jetzt aber auch. Nicht ganz auf der Passhöhe steht die Gaststätte, wo es deutlich ruhiger zugeht als auf Pordoi, Sella und Gardena. Zur Belohnung stärken wir uns mit Capuccino und Apfelstrudel. Diesmal sind die beiden früher weg als ich und wir sehen uns nicht mehr, denn sie beenden die Runde wieder in Livinallongo.



Nach kurzer Abfahrt erreiche ich den Passo Falzarego, den eigentlich fünften Zweitausender, aber es ist aus der Richtung Valparola nur ein so genannter Abrollpass. Auf der weiteren Abfahrt bestimmt dunkler Nadelwald die Szenerie. Immer wieder stechen die verblüffenden Formationen der Dolomitenberge ins Auge, wenn von der Straße her sich ein Sichtfeld öffnet. Der Geschwindigkeitsrausch endet in Cortina d’Ampezzo, das ich noch aus meiner Schülerzeit kenne (eine Dolomitenrundfahrt mit Bus war Teil der damaligen Skifahrt in der 10. Schulklasse). Diesmal lasse ich das Städtchen der Schönen und Reichen vorbeiziehen und begebe mich in das schwül-warme Tal Richtung Belluno. Es muss hier irgendwann zuvor geregnet haben, entsprechend schwer ist die Luft. Es bleibt jedoch, von wenigen Tröpfchen abgesehen, auf der gesamten Strecke trocken. Allerdings erlauben die tief hängenden Wolken nicht immer einen freien Blick auf die umliegenden Berge, was aber auch teilweise am engen Tal liegt. Die Fahrt ist eine Mischung aus Abfahrt und Flachpassage, man muss ständig treten, um ein flottes Tempo zu halten.

Die Cadore-Region ist reich an kleinen Seen, die sich längs der Talsohle wie an einer Perlenkette aneinanderreihen. Leider sind sie nur teilweise einsehbar, vielfach verwehrt der dichte Tannenwald den Blick auf Flusslauf und Seen. Der Ort Pieve di Cadore liegt leicht erhöht von dem Tal und dem nahe gelegenen See, sodass sich vom östlichen Ortsteil schöne Panoramablicke ins Tal ergeben. Die Stadt ist ein kleines kulturelles Zentrum, bezeichnet sich als Kunst- und Mauerstadt. Hier wurde der Maler Tizian 1490 geboren. Die Hand seiner Statue weist gegenüberliegend auf sein Geburtshaus. In einem Brillenmuseum kann man etwas über die Brillenproduktion lernen und verschiedene optische Geräte aus fünf Jahrhunderten bewundern. Die Brillenindustrie der Provinz Belluno produziert 80% der italienischen Brillen und einen beträchtlichen Anteil in der Welt.

Ich übernachte in einem unauffälligen Hotel etwas erhöht im Ort, schöne Gärten umliegend. Zum Essen wähle ich ein vom Hotelier empfohlenes Restaurant im Ort, in dem es wieder richtig italienisch bis 23 Uhr Essen gibt und gegen halb zehn Hochbetrieb herrscht. Es ist unglaublich warm, weil es keine richtigen Fenster gibt und entsprechend schlecht gelüftet werden kann. Auch das kleine Hotelzimmer ist zusammen mit der schwülen Luft nicht richtig erholsam und eine leichte Restmüdigkeit werde ich noch in den nächsten Tag hineintragen.


Fr, 24.6. Pieve di Cadore (750m) – Auronzo – Lago Misurina/Col San Angelo (1756m) – Toblach – Lienz
[116 km – 6:27 h – 17,9 km/h – 1032 Hm]

Im Angesicht der Tizian-Skulptur verspeise ich Joghurt, Montaneros (Brötchen mit Rosinen und kandierten Früchten, ähnlich wie Panettone) und hauchdünn geschnittene Biskuits mit Rosinen und Haselnüssen zum Frühstück. Ein wenig matt fühle ich mich, eben wegen der bleiernen Nacht. Es ist immer noch schwül-dampfend, kleine Dunstwolken schweben über dem See im Piavetal. Die Straße führt in kleinen Auf und Abs durch einige weitere kleinere, aber lebhafte Orte, bevor die abzweigende Straße Richtung Tolmezzo für nachlassenden Verkehr sorgt. Das Tal ist nun sehr eng, mit dunklem Tannenwald bekleidet, der Fluss tief unterhalb der Straße. Noch gibt es nur sanfte Steigungen. Mitten in der Landschaft sieht man Fabrikverkäufe für Brillen und auch die kleinen Orte hier weisen eine erstaunliche Optikerdichte auf – Zeichen der o.g. Stärke der Brillenindustrie in der Provinz Belluno.



Der Stausee Lago di Santa Caterina ist der letzte und wohl auch der schönste unter denen, die ich im Cadore gesehen habe. Die drei kleinen ineinander gehenden Orte mit dem Hauptort Auronzo strahlen eine erholsame Ruhe aus und fügen sich in ein stimmungsvoll romantisches Landschaftsbild ein. Eigentlich sollte dies mein Etappenziel des Vortages sein, aber ich liege noch günstig um den Rückstand wieder aufzuholen. Zu den Unterkunftsmöglichkeiten zählt auch ein Camping, der ebenso wie einige weitere an den Seen zuvor auf der Karte nicht eingezeichnet ist.

Es ist mittlerweile unter der Sonne ziemlich heiß geworden, sodass ich eine wohl etwas zu frühe (Vor)Mittagspause überlege. Das Tal bleibt nun lange auf Höhe des Flusses Ansiei, der zahm über den Kiesel vor sich hinsprudelt. Zusammen mit den Blumen und Doldengewächsen zwischen den Waldbäumen und auch schon mal einer sumpfigen Wiese hat das etwas Liebliches. Nur wenig Autoverkehr lässt einem viel Gelegenheit zu genießen. Doch kaum habe ich eine Rast am Ufer eingelegt, ziehen drohende Gewitterwolken bei Donner auf. Kurz nach Wiederantritt muss ich Unterstand suchen an einer verlassenen Ferienhütte. Wenig später geht der Regen in leichtes Nieseln über und ich kann weiterfahren. Die Luft ist nun schwer und schwül, das Atmen wird schwierig, ich schwitze heftig, zumal der flache Anstieg nun in einen steilen von 10-12% übergeht. Ein einzelner Rennradler müht sich nicht weniger schwer hinauf.

Nach der Abzweigung zum Passo Tre Croci Richtung Cortina d’Ampezzo fahre ich über eine offene Bergwiesen und über mir blitzt und brodelt es heftig. Ich fürchte zum Blitzableiter der Hochebene zu werden. Es gibt keine Möglichkeit Unterstand zu finden. Nur der forsche Tritt nach vorn hilft. Weit ist es nicht mehr und ich erreiche doch noch relativ trocken und ohne Blitzeinschlag den Lago Misurina. Etliche Hotels, Gaststätten und Kioske machen hier ihr Geschäft mit dem Blick auf die Drei Zinnen, die sich im günstigsten Fall auch in dem See spiegeln sollen. Aber das Ensemble der bekanntesten Dolomitengipfel hüllt sich in weißen Wolken, trübe siecht der See unter dem grau verhangenen Himmel. Es ist trotz der bescheidenen Höhe von 1750 m saukalt. Noch einige andere Radler frösteln an verschiedenen Gaststätten und warten auf Regenende.

Manchmal ist es nicht zu verstehen, wie unverschämt respektlos so mancher sich verhält. Ich erwerbe in einem Souvenirladen einen Metallschmetterling, begebe mich für einen Aufkleber in einen anderen und unterdessen hat der Besitzer des ersteren mein Rad aus dem Markisenunterstand seines Ladens in den Regen gestellt – es war ausreichend Platz dar und keine Not. Das gehört zu der manchmal in Italien zu beobachtenden Unfreundlichkeit. Da der Regen anhält, wärme ich mich ein wenig bei Apfelstrudel und Capuccino auf. Aber selbst die Gaststättenräume hier sind unterkühlt weil auf Sommer eingerichtet.



Nach einer Weile kann ich schließlich die Abfahrt nach Toblach angehen – allerdings mit langem Beinkleid und dicker Regenjacke. Der Pass Col San Angelo ist nicht genau auszumachen, er ist eigentlich identisch mit dem Misurina-See. Die Drei Zinnen kann ich bei der Abfahrt doch noch ohne Wolken erblicken, auch am Gasthof direkt mit Blick auf die berühmten Zacken sind sie wolkenfrei, wohlweislich grau in grau mit dem Himmel. Alle landschaftlichen Reize verschwimmen in diesem Nichtsommerwetter zu unauffälligem Einerlei. So wirkt auch der Toblacher See wie ein unauffälliger Tümpel, mein Mitleid gilt den Campern.

Von Toblach fahre ich auf einem sehr gut angelegten Radweg zunächst nahezu eben über ein breites Hochtal mit eher langweiligem Weideland. Der Reiz liegt am südlichen Horizont, den immer wieder neue Dolomitengipfel zieren, wenngleich die Wolken so manchen Blick vernebeln. Dabei bekomme ich weder mit, wo die italienisch-österreichische Grenze ist, noch wo die Wasserscheide zwischen Puster und Drau verläuft. Unvermittelt fließt auf einmal die Drau als ruhiger Wiesenbachlauf neben mir. Es bleibt noch kribbelig kühl, ist aber schon wieder deutlich wärmer als in Misurina.

Besonders bemerkenswert am Radweg ist, dass es eine ausgiebige Beschilderung nicht nur für die Ortszufahrten gibt, sondern auch für Hotels, Gaststätten und Firmen. Und die Schilder sind sogar so groß, dass man sie während des Fahrens lesen kann! – etwas, was deutschen Verkehrsplanern bisher noch nicht gelungen ist. Weitere Pluspunkte sind die schön und häufig angelegten Rastplätze und die mit Sinn für das Radfahren angelegte Linienführung – ab und zu muss ich aber doch noch einen Haken schlagen. Nach flotter Fahrt in der Ebene geht es fortan überraschend schwungvoll nach unten. Die Drau wird wilder und rauscht in fortwährende Kaskaden nach unten. Da der Radweg eng ist und jederzeit ein Radfahrer entgegen kommen könnte, kann ich elegant kunstvolles abfahren ausleben – der ganze Körper ist gefordert und es macht Riesenspaß.

Im Hinblick auf das allabendliche Essensdilemma werde ich nun durch den witterungsbedingten Einschnitt nicht mehr zum Aufholen kommen und statt des Planziels Huben nur noch Lienz ansteuern können. Schließlich erkenne ich die Charakteristik des Iselsberges und die Talöffnung bei Lienz (ich bin die Drau schon mal von der östlichen Seite her mit Abzweig Iselsberg gefahren). Ich lande auf dem Camping „Falken“, wo es auch einen zugehörigen Hotel-Gasthof gibt. Ein starker Wind geht, es könnte auch der Vorbote eines schlechten Wetters sein. Ich frage den Platzwart: „Gewitter oder kein Gewitter?“ – „Ich gebe keine Prognose, aber wenn Sie mich fragen, ich möchte, dass es regnet.“ Ich antworte ihm, dass wir uns da wohl nicht einig sind, und frage ihn, ob er Landwirt sei, was er verneint. Ich sage ihm noch, dass ich genug Wasser gesehen habe, die Flüsse sind noch voll Schmelzwasser und im Regen sei ich heute auch schon gewesen. Ich kann ihm aber letztlich den Wunsch nach mehr Regen nicht ausreden. Vielleicht wird er im Nachhinein mit Blick auf den Gesamtverlauf dieses Sommers diesen Wunsch noch verfluchen.

Nun, ich schätze, das Wetter hält und es ist immerhin sehr mild hier, sodass ich mich für Camping entscheide. Er sagt mir, dass ich bis 21 Uhr im Gasthof noch Essen kann und verkauft mir noch eine Duschmarke. Nun, nach dem Zeltaufbau gehe ich gleich zum Essen und es ist Viertel vor Neun. Mein Wunsch, jetzt noch etwas Essen zu wollen, löst mittleres Entsetzen beim Personal aus: „Nein, so spät kochen wir nicht mehr.“ Ich könnte zwar noch Kalte Küche bekommen, aber das ist mir natürlich zu wenig. Einmal mehr wird deutlich, dass Österreich in punkto Küchenschließzeiten den Deutschen meilenweit hinterherhinken. Welches Land lebt hier in einer Dienstleistungswüste? – Nun, in der Stadt gibt es dann doch noch eine gute Auswahl an Essgelegenheiten. Es gibt Schlifkrapfen (Teigtaschen mit Kartoffelfüllung), die allerdings in zuviel Fett schwimmen, einen Grillteller mit sehr gutem Fleisch und Gemüse, das etwas mehr gegart oder geschmort sein könnte.

Nach dem schon etwas befremdlichen Erlebnis in dem Camping-Gasthof setzt der Camping „Falken“ noch die Krone auf. Mit der Duschmarke bewaffnet gehe ich in die eigentlich nobel aussehenden Sanitäranlagen. Bei Dusche Eins eingeworfen, tut sich im Bereich Warmwasser nichts. Die Duschmarke wird aber einbehalten. Ein Blick in Dusche Zwei erklärt das Rätsel: Ein Schild (und nur hier) weist darauf hin, dass nach 22 Uhr kein Warmduschen möglich ist und Duschmarken auch nicht erstattet werden (dazu habe ich am nächsten Morgen sowieso keine Gelegenheit). Hat mich da jemand an der Nase herumgeführt – oder war das wieder eine Beispiel für die Dienstleistungswüste Österreich. Leider, liebe Österreicher, da hat doch mein positives Bild vom Nachbarland einen schweren Knacks erlitten. Rote Karte für den Camping/Gasthof „Falken“! – Es blieb mir nur kalt zu duschen, der Kampf geht halt manchmal auch jenseits des Sattels weiter.


Sa, 25.6. Lienz (673m) – Huben – St. Jakob – Staller Sattel (2052m) – Rasen/Antholz – Bruneck – Mühlbach – Aicha
[128 km – 7:29 h – 17,1 km/h – 1414 Hm]

Der Tag beginnt als herrlicher Sonnentag. Bei der Abreise treffe ich noch auf einen Radreisekollegen, der gleichwohl aus meiner Geburtsheimat, dem Rheinland bei Bonn, kommt. Obwohl auch er mit Zelt unterwegs, hat er irgendwie weniger Gepäck als ich auf seinem Mountainbike. Er hat schon ähnliches hinter sich wie ich noch vor mir. Seine Route führt nun abschließend über den Iselsberg und weiter über die Großglockner-Hochalpenstraße – damit habe ich vor zwei Jahren meine Alpen-Kroatien-Tour gekrönt. So reise ich statt vor sieben erst nach sieben Uhr ab. Dann schleiche ich noch etwas durch die Straßen und Gassen von Lienz, entdecke dabei das Museum für mechanische Musik – natürlich noch geschlossen. Aber auch von außen schmücken das Gebäude karikierte Figuren – z.B. die tanzenden Bluesbrothers, der unvermeidliche Elvis oder der Hund vor dem Grammophontrichter.





Die Straße nach Matrei mit dem anschließenden Felbertauerntunnel bildet eine der wichtigsten Alpentransversalen zur Salzach (Verbindungen nach Kitzbühel, Inntal, Saalfelden, Salzburg etc.). Doch es gibt hier einen Radweg entlang der Isel, die geradlinig, reißend und im grauen Schmelzwasserton dahinströmt. Auf der Flachpassage bis Huben herrscht bereits am Morgen ein ungemütlicher Gegenwind, nicht sehr stark, aber doch genügend energiezehrend für den Radler. Es gibt etliche Gelegenheiten, um ein Frühstück nachzuholen, doch ich schlage alle aus, weil ich erst den Weg bis Huben geschafft haben will. Dort findet sich aber keine Gelegenheit, nicht mal ein Bäcker hat offen. Also müssen Banane und Restkekse für den ersten Anstieg reichen.

Gleich bei der Abzweigung drängt sich die Straße an den Berg und verlangt vollen Einsatz. Nach der ersten Rampe wird das Defreggertal dann aber lange Zeit flacher, mäßige Steigungen wechseln mit Fast-Flachpassagen. Die Schwarzach fließt und glitzert nur wenig unterhalb der Straße, grüne Almwiesen geben dem lang gezogenen Tal ein anschmiegsames Antlitz. Im unteren Teil werden gerade neue Lawinenverbauungen errichtet – die paar staubigen und lauten Meter habe ich aber schnell hinter mir. Verschiedene kleine Orte liegen zwar an der Strecke, um in die Ortskerne zu kommen, müsste ich aber Abstecher über steile Dorfstraßen machen. So hungere ich etwas vor mich hin. Ein Alternative besteht für Nicht-Asphaltfahrer in einem Radweg noch näher am Fluss. Der Verkehr auf der Straße ist aber gering und es macht keinen Sinn, diesen Weg zu benutzen, wenn man vorwärts kommen will.

Eine Wasserstelle vor einem kleinen Tunnel mausert sich als spontaner Radlertreff. Ein einheimischer Österreicher bedeutet einem Schweizer und mir, dass das Wasser einwandfrei ist, obwohl es als Nicht-Trinkwasser ausgewiesen wird. Er verrät uns aber eine besondere Wasserstelle hinter dem Tunnel, die von der Straße nicht direkt einsehbar ist. „Das Wasser kommt direkt aus dem Berg und hat Sommer wie Winter die gleiche Temperatur“, erklärt der Einheimische. Der Schweizer ist begeistert vom „Superwässerli“. Während der Österreicher davonfährt, bleibt der Schweizer (Bruno) in dem flachen Bereich bei mir. Er hat einen 8-Kilo-Rennrad und einen kleinen Rucksack mit einer etwas fragilen Konstruktion am Sattelrohr und ist etwa eine Woche auf dem Rad unterwegs.

In St. Jakob, ein empfehlenswert schöner Ort für einen Übernachtungsstopp bei Passauffahrt oder -abfahrt, stärken wir uns mit Kuchen und Capuccino. Bruno schwört allerdings auf Latte Macchiato und beklagt, dass guter Latte Macchiato nur in Italien zu bekommen ist. Die Österreicher und die Schweizer können das nicht – allerdings: seine Frau macht den besten. Leider ist Brunos Frau schwer krank und kann nicht mehr mitfahren. Und weil er ein kleines Geschäft mit Kunsthandwerk in Goldach am Bodensee zusammen mit seiner Frau betreibt, kann er sich nur gelegentlich mal kleine Touren leisten.

Am steiler werdenden Berg muss nun jeder seinen Rhythmus finden und Bruno fährt langsam davon. Ich gehe davon aus, dass wir uns nicht mehr wiedersehen. In der starken Mittagshitze fühle ich mich ziemlich schlapp, wohl habe ich auch bisher zu wenig gegessen. Immer wieder muss ich „Verschnauferli“ einlegen. An einer Kehre überlege ich, ob ich eine Pause mit kleinem Bergbachbad nehmen soll. Doch zwinge ich mich zur Disziplin, denn die Zeitachse drückt mal wieder. Dass ich heute noch Sterzing erreichen werde, scheint mir eher unwahrscheinlich, aber Brixen sollte es schon werden. Ich bewundere ein Rennradlerpaar, ganz in Blau, die im elegant-schwungvollen Takt auffahren. Man sieht zwar nicht so viele sportlich ambitionierte Frauen, aber die man sieht, sind enorm fit. Ein Sonderapplaus für die Radlerfrauen an dieser Stelle! Vielleicht finde ich ja auch mal die Richtige…

Nach den Kehren aus dem Nadelwald heraus meine ich zunächst, die Passhöhe zu erreichen, was aber nach Höhenmetern und Kilometern eigentlich nicht sein dürfte. Und es ist eine Weisheit in den Bergen: Es gibt keinen Meter geschenkt – weder der Länge nach noch in der Höhe. Und so ist der Knick nur ein scheinbarer. Tatsächlich streckt sich die Straße nun über eine offene Berglandschaft ohne nennenswerte Kurven nach oben. Die Bergwiesen sind wasserdurchflutet und leuchten in Gelb und Rot. Viele Wanderer erkunden hier die Pflanzenwelt, Skilifte wirken wie Fremdkörper in der sommerlichen Bergwelt. Noch ein Müsliriegel, der meinen langsam aufkommenden Hungerast aber auch nicht zu mildern weiß, noch eine kleine Zwischenkuppe und vor mir breitet sich der Obersee kurz unterhalb des Staller Sattels aus. Ein herrliches Blau, heller Stein, gegenüberliegend grüne Wiesen und ein Teppich von roten Alpenrosen prägen das Bild. Etliche Besucher erwandern den See, auf der anderen Seite, etwas abgelegen von der Straße, liegt ein Gasthof mit gut besuchter Restauration.



Überraschend sehe ich Bruno gerade den Weg vom See emporkommend. Er hat ein Bad genommen, was ich eigentlich auch gerne tun würde, füge mich aber meinem selbst gesetzten Zeitdiktat. Endlich auf der Passhöhe (kleiner Kiosk mit kleiner Gaststätte), fällt eine Besonderheit des Staller Sattels unter den Alpenpässen ins Auge: Eine Ampel ist zu jeder vollen Stunde jeweils für 15 Minuten frei geschaltet, danach folgen 45 Minuten Wartezeit, bis der Gegenverkehr die Passhöhe passiert hat. Die Straße ist derart eng, dass ein Gegenverkehr hohe Gefahren in sich bergen würde. Wir entscheiden uns schnell noch die Gelegenheit vor der Warteschleife zu nutzen. Die engen Kurven vermitteln enormen Fahrspaß, auch wenn ich manchmal hart anbremsen muss, und das Rad nur selten wirklich frei läuft. Der aufgelockerte Nadelwald ermöglicht immer wieder herrliche Blicke talwärts auf den Antholzer See. Dort angekommen, essen wir Bandnudeln mit Pilzen bzw. Spaghetti al Aglio in der Gaststätte gleich an der unteren Ampel. Schnell ist ein kleines Zeitpaket verplaudert.

Der Antholzer See ist von Tannenwald umgeben, Badestrand und Camping sind vorhanden. Die Luft ist jetzt sehr schwül und der Himmel beginnt sich zu bewölken. Es droht Gewitter. Wir fahren das Antholzer Tal hinunter, es geht in Schüben immer mal wieder mit stärkerem Gefälle, dann wieder mit Tretpassagen hinunter. Bruno, der eigentlich Richtung Toblach fahren wollte, entscheidet sich an der Kreuzung bei Niederrasen, weiter mit mir Richtung Sterzing zu fahren. Die Entscheidung fällt ihm leichter als er die schwarze Wolkenwand Richtung Osten erkennt. Aber auch nach Westen hin gibt es nur vage Aufhellungen und die Gewitterwolken mischen sich von allen Seiten auf.

Auf der nun extrem verkehrsreichen Straße im Pustertal versuchen wir Tempo zu fahren, doch der Wind stört zunehmend den Rhythmus. Es beginnt zu schauern und beim zweiten Platzregen muss eine Tankstelle als Unterstand herhalten. Auch Motorbiker warten erst einmal ab. Dann machen Wolkenlücken im Westen wieder Hoffnung. Wir fahren weiter, ich habe Mühe mit Brunos Tempo mitzuhalten – er nimmt aber immer wieder Tempo heraus. Selbst jetzt hätte Bruno Sterzing noch erreichen können, wenn er nicht auf mich Rücksicht genommen hätte.

In Bruneck verlassen wir die fahrradgesperrte Umgehungsstraße, versäumen aber auch direkt durch die Ortsmitte zu fahren wegen einer Baustelle. Schnell haben wir uns verfahren. Eine Radweg-Ausschilderung führt uns schließlich gänzlich in die Irre. Der offizielle Pusterradweg nimmt einen riesigen Umweg (und zusätzliche Höhenmeter). Nach einigem Hin und Her landen wir wieder auf der Hauptstraße, wo nun wieder Radfahrer erlaubt sind (wenn auch die Strecke nicht gerade angenehm ist). Es gehört zu den Wirrungen der Verkehrsplaner, dass durch die Sperrung der Umgehungsstraßen – ist auch in Deutschland zu beobachten, z.B. Rottweil am Neckar – der Transit-Radfahrer in die Irre geführt wird, weil es an alternativen Ausschilderungen fehlt und das Radfahrverbot ohnehin ein Farce ist, wenn man sich den Rest der verkehrsreichen Passagen mangels Alternative ohnehin aussetzen muss.

Der Wind frischt nun in Böen heftig auf, teils von vorne, teils aber auch gefährlich von der Seite. Mein Mund trocknet sofort nach jedem Schluck Wasser wieder aus. Bruno glaubt, ich könne in seinem Windschatten fahren – jedoch fällt meine Geschwindigkeit schon aufgrund meiner größeren Windfront sofort deutlich nach unten – noch weniger als am Berg kann ich hier mit Kraft etwas ausgleichen. Erschwerend sind auch die kleinen Minianstiege im welligen Verlauf der Strecke, denn sie verlangen bei einem solchen bepackten Rad sofort das Umschalten auf Berggänge, während der normale Rennradler schon mal aus dem Sattel gehend den Hubbel auf dem großen Blatt überspurten kann.

Kurz nach Mühlbach erreichen wir die Brennerstrecke. Aufgrund der Wetterlage möchte ich ohnehin nicht campen. Ein Umweg nach unten nach Brixen macht also keinen Sinn. Das Abendessen ruft und wir brauchen eine Unterkunft. Wir wollen es im nächsten Ort versuchen. Noch vor Franzensfeste erscheint ein Schild Richtung Aicha, was ich anfangs nicht für einen Ort, sondern für einen italienischen Automobilclub gehalten habe. Aber das etwas abseits von der Brennerroute gelegene Aicha erweist sich als Ruhepol mit einem netten Transithotel. Wir nehmen ein Zimmer, das für 28 € pro Person sehr ordentlich ist – tolles Bad, klasse Bettwäsche. Beim Essen müssen wir ein paar Abstriche machen, zum Sattwerden reicht es auf alle Fälle. Die Gewitterfronten haben sich verzogen und eine milchige Abendsonne stimmt romantisch. Zur Feier des Tages spendiert Bruno noch ein Extra-Fläschchen Wein. Mit einer Thüringer Busgruppe sitzen wir dann noch an der Bar. An den Witzen merkt man, dass zwischen Thüringern und Schweizern Welten liegen. Beim Schnaps muss ich dann doch Vorsicht walten lassen und verweigere mich einem weiteren Umtrunk. Die Bar ist halt kein Erholungsort für einen Radler.


So, 26.6. Aicha (770m) – Sterzing – Jaufenpass (2094m) – San Leonardo – Meran (325m) – Naturns (529m)
[101 km – 6:41 h – 15,0 km/h – 1562 Hm]

Die Nacht war ziemlich warm, der unruhige Schlaf erholt mich nur schlecht. Dies zeigt sich aber erst im späteren Tagesverlauf. Nach dem guten Frühstück machen sowohl der Busfahrer als auch Bruno noch eine „Gewichtsprobe“ meines Fahrrads. Bruno muss gleich das Gefährt ausprobieren und radelt probeweise bis zur Brennerstraße. Trotz seines Respekts gegenüber dem Gewicht findet er offenbar doch Gefallen an der Fahrkultur des Velos. Er meint, dass er sich das Radeln mit einem solchem Bike durchaus vorstellen kann. Viele Rennradler lehnen ein solches Velo als ungebührliches Folterwerkzeug ab. Übertreiben wir nicht: Dieses Rad lässt sich nach einer Gewöhnungsphase besser fahren als es optisch erscheint. Nicht nur rasante Abfahrten sind möglich, auch meine Geschwindigkeiten bergauf oder flach liegen nicht so dramatisch unter denen, die ich mit unbeladenem Velo erreiche. Es geht vielmehr darum zu akzeptieren, dass man etwas langsamer fährt als man eigentlich könnte – aber deswegen befindet man sich ja auf einer Reise und nicht in einem sportlichen Wettkampf. Trotzdem würde es mich auch mal reizen, wie die Vergleichswerte ausfallen würden, wenn ich ein Leichtrennrad wie dieses von Bruno auf den großen Etappen fahren würde.

Die Brennerstrecke ist mir bereits von einer Einwochentour (Como – Gardasee – München – Türkheim) 1 ½ Jahre zuvor bekannt. Damals war es aber Ende März und ca. 5° C, am Brenner sogar 0° C bei Schneegestöber. Mir ist im Nachhinein immer noch unklar, wie ich die damalige Tour mit Regen, Schnee und eiskaltem Nordwind durchgestanden habe. Jetzt ist es schönstes Sommerwetter, in dem das Eisacktal sich sehr anmutig präsentiert. Unter den wenigen Autos (der meiste Verkehr wird durch die Brennerautobahn abgeleitet) hupen einige, weil wir nebeneinander fahren. Die eigentlich leichte Route erschweren wir uns dann, indem wir dem Radweg folgen, der durch steile Minirampen nur mehr Zeit und Kraft kostet.

Eigentlich wäre jetzt noch keine Pause nötig, aber um Abschied zu nehmen, setzen wir uns noch in ein Café im schönen Sterzing. Im Blick liegt der markante Stadtturm am Ende einer pittoresken Häuserschlucht. Bruno nimmt schließlich Kurs auf den Brenner und ich beginne gleich nach der Stadtausfahrt mit dem Anstieg zum Jaufenpass. Unten liegt noch der Camping, der eigentlich mein Übernachtungsort des Vortages gewesen sein sollte. Die Straße windet sich eng in den Hang hinein und gewinnt schnell an Höhe. Soweit der dichte Tannenwald Ausblicke zulässt, schweift das Auge über ein weites Tal und die Gegenhänge nach Norden hin. Die Auffahrt zum Jaufenpass ist wohl eine der schattigsten Passauffahrten. Bereits im unteren Teil tue ich mich schwer. Nicht nur die Steigung, auch ein müdes und mattes Gefühl sorgen für mühsames Treten und übertrieben häufige Verschnaufpausen. Mein Magen fühlt sich wie aufgeschwemmt an, drückt gegen das Zwerchfell (wohl auch etwas zuviel Kaffee konsumiert), Atemprobleme sind die Folge.





Ein Weiteres entwickelt sich zur Zusatzbelastung: An diesem Sonntag fahren so viele Motorradfahrer den Berg hinauf wie an keinem anderen Pass und Tag dieser Tour und aller vergangenen Touren – nicht einmal in den Dolomiten gab es einen solchen Andrang, nicht auf der Nockalmstraße und am Großglockner vor zwei Jahren. Ein besonderer Anlass ist nicht erkennbar. Dazu kommen noch die nicht wenigen Autoausflügler. Lediglich Radler sind eher wenige unterwegs. Es sind weniger die Abgase als mehr das ständige Geknatter, was den Kurvenkorso so lästig macht.

In Calice lasse ich mich auf der Terrasse von einem Sporthotel zu einem Eis mit frischen Erdbeeren verlocken. Die Erdbeeren sind jedoch fast vereist und belasten meinen Magen mehr als dass sie mich aufbauen helfen. Ich könnte geradewegs über dem Eisbecher einschlafen – nur mit Mühe quäle ich mich zur Weiterfahrt. Wenig später pausiere ich nochmal an einem Waldweg, aber mir gelingt es nicht mich zu entspannen. Also beiße ich mich weiter durch und auf der unvermindert steilen Passstraße beginne ich dann doch die Müdigkeit etwas zu verdrängen. Der Tannenwald wird etwas lichter, ein Fahrweg führt zu einer Alm, die offenbar ein sehr beliebtes Ausflugsziel bildet – sogar eine Hochzeitsgesellschaft hat sich dahin aufgemacht, wie die vielen Autos mit Schleifenschmuck auf einem Parkplatz an der Straße verraten. Im letzten Teil (noch ca. 200 Hm) winden sich die Schleifen durch die offenen Bergwiesen, den Pass kann ich ins Auge fassen. Die Passhöhe ist ziemlich schmal mit einem engen Steindurchbruch, dennoch findet sich zu beiden Seiten je eine Gaststätte. Und zu beiden Seiten ergeben sich tolle Panoramablicke.

Nach Käsebrötchen, Kuchen und Capuccino folgt die Abfahrt auf der engen, stark kurvigen Straße. Einige Unebenheiten erfordern zusätzliche Aufmerksamkeit, die Bremsen werden stark beansprucht. Tief unten liegen San Leonardo und das Passertal, über dem die Serpentinen fast hinunterstürzen. In einer kuriosen Felsnische kann ich eine kurze Dusche nehmen. Nach San Leonardo fahre ich zum zweiten Mal durch das untere Passertal – und wieder über die Panoramastraße (nicht den Radweg) – und es ist auch beim zweiten Mal immer noch schön.

Der erste Eindruck von Meran bestätigt sich auch diesmal. Wieder fehlt aus einer Ausschilderung für Radfahrer. Den angeblich vorhandenen Vinschgau-Radweg entlang der Etsch kann ich nicht finden. Stadtausgangs steht sogar ein in falsche Richtung weisendes Schild an der Hauptverkehrstraße. Nur durch die eindeutige geografische Gesamtorientierung kann ich den Fehler entlarven. Der Verkehr ins Vinschgau ist extrem stark, es geht immerhin mit dem Reschenpass in Richtung eine der niedrigsten Alpentranversalen. Entgegen meiner Erwartung handelt es sich direkt nach Meran um einen ziemlich heftigen Anstieg und entsprechend unangenehm wirken hier die Autoabgase.

Nach dem kurzen Anstieg kann ich auf den Radweg wechseln, der nun flach neben der kanalisierten Etsch verläuft. Nunmehr drosselt ein zäher Gegenwind das Tempo, die Kehle trocknet schnell aus. Da ich wieder auf die Essenszeiten achten muss, endet meine Etappe bereits um halb Acht. Das ursprüngliche Planziel Prad wäre heute nicht mehr erreichbar und ein Weiterfahren bis Latsch würde mir keine wirklichen Vorteil bringen. Ich entscheide mich, den angesetzten Ruhetag von Prad – bevor es zu Stilfserjoch geht – zu einem Halbruhetag umzugestalten, also am nächsten Tag nur bis Prad zu fahren (mit einen Abstecher ins Martelltal), aber ohne einen zusätzlichen vollen Ruhetag. So bin ich wieder „in time“.

Der gartenartige kleine Camping nahe am Ortskern (es gibt in Naturns noch ein zweiten, etwas größeren auf der anderen Flussseite) verfügt über erstaunlich komfortable Sanitäranlagen (wie allerdings meistens in Österreich und Südtirol). Sehr saubere, zweiteilige Duschkabinen aus Plexiglas, sodass kein Spritzwasser auf Kleidungsstücke fällt. Manches Hotel könnte sich hier von funktioneller Nasszellenkonstruktion überzeugen. Tagsüber steht sogar ein Hallenbad mit Sauna zur Verfügung. Rätselhaft bleibt jedoch die nächtliche Dauerberieselung mit Schlagermusik. Warum werde ich als Klobesucher um 2 Uhr nachts akustischer Folter wie „Herzilein“ ausgesetzt?


Mo, 27.6. Naturns – Latsch – (Exkursion unteres Martelltal) – Prad (Halbruhetag)
[44 km – 3:17 h – 13,4 km/h – 491 Hm]

Mit der Aussicht auf einen lockeren Tag bemühe ich mich morgens erst gar nicht um ein höheres Tempo. Abseits der Straße schlängelt sich ein Radweg durch die Obst- und Weinberge. Das kleine Auf und Ab ist jedoch mühsamer als erwartet, auch geht es nicht mehr so flach weiter wie abends zuvor bei Naturns. Bereits früh einsetzende Hitze und ein austrocknender Gegenwind tun ein Übriges. Irgendwie verlangt der Körper schon nach einem Ruhetag.



Unter den Orten des Vinschgaus ist wohl Latsch der hübscheste. Am Ortseingang befindet sich mit Blick auf eine Seilbahn eine drahtige Weltkugel, die die Schüler einer Handwerksschule gefertigt haben. Im Ort genehmige ich mir geruhsam erst einmal einen Capuccino mit Croissant. Mit weiterer Marschverpflegung mache ich mich auf ins Martelltal, das bereits im unteren Teil stark ansteigt. Nach dem Ort Morter und einer Flussbaustelle sehe ich immer wieder die schäumenden Kaskaden des Plimabachs. In Stufen bildet er immer wieder badegeeignete Auswaschungen und Becken aus hellem Stein. Nur wenige Meter von der Straße entfernt verläuft ein steiniger und sandiger Fahrweg, der direkt neben dem Gebirgsbach verläuft. Von dort aus suche ich mir bald eine Badestelle, obwohl das Tal auch attraktiv wäre weiter zu fahren. Aber ich will ja ausspannen. Und so bleibe ich allein mit Sonne und prickelndem Gebirgswasser sowie einem herrlichem Blick über das Etschtal hinweg bis zum späteren Nachmittag.

Die kleine Abfahrt hinunter und zurück im Etschtal strebe ich wieder zäh gegen den giftigen Wind. Nach weiteren Obstplantagen nimmt die Route über den Radweg von Schlanders nach Lasa einen anderen Verlauf. Einige steile Rampen muss ich bewältigen, auch nicht immer asphaltiert, wobei meine Räder immer mal wieder durchdrehen. Eine hübsche Mountainbikerin überholt mich, durch die Schotterpassagen kann ich doch nicht mithalten. Die Etsch wird zum wilden Gebirgsfluss, der hier eine größere Höhe überwindet. Der Abschnitt ist zudem sehr schattig von Nadelwald umgeben. Dann folgt wieder ein eher ebener Verlauf von Lasa bis Prad, teilweise schnurgerade zwischen den Wiesen und der sedimentgrauen Etsch, dafür zehrt der Wind wieder stärker an den Kräften. Die Berghänge verlieren sich etwas in dem breiten Hochtal, nur Richtung Prad sehe ich, dass es dort „ernst“ wird. Der enge Taleinschnitt zum Trafoiertal lässt sich erahnen.

In einem kleinen Supermarkt in Prad besorge ich mir noch ein paar Müsliriegel als Sicherheitspolster für den morgigen Tag. Dann gibt es kurz vor Ladenschluss noch einen Stromausfall. Und ohne Strom keine Kasse. Da sieht man mal wieder, wie schnell die Zivilisation zusammenbrechen kann. Nun, hier sind es nur fünf Minuten des Stillstandes, doch nachdenklich macht das schon. Auch in Prad stehen zwei Campingplätze bereit, einer im Sportgelände Richtung Reschenpass und einer gleich im Ort als idealer Startort zum Stilfserjoch. Der Platz ist fast voll belegt, aber ich erkenne nur zwei (ältere) Rennradler – die meisten sind doch nur gewöhnliche Automobilisten. Der Platz ist sehr nobel mit Außenswimmingpool und Hallenbad ausgestattet. Auch die luxuriösen Sanitäranlagen finden sich wieder, die Nacht über gibt’s gleichfalls Dauerberieselung, diesmal allerdings internationale Schlager, z.B. der gehauchte Orgasmus-Klassiker „Je t’aime“. Zum Essen bleibe ich gleich im Camping-Restaurant – passabel, aber kulinarische Wunder werden hier auch nicht vollbracht. Den Abschluss bildet ein Eiskaffee in einem modern gestylten Eiscafé mit Bistro. Noch einmal Durchatmen unter dem stillen Nachthimmel für den ersten Königspass.


Di, 28.6. Prad (913m) – Stilfserjoch (2757m) – Bormio – Tirano (450m) – Li Curt/Poschiavo (1001m)
[105 km – 7:48 h – 13,3 km/h – 2395 Hm]

Am wieder schönen Sommertag sitze ich um 6:50 h auf dem Radl. Gleich beginnt der Anstieg ins Trafoier Tal, jedoch noch nicht mit den steilsten Abschnitten. So kann ich mich langsam in einen Rhythmus hineinfahren. Der fast auf Höhe der Straße fließende Suldenbach gebiert sich wild mit grauem Schmelzwasser. Nicht weit von Prad entfernt überrascht ein kurioses Haus eines Skulpturenkünstlers meinen Blick. Geweihe, Knochen- und Skelettmobiles zieren das Haus, buntbemalte Waldschrate und Gnome aus Stein stehen neben geradezu clownesken Marterpfählen. Das Makabre wirkt komödiantisch, die Geister der Unterwelt bitten zum fröhlichen Tanz – Partytime im Totenreich, die Geister lachen – über wen? – Über so verrückte Radler wie dieser, der gerade vorbeizieht?





Ich lasse die geheime Gedankenwelt des Künstlers hinter mir um mich wieder der faszinierenden Natur zuzuwenden. Noch ist das Tal dunkel, eng und ohne Weitblick. Zu meiner Rechten liegt steil im Berg der Ort Stilfs. Die reguläre Straße zum Ort zeigt aber erst später im kleinen Ort Gomagoi ab. Hier gäbe es einige Übernachtungsmöglichkeiten. Von Süden her sehe ich ein Reiseradlerpaar aus dem Suldental kommen. In Trafoi haben sie sich an mich herangepirscht. Es sind Schweizer, etwa meine Altersklasse, er wirkt wie ein verwegener Bergsteigertyp mit langen Haaren. Sie haben in Sulden (1907 m) übernachtet, weil es ihnen im Tal zu warm war. Sie wollen weiter über das Stilfserjoch wieder Richtung Schweiz in den Nationalpark im Bereich des Ofenpasses.

Ich selbst pausiere in einem kleinen Gasthaus für ein Frühstück, denn ich verspüre doch ein gewisses Hungergefühl nach den zwei mageren Müsliriegeln. Von einem Invaliden, der ehemals viel Sport getrieben hat und nur noch seiner wandernden Familie Bergheil wünscht, bekomme ich noch lobenden Zuspruch. Mit dem erholsamen Vortag und der nunmehr richtig dosierten Stärkung komme ich in einen guten Rhythmus, der mir zu einer positiv gestimmten Auffahrt verhilft. Insgesamt ist die Performance einer der besten unter meinen Passauffahrten auf der Tour. Obwohl ich sehr wohl mein Tempo dosiere und einige Verschnaufpausen einlege, kann ich doch ein vergleichsweise hohes Tempo halten, d.h. bleibe nahezu immer über 7 km/h, oft sogar bei 8 km/h.

Es sind mittlerweile etliche Rennradler unterwegs, darunter auch eine „Rennraddame“ von schier unvorstellbaren Maßen. Nicht allzu groß, aber dickwadige Stumpen und ein schwerer Kugelkörper wogt den Berg hinauf, im Superrhythmus mit zwei männlichen, sportlich gebauten Begleitern. Es ist verblüffend, welche Talente die Natur in manch unförmige Körper steckt, obwohl es doch den Gesetzen der Schwerkraft zu widerstreben scheint.



Mehr und mehr lichtet sich der Blick durch einen hellen Lärchenwald auf Berge und Gletscher, der schönste Abschnitt im Trafoiertal ist grandios. An der Franzenshöhe tritt die gesamte Bergwelt offen zutage, darunter auch der 3905m hohe Ortler, zu anderen Seite die Passhöhe – schon fast greifbar nahe und doch noch eine gute Ewigkeit. Von einer Arbeitsplattform abseits des Hotels transportiert ein Hubschrauber Paletten mit Baumaterial in die Berge – Lastentransport in den Bergen. Ich spreche mit einer Frau aus der Nähe meiner Heimat aus Bonn, die auf ihre trainierenden Velomänner wartet – familiärer Begleitservice eben. Ihre Rolle erfüllt sie aber gelassen und anerkennend für ihre Männer.

Der obere Teil ist sogar etwas leichter als der bewaldete untere Teil. Ich drossele mein Tempo sogar bewusst um nicht der Versuchung zu Erliegen zum Pass hin bereits alle Körner zu verbrauchen, denn der Tag hat noch einen ebenfalls schwierigen zweiten Teil. Auf der Passhöhe ist jede Menge Trubel. Radler, Biker, Autos, Sommerskifahrer – alles mischt sich zwischen zahlreichen Kiosken, mehren Restaurants und Hotels. Das Siegerfoto für 48 bewältige Kehren zum Himmelstor macht ein 1-Wochenradreisender aus dem Südschwarzwald. Er verweist auf die manchmal giftigeren Anstiege in dem deutschen Mittelgebirge – na ja, die langen Anstiege für die zähe Ausdauer gibt es so natürlich nur in den Alpen. Und landschaftlich ist das Hochgebirge eben die upper class – unschlagbar eben.



Der Hochsommertag erlaubt mir, auf 2760 m im Gaze-Shirt in der Sonne auf der Terrasse zu sitzen. Aus Belohnung für 48 Kehren Richtung Himmelstor leiste ich mir Rehpfeffer mit Polenta – allerdings ziemlich teuer auf dieser extrem kommerzialisierten Passhöhe. Noch eine Verbeugung vor dem Memorial zu Ehren Fausto Coppis – der größten Radsportlegende neben Eddy Merckx – und es folgt eine zunächst mäßige Abfahrt. Dann – oh Wunder! – ein Schweizer Zöllner mitten in der einsamen Bergwelt? – Die Grenze liegt hier nach Norden hin zum nur kurz entfernten Umbrailpass hin auf ca. 2500m – weiterführend Richtung Ofenpass. Der Zöllner macht den Anachronismus dieses Berufsstandes hier besonders deutlich – die Schweiz auch hier im Hochgebirge eine gut behütete Trutzburg inmitten Europas.



Von diesem Grenzpunkt aus wird der Blick ins Val del Bráulio frei. Im gleißenden Sonnenlicht liegen die weit geschwungenen Serpentinen am offenen Berghang. Weiter nach Süden zieht sich dann die Straße längs in die Ferne, in einer Reihe von Tunnels verschwindend. Jeder Meter nach unten öffnet hier neue Perspektiven. Auf ca. 2400m Höhe liegt eine romantische Unterkunft direkt neben einem Wasserfall, wo ausgeformte Becken fast wie Außenbadewannen des Berggasthofes wirken. Der Eindruck der Abfahrt ist überwältigend – die Freudentränen sind nicht mehr zu vermeiden. Die heiße Sommerluft umweht die Hautporen mit sinnlicher Kraft. Ein starker Gegenwind mit teils seitlichen Böen erfordert dabei ebenso höchste Konzentration wie die Hell-Dunkel-Wechsel bei Ein- und Ausfahrt der Galerien. Ich empfehle das Tempo zu drosseln, weil auch für erfahrene Radler nicht ungefährlich!

Obwohl es auf der Nordseite doch recht viel Verkehr gab, scheint mir die Südseite wie ausgestorben – es liegt wohl auch an der Mittagszeit. Mitleidig wanken und schwitzen sich etliche Rennradler den Berg hoch – manche haben apathisch entstellte Gesichter und sind des Grüßens und Schauens nicht mehr mächtig. Im tief gelegenen Bórmio habe ich Mitleid mit den Pflasterarbeitern an einer Straße – in brütender Hitze – da habe ich mit dem kühlenden Fahrtwind noch weit bessere Bedingungen. Von Bórmio aus gibt es eine Route über Livigno und drei 2000er-Pässe bis kurz unter der Südanfahrt zum Bernina-Pass. Auf die Weise verpasst man jedoch die durchaus attraktiven unteren Teile der mir nun vorliegenden Route.

Noch vor Valdisotto zweigt die Hauptroute als Kraftfahrtstraße durch viele Tunnels Richtung Tirano ab. Daher ist die Nebenstraße durch das Addatal angenehm zu fahren. Immer noch im Naturpark Stilfserjoch, genieße ich das idyllische Tal mit Birken-hellem Auenwald, einer quirligen Vogelwelt und den weit verzweigten Mäandern der Adda. Ein sehr schönes Ortsbild liefert Valdisotto-Cepina, mit Blick auf die Dächer und das Kirchlein liegt ein kühler Picknick-Platz mit Wasserstelle. Die Wasserversorgung ist in diesem unteren Teil durch viele Brunnen immerzu gesichert. Wer das Stilfserjoch von Süden aus angeht, sei der Ort als Ausgangsort empfohlen, Camping ist vorhanden und es ist ruhiger als im eher überlaufenen Bórmio.



Einen Badeplatz in diesem Teil an der Adda ist allerdings schwierig zu finden, einerseits weil die Straße teils zu weit oben verläuft, andererseits, will in dem Netz der Wasserläufe nur schwer sich mein Rad zum Fluss schieben lässt. Reine Fußgänger können da schon eher mal über ein Bächlein springen oder die Überstiege aus zwei Baumstämmen nutzen. Ich halte mich kurz an einem Nebenbach auf, es reicht, um gerade den Körper unterzutauchen. Doch bald verdeutliche ich mir nochmal das Restprogramm des Tages und erschrecke ein wenig, weil mir die restlichen Höhenmeter nicht wirklich bewusst sind. Vom 450 m tief gelegenen Tirano muss ich nochmal auf 1000 m klettern, um Poschiavo erreichen zu können.

Aber selbst die Fahrstrecke nach Tirano enthält noch einige kleine giftige Steigungen, bevor eine durchgehend flotte Fahrt möglich wird. Ich rase durch einige pittoreske Orte (Sóndalo, Grósio), die auch einen Übernachtungsaufenthalt rechtfertigen würden. Kurz vor Tirano vereinen sich beide Straßen wieder zu einer einzigen mit entsprechend viel Verkehr. Brütend heiß ist es in Tirano. Fast wie eine Großstadt wirkt das regionale Zentrum, breite Avenuen geleiten auf einen weithin sichtbaren Kirchenkuppelbau. Bereits im nordwestlichen Stadtbereich wirken sich die Schatten spendenden Berge auf die Temperatur aus. Doch was die etwas kühlere Luft an Schweiß einspart, fordert die nun gleich beginnende Steigung wieder heraus. Ungewöhnlich der Anblick der Bahn mitten in der Stadt: Die staksigen, urig-roten Züge der Rhätischen Bahn (zuweilen auch der exklusive Bernina-Express mit seinen verglasten Panoramawägen) fahren mitten auf der Straße wie eine Straßenbahn. Das Quietschen der Bremsen verrät bereits ein steiles Terrain, das die außergewöhnliche Ingenieursleistung dieser höchsten Bahntrasse Europas verdeutlicht.

Die Stadt ist bald hinter mir und ich überfahre die schweizerische Grenze (Zöllner kontrolliert Ausweis), die Sprache bleibt allerdings unverändert italienisch. Der Anstieg verläuft mit 5-8% nicht allzu steil, jedoch versuche das Tempo hochzuhalten um mein Etappenziel noch zu erreichen. Dabei schwitze ich Schweiß und Wasser. Ich muss bald das Tempo etwas drosseln, weil ich Gefahr laufe mich mit Blick auf den Folgetag übermäßig zu verausgaben. Neben mir taucht ab und an immer wieder die Bahntrasse auf. Die eindrücklichste Konstruktion ist dabei der Bahnkreisel bei Brúsio. Leider fährt gerade kein Bähnlein darüber und außerdem ist die optimale Fotoposition dafür abseits der Straße am östlichen Waldrand. Auf der Straße rasen einige Schweizer übermäßig und ungebührlich im fehlenden Respekt gegenüber Landschaft und Bergen. Überhaupt verführt der ziemlich geradlinige Verlauf der Berninapassstraße zu für die Berge untypischen hohen Geschwindigkeiten.

Bald lässt der Alltagsverkehr nach und ich erreiche Miralago mit der ruhenden Perle im Puschlavtal, dem Lago di Poschiavo, oft auch nur als Lago bezeichnet. An der Westseite verläuft Straße und Bahntrasse nur wenige Meter über dem See. Eine meditative Abendstimmung im angenehm milden Klimat hält mich gefangen. An der Nordseite liegt in La Brese ein wunderbarer Camping am See und ich hätte wohl diesem den Vorzug geben sollen. Aber ich entscheide mich, das noch kleine Flachstück bis Poschiavo zu radeln (welcher der eigentlich schönere Ort ist, aber eben ohne den See). In Li Curt etwa 2 Kilometer vor Poschiavo liegt ein Camping direkt neben der Fahrtstrecke. Für Nicht-Camper stehen auch einige Hotels und Bed & Breakfast-Gelegenheiten zur Verfügung zu durchaus noch günstigen Preisen. Durchaus teuer ist die Restauration, dafür erweist sich die Veltlin-Küche als kreativ und hochwertig.
Liebe Grüße! Ciao! Salut! Saludos! Greetings!
Matthias
Pedalgeist - Panorama für Radreisen, Landeskunde, Wegepoesie, offene Ohren & Begegnungen
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Große Alpentour der 2000er veloträumer 16.11.08 22:45
Re: Große Alpentour der 2000er veloträumer 16.11.08 23:01
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