Re: Große Alpentour der 2000er

von: veloträumer

Re: Große Alpentour der 2000er - 16.11.08 23:07

Teil 3: Die Westalpen

Do, 7.7. Zermatt – Visp – Sierre – Sion – Martigny (465m) – Sembrancher – Bourg St. Pierre (1632m)
[147 km – 9:12 h – 16,0 km/h – 1248 Hm]

Nach dem Frühstück mit dem Holländer, der Zermatt heute Morgen auch verlässt – mit dem Zug Richtung Grindelwald – starte ich um 8:20 Uhr bei kalter Witterung (lange Hose unverzichtbar), der Himmel ist bewölkt. Was die lang gestreckte Hinfahrt einfach machte, bedeutet für die Abfahrt vergleichsweise weniger berauschende Momente. Einige Flachpassagen und Gegenhügel ziehen die Talfahrt in die Länge.

Zurück im Rhonetal geht die Fahrt zunächst flott voran. Es ist zwar etwas milder, bleibt aber für die Jahreszeit deutlich zu kühl – und die Sonne bleibt wie fast den ganzen Tag versteckt. Teils benutze ich einen Radweg, der aber unabsehbar irgendwo im Ödland endet und in zahlreichen Zacken die Durchschnittsgeschwindigkeit deutlich drückt. An der Straße werden immer wieder frische Aprikosen zum Verkauf angeboten. Für die Verkäuferinnen empfinde ich schon Mitleid wegen der kühlen Temperaturen, kann ich mich doch noch etwas warm strampeln. Mit den Aprikosen werden hier überall köstliche Kuchen gebacken, finden aber auch noch sonst in der Küche häufige Verwendung.

Fast unscheinbar verläuft die Sprachgrenze zwischen Deutschschweiz und französischsprachiger Westschweiz. Ein Föhrenwald, der Pfynwald, überzieht einen kleinen, kaum spürbaren Hügel. Dann wirkt auf einmal alles Französisch. Doch weniger dürfte diese Grenze eine Wetterscheide sein. Vielmehr setzt mit fortschreitendem Tag im gesamten Schweizer Rhonetal der Wind ein. Und das drückt nun ab Sierre meine Geschwindigkeit von 24-28 km/h auf magere 18 km/h. In Sion stoße ich auf ein ebenso voll bepacktes Reiseradlerpaar aus Frankreich – sie sind um die 60 Jahre alt – und wollen noch über Furka und Gotthard – Bon Courage!

Ich fahre nun auf einer Nebenroute und bald auf einem Radweg ausschließlich auf der linken Rhoneseite. Es geht mitunter schnurgerade durch Obstplantagen – Birnen, Äpfel und immer wieder Aprikosen. Doch mit Radleridylle hat die Fahrt nun gar nichts mehr zu tun. Der Wind ist stürmisch, erreicht zuweilen Orkanstärke und ich muss gar ein paar Mal anhalten, um nicht vom Rad zu fliegen. Natürlich habe ich frontalen Gegenwind. Ich bewege mich nur noch mi13-15 km/h, der Tiefenrekord liegt bei 8 km/h. Es ist kaum möglich, eine passende Übersetzung für die Windfahrt zu finden – kaum habe ich hochgeschaltet, muss ich wieder runterschalten. Dass ein Rennradler an mir vorbeifliegt, frustriert mich noch mehr – spürt der denn gar nichts vom Wind? – Na ja, wie bereits bekannt bildet meine Rad auch eine große Windfront, die nun wie ein frontal aufgestelltes Brett gegen den Wind wirkt.

Mit viel Mühe erreiche ich Martigny, das trotz der bescheidenen Meereshöhe von 465 m fast in einer Wolkenhülle versinkt. Richtung Genfer See ist die Wetterlage ebenso schlecht, dass mir die bereits zwei Tage zuvor geplante Routenänderung leicht fällt. Nach einer Stärkung in einem Migros-Restaurant schlage ich den Weg zum Grand St. Bernard ein. Fast wie ein Wunder ist das Tal windfrei und sogar die Wolken lockern etwas auf. Das weit geschnittene, grüne Tal mit viel Mischwald steigt nur langsam an und ich bin nun bergauf schneller unterwegs als zuvor im Flachen gegen den Wind. Manche Passagen sind mit drei Spuren autobahnähnlich ausgebaut. Das lockt manche Raser und große LKWs an. Trotzdem überwiegt das angenehme Fahrgefühl.

Weiter oben bei Orsières treten mehr Wiesen hervor, es steigt stetig mit 6-8% an. Ich fahre einen guten Rhythmus, empfinde den Anstieg nicht sehr schwer. Auch die Blessuren durch die Wanderung des Vortages an den Kniebändern und in den Wadenmuskeln sind wie weggewischt. Welche Strecke hätte ich ohne diesen Wind heute bewältigen können? – Nochmal verändern sich die Wiesenhänge mit wie eingesteckten Bäumen, das Bergpanorama bleibt aber in den Wolken. Der Atemhauch bildet sich deutlich in der Luft ab, es ist jetzt sehr kalt, aber weiterhin windstill. Camping ist kein Thema, als ich auf gut 1600m den letzten Ort vor der Passhöhe erreiche, ideal für eine ruhige Nacht.

Der Ort liegt etwas unterhalb der Straße, ein Motel ist aber gleich an der Straße. Den Blickfang liefert der Kiosk gegenüber mit zwei überlebensgroßen Bernhardinern, jeweils unter einem Sonnenschirm. Logisch, dass im Umkreis der hier berühmt gewordenen vierbeinigen Lebensretter die Maskottchen in allen erdenklichen Variationen feilgeboten werden. Ein echter Bernhardiner hält sogar Wache am Motel. Das Thermometer am Motel/Hotel/Restaurant zeigt 8°C (!). Ich kann das Fahrrad gleich ebenerdig ins Zimmer schieben, sehr praktisch, und mit 60 Franken (40 €) ein fast untypisch niedriger Preis in der Schweiz (bei allerdings bescheidenem Komfort, es gäbe auch bessere Hotelzimmer im Haupthaus für etwas mehr). Es gibt ordentliches Essen und eigentlich fehlt hier nur der klare Blick auf das wohl attraktive verhüllte Bergpanorama.




Fr, 8.7. Bourg St. Pierre – Col du Grand St. Bernard (2469m) – Aosta (583m) – Cogne – Lillaz (1617m)
[82 km – 6:35 h – 12,4 km/h – 1905 Hm]

Nach dem Frühstück beginne ich die Tagesfahrt um 8:30 Uhr bei winterlichen 7°C. Wolken vernebeln immer noch die Bergspitzen, nur die unteren Berghänge sind wolkenfrei. Die großen Bernhardiner schauen recht freundlich, da will ich mal hoffen, dass auch die Sonne bald lacht, einen Sonnenschirm haben sie ja schon. Die Straße bis zum großen Bernhard-Tunnel verläuft nahezu vollständig in den halboffenen Galerien der Lawinenverbauung. Ohne den bereits am Morgen einsetzenden Schwerlastverkehr wäre selbst dieser Abschnitt ein schöner. Weil ich immer wieder Radlerpaare mit Kinderhänger oder Familien mit Kindern auf Rädern auch in den hohen Bergen sehe: Der Grand St. Bernard ist wegen seines starken Verkehrsaufkommens, insbesondere wegen der LKWs, für Kinder – egal ob auf dem Rad oder im Hänger – nicht geeignet. Da nutzt es wenig, wenn mit dem Abzweig des Tunnels endlich die ruhige Bergwelt dem Radler fast allein gehört. Für erfahrene Straßenfahrer ist aber auch das kein ernstes Problem, verkehrsarme Zeiten seien aber schon empfohlen.

Wenn der untere Teil des Passes eher einfacher zu bewältigen ist, beginnt mit dem Abzweig am Tunnel der durchgehend schwierige Teil der Auffahrt. Serpentinen durchziehen die offene Berglandschaft, Raubvögel gleiten am Morgenhimmel, der nun endlich die Sonne hervortreten lässt, Murmeltiere verschaffen sich Gehör. Die Kälte durchdringt aber immer noch Mark und Bein, ein biestiger Wind senkt die Fühltemperatur noch einmal. Eine Besonderheit des Grand St. Bernard sind die im Stil alter Stiche aufgestellten Tafeln, die einheitlich an Pfählen mit blechernen Napoleonhut-Schablonen die Geschichte von Napoleon Bonaparte, der mit einer Armee von 45.000 Soldaten einst die Alpen überquerte. So beschwerlich, wie der Weg damals samt schwerem Kriegsgerät gewesen ist, ist mein Aufstieg fürwahr nicht – nur ein wenig dieser Mühe kann ich nachfühlen. Doch ist diese Reise auf dem Velo ungleich schöner, kann ich doch die Natur vollends genießen und komme als friedlicher Kämpfer der Moderne.



Erst kurz vor der Passhöhe nach der letzten Kehre fällt das Hospiz plötzlich ins Auge. Es gibt ein Hotel/Restaurant und ein Restaurant/Bar sowie einige Kioske mehr – alle haben Bernhardiner aus Holz, Stoff und Plastik in verschiedensten Größen und Modellen. Die Mitbringsel für daheim gebliebene Stuttgarter sind Bernie als wedelnder Schlüsselanhänger und Bernie als bellender Schmusehund – wie ich später erfahre, wurde er „Cato“ getauft und avancierte zum Lieblingskosetier von einem Dreijährigen. Der Wind pfeift so kalt um die Ecken, dass ich erst mal mit einer Tasse Capuccino und etwas Kuchen mich aufwärmen muss. Die Suche nach lebendigen Bernhardinern beginne ich erst gar nicht, denn ich sehne mich nach Wärme. Irgendwo glaube ich Hundegebell vernommen zu haben. Noch mehr Souvenir-Bernies gibt es kurz unterhalb der Passhöhe beim See, wo die schweizerisch/italienische Grenze verläuft.

Mehrere Trikotschichten und meine dicke Regenjacke sollen mich bei der Abfahrt schützen, aber ich zittere mich trotzdem frierend nach unten. Eigentlich bräuchte ich Winterhandschuhe, eine dickere Winterhose, Winterstirnband und die rundum abschließende Winterbrille. Aber ich kann ja nicht alles auf einer solchen Sommertour mitnehmen. Doch schon bald erwärmt mich das blumenreiche San-Bernardino-Tal, das in Form und Vegetation dem Aostatal verwandt ist. Es leuchtet in Gelb, Weiß, Blau, Rosa und Grün. Bald spüre ich auch die aufkommende Wärme talwärts, wenngleich es nicht hochsommerlich wird. In St. Oyen kann ich endlich die lange Hose abstreifen und mich auf eine doppelte ärmellose Trikotlage umstellen. Es beginnt ein mehrtägiger, „fotoloser“ Abschnitt (mehr dazu im Kapitel zum Iseran). Die Region Aosta ist zweisprachig, doch scheint mir das Französische gegenüber dem Italienischen im Rückzug begriffen zu sein.

Aosta wirkt von oben wie eine Großstadt, weil einige wichtige Verkehrsachsen durch und über die Alpen hier zusammenfließen und ein Labyrinth von Umgehungs- und Einfallstraßen erzeugen. In der Stadtmitte erstreckt sich aber eine Fußgängerzone, sodass der Durchgangsverkehr zumindest für einen kleinen Bereich ferngehalten wird. Hinter den Turmbauten und pittoresken Fassaden taucht immer wieder das Alpenpanorama auf, was der Stadt eine besonders eindrucksvolle Silhouette aus Baukunst und Natur verleiht. Die Flaniermeile verkörpert Luxus mit Boutiquen, in denen es verführerische Kleider, ausgefallene Schuhe, hochwertige Lebensmittel und Restaurants mit edler Esskultur gibt. Das gilt auch für kleinere Bistros. In einem von diesen speise ich ein köstliches Panini – es gibt ferner ausgefallene Eisteesorten und Eis-Shake-Spezialitäten. In einer Patisserie erstehe ich Tegolas (chipsförmige Kekse mit feinem Aroma) und weitere Gepäckspezialitäten aus der Aosta-Region. Stadtauswärts suche ich noch einen Bikeshop auf, in dem ich eine Trägerhose und ein Paar Radhandschuhe kaufe. Beides habe ich aktuell nicht nötig, bewährt sich aber auf späteren Touren.

Immer wieder schieben sich Wolken über die Sonne, ein paar Tropfen fallen auch, es ist eher schwül-warm. Ich zweige in das Val di Cogne ab, das noch im Weinort Aymavilles, dem Eingangstor zum Tal, steil ansteigt. So führt die Straße zu Anfang lange Zeit über dem Fluss Grand Eyvia. Ein sehr heller Mischwald mit viel Birke verströmt den lieblichen, fast sanften Charakter dieser Alpenregion. Ich habe ähnliche Höhenmeter wie im Mattertal zu bewältigen, aber die Strecke ist eindeutig kürzer, entsprechend ist die Fahrt anstrengender. Der obere Teil ist dabei der leichtere. Viele Baustellen auf der Strecke stören etwas den anmutigen Eindruck des Gran Paradiso, wie der Nationalpark hier heißt. Das paradiesische Bild aus lichten Talwaldlagen und alpinen Gipfeln entfaltet sich besonders im oberen Teil mit den Seitentalöffnungen in Cogne und Lillaz.

Cogne ist ein schöner, umtriebiger Ort, geprägt von vielen Touristen, die sich meist wandernd in den leicht erkundbaren Nationalpark Gran Paradiso begeben. Ich fahre noch weiter bis in das kleine, weitaus ruhigere Lillaz, wo es zwei Campingplätze gibt. Hätte ich die reale Wetterentwicklung vorhergesehen, wäre ich wohl nicht in das Tal eingefahren und hätte schon gar nicht mich ins Zelt begeben. Aber an diesem Abend ist es noch heiter – nur ein bisschen kühl für die Alpensüdseite. Nachts ist es dann sogar richtig kalt. Der Camping hat schlechte sanitäre Anlagen. Umso besser ist das Essen in einem Hotel/Restaurant. Selbst hier in der entlegenen Provinz spüre ich im Service eine höhere Professionalität in den Restaurants als in vielen Teilen der Schweiz. Die Qualität des Essens ist ausgezeichnet. Auf den Speiseplan setze ich Polenta mit Käse, ein typisch regionales Gericht, eine gebackene Forelle – frisch aus den Gebirgsbächen und eine köstliche Schokocreme mit Tegolas.


Sa, 9.7. Lillaz – Cogne (1534m) – Valnontey (1666m) – Valmiana – Cogne – Lillaz (Ruhetag)
[18 km – 1:30 h – 11,7 km/h – 222 Hm]

Ursprünglich hatte ich für Lillaz einen halben Tag vorgesehen – Wanderung im Gran Paradiso und zu dem gleich hier vom Camping aus sichtbaren Wasserfall, der für seinen sehr schönen Strahl bekannt ist, mit zum Baden einladenden Ausformungen, mit schmucken Blumen, die herabhängen und leuchten und einer Vielzahl unterschiedlichster Blickwinkel auf die stürzenden Wässer, die so viel Schönheit erzeugen, dass kein Liebespaar auf die fotogene Erinnerung verzichten möchte. Durch die Routenänderung nach meinem Rückstand gegenüber meinem Plan mit dem Ausfall der Runde von Martigny zum Genfer See mit Rückfahrt über Forclaz-Pass habe ich jetzt einen halben Tag Vorsprung. Zum einen gelange ich mit einem vollen Ruhetag wieder in den Rhythmus, mit dem ich die Tour de France am Galibier abpassen will, zum anderen kann ich noch die Rest-Wehwehchen aus Zermatt vollständig auskurieren.

Doch was der Sommer selbst hier auf der Alpensüdseite bereithält, ist weniger als erholsam. Der Himmel ist dick bewölkt, für eine Regenprognose brauche ich keinen Meteorologen. Gravierender ist jedoch die kalte Witterung, ein ideales Rheumawetter. Der Wind bohrt jedes verfügbare Molekül dieser Kaltluft durch alle Kleiderlagen hindurch weiter hinein in die Hautporen bis sich der Körper schüttelt. Den Ruhetag abzubrechen scheint aber auch nicht verheißungsvoll, denn bei meinem Ausflug Richtung Cogne (ohne Gepäck) reicht die schlechte Wetterlage weit hinunter ins Tal, sehr leicht könnte ich in eine Regenabfahrt gelangen, nur die Temperatur könnte in Aosta etwas höher liegen. Ich entscheide mich zu bleiben und erkunde zunächst das Städtchen Cogne, in dem sich noch mehr Touristen um ihr Wanderwetter betrogen fühlen und erst mal in eine der Cafés flüchten. Eine Gepäckspezialität aus Cogne ist das Mécoulén, ein rundes Rosinenbrot mit dünner Glasur, im Geschmack dem Pannetone verwandt.

Eine Straße führt nach Valnontey mit Hotels und Campings am Ende der Strecke. Von dort an schirren leicht begehbare Wanderwege in den Nationalpark Gran Paradiso aus. Neben den Wegen erstrecken sich alpine Wiesen mit Steingeröll und kleinen Hainen. Der Fluss sprudelt friedlich ohne großes Gefälle vor sich hin. Die Berggipfel im Süden geben dem Ganzen ein malerisches Panorama – wenn denn nicht gerade die Wolken alles verhüllen. Der untere Teil ist auch noch bequem mit einem Straßenrad befahrbar. Das schlechte Wetter lässt mich aber vom tieferen Erkunden absehen. Ich mache einen Abstecher zu einer Käsealm, die im Direktverkauf würzig-herbe Käsesorten und Pannacotta mit Minzlikör (ein überraschend gelungener Gaumenkitzel) anbietet.

Noch bevor ich zum Camping in Lillaz zurückgekehrt bin, setzt der Regen ein, der zunächst drei Stunden anhält. Es gibt zwar einen kleinen Raum am Camping, in den man sich setzen kann, doch was macht man nach ein paar Postkarten schreiben noch? Nach Regenende nutze ich die Gelegenheit, den nahen Wasserfall noch zu erwandern, stets fröstelnd in Spätherbstkleidung. Von den Bergen kommen immer dunklere Wolkenschwaden ins Tal. Das Highlight ist dann das Aufwärmen beim Abendessen. Ich gehe in einen anderes Restaurant als tags zuvor. Dort kann ich zwar speisen, muss aber wegen vorbestellter Plätze recht schnell den Platz räumen. Ausgerechnet an diesem Abend. Bemerkenswert wie das Essen auch von Familien mit Kindern hier zelebriert wird. Irgendwie ist das eine andere Atmosphäre als in der Schweiz oder in Deutschland. Und Kinder müssen hier nicht immer still sitzen. Da ist einfach mehr Toleranz zu spüren als bei dem immer noch preußisch angehauchten Tischappell bei deutschen Familienessen.


So, 10.7. Lillaz – Aymavilles (670m) – Pré-St.-Didier – Col du Petit St. Bernard (2188m) – Bourg St. Maurice – Moûtiers – Albertville

[162 km – 9:31 h – 17,0 km/h – 1599 Hm]

Die ganze Nacht hat es geregnet, die Temperatur ist etwas erträglicher als tags zuvor. Obwohl ich bereits um 5:45 Uhr aufstehe, bin ich erst um 8 Uhr abfahrtsbereit. Ich habe enorme Probleme, bei andauerndem Nieselregen das Zelt trocken zu reiben. Das etwas ketzerische Fazit aus Cogne lautet: 1000 Höhenmeter für einen Tag Schüttelfrost.

Im Gegensatz zum Mattertal gestaltet sich die Abfahrt bis ins Aostatal durchgehend flott. Glücklicherweise liegen die Baustellen brach, weil Sonntag ist. Lediglich die Kälte verhindert ein ungetrübtes Abfahrtserlebnis. Immerhin kann ich mir nach Amayvilles für die folgende zunächst leichte Auffahrt die lange Hose auszuziehen. Einen kurzen Smalltalk führe ich vom Rad aus mit einem italienischen Rennradler, der über den Col di San Carlo fahren will. Das ist der Pass, der eine schwierige Extrarunde über knapp 2000 m ermöglicht, bevor man den Kleinen St. Bernhard angeht. Ich bleibe aber auf meiner geradlinigen Route der großen Pässe.

Bald blicke ich auf den Höhepunkt dieser Strecke – das Mont-Blanc-Massiv. Eine große, mächtig, das Tal fast erdrückende weiße Kulisse tut sich da auf. Der Mont Blanc ist jedoch ein unscheinbarer, weil wenig charakteristischer Kegel, der in der Form mit seinen Nachbarn beliebig austauschbar wäre. Nur kurz ist die Spitze wolkenfrei, während sich im unteren Teil die Wolken halten. Später umnebeln sie dann die Spitze, sodass ich nie einen ganz freien Blick auf den Berg werfen kann. In einem Bistro kurz vor den Abzweig bei Pré-St.-Didier nehme ich einen kleinen Snack und aufwärmenden Milchkaffee zu mir. Wenn die Sonne hervortritt, ist es zwar sofort warm, aber sobald Wolken aufziehen kühlt der Wind den Körper wieder aus.

Während die meisten Autos nach Norden Richtung Courmayeur und weiter durch den 11,5 km langen Mont-Blanc-Tunnel nach Chamonix abgeleitet werden, komme ich auf der Serpentinenstraße Richtung Kleinen St. Bernard gut voran. Der Himmel ist wieder dicht bewölkt, als ich die etwas gestreckte Passage bei la Thuile – den auf dem Weg zum Pass letzten, offenbar beliebten Wintersportort – durchquere. Nach dem Ort trete ich engagiert die nächsten Serpentinen hoch. Was ich zunächst als Passhöhe vermute, ist keine und entsprechend zäh winde ich mich dann über die wie eine karge Hochebene wirkende Reststrecke zum Pass. Bedrohlich drücken die Wolken von Nordost heran, ein Gewitterguss wäre bald denkbar. Ein bisschen fahre ich auch den Wolken davon und hoffe, schnell genug zu sein.

Auf der Passhöhe ist es zwar phasenweise sonnig, aber unangenehm windig und kalt. Die Hautporen haben keine Chance, sich den bohrenden Luftströmen zu verschließen. Es gibt die Möglichkeiten, eine letzte italienische Mahlzeit einzunehmen oder ein erste französische. Ich überfahre die Grenze und verspeise eine Crêpes bei den Franzosen – die meisten Gäste sitzen aber beim Italiener. Noch ein bewunderndes Lob von einer italienischen Wandergruppe und ich begebe mich auf die Abfahrt. Sie hat ein sehr mäßiges Gefälle und zieht sich in sehr langen Serpentinen an Wiesen- und Nadelwaldhängen ins Tal. Ein weiter Blick reicht in das Tal, wo man kleine Seen und die Bauanordnungen der Orte gut aus der Vogelperspektive wahrnehmen kann. Trotz des aufgelockerten Himmels gibt es auch hier in Frankreich offenbar keinen richtigen Hochsommer. Bald habe ich das charmante Seez und dann das fast zu betriebsame Bourg St. Maurice erreicht, mein eigentliches Etappenziel. Die Dichte von Rennnradfahrern nimmt hier deutlich zu und viele der Touristen sind nicht zuletzt wegen der Tour de France hier, die zwei Tage später in der Nähe bei Corchevel einer Bergankunft zu verzeichnen hat.

Ich bin viel zu früh für ein Etappenende und kann noch eine wesentliche Strecke angehen. Da an der Auffahrt zum Cormet de Roselend keine Orte gelegen sind und es wohl keine Unterkunft in absehbarer Entfernung gibt, drehe ich die geplante Runde um in eine Schleife im Uhrzeigersinn und fahre weiter das Tal abwärts über Moûtiers. Ein kleiner Regenschauer weicht wieder schnell einer sonnigen Phase, die jetzt in der Tallage auch gute Wärme zu verbreiten mag. Die Landschaft bis Moûtiers hat mit den gegenüberliegenden Waldhängen, mal einer kleinen Burg und dem Blick auf die von Kanuten genutzte Isère einen recht lieblichen Charakter. Allerdings verhindert der extrem starke Verkehr einen ungetrübten Genuss. Die Strecke verläuft außerdem in verschiedenen Auf-und-Ab-Wellen etwas zäh nach unten. Der Verkehr und ein ca. 1,6 km langer Tunnel mit Gefälle würde die Fahrt in umgekehrter Richtung trotz separater Fahrradspur sehr unangenehm machen.

In Moûtiers habe ich noch genügend Zeit, um Albertville zu erreichen. Es ist zunächst etwas schwierig die passende Straße zu finden, weil alle Hinweise Richtung Albertville auf die nun beginnende Kraftfahrtstraße weisen, für die Fahrräder nicht zugelassen sind. Das folgende Tal ist zunächst sehr eng geschnitten und einige Industrieanlagen sorgen für unangenehme Gerüche. Zudem ziehen immer mehr dunkle Wolken auf, die eine ziemlich triste Atmosphäre schaffen. Am Abzweig zum Col de la Madeleine muss ich mich etwas durchfragen, wo es weitergeht. Dabei stoße ich auf einen jungen Deutschen, der auch mit Zelt, aber auch mit Kocher ziemlich unbekümmert mit nicht ganz professioneller Ausstattung auf dem Weg von Norden zum Mittelmeer ist. In St. Tropez möchte er dann im Ferienhaus der Eltern ausspannen. Er sucht gerade einen wilden Zeltplatz, weil er sich angeblich keine Ausgaben für Camping oder gar Hotel leisten kann. Das Essen besteht bei ihm aus Dosenravioli und Tütensuppen. „Wenig Frankreich in Frankreich“, sage ich mir, so spart der Deutsche sich ins Asketische. Wir verabschieden uns mit der Perspektive, uns bei der Tour de France am Galibier wiederzutreffen – daraus wird aber nichts, entweder weil es dann zu viel Leute am Tourtag wurden oder weil er es doch nicht rechtzeitig geschafft hat.

Dann kommt es für mich (wohl auch für ihn) zum kleinen Desaster. Es schüttet kübelweise von oben bei Feissons-s-Isère und ich habe etwas Glück im Unglück, dass ich gleich ein Bushaltestellenhäuschen als Unterstand finde. So bleibe ich zwar trocken, doch gähne ich eine ganze Stunde vor mich hin – nichts als wild prasselnde Wassermassen, die auf dem Asphalt wie vom Teufel gestochen tanzen. Ein Hotel wäre nicht in der Nähe und schon befürchte ich, gar in dem Häuschen übernachten zu müssen. Doch dann endet der Wolkenbruch plötzlich und ich kann nun auf flacher Strecke wieder Fahrt aufnehmen. Ein Hotel in la Buthie ist geschlossen, es bleibt nur das Durchfahren bis Albertville. Dort ist es zwar schon dunkel, aber von den Regenwolken ist nur wenig zu sehen und es war hier sogar die ganze Zeit trocken und recht warm. Die Isère vollzieht hier einen scharfen Knick und folglich liegt hier ein anderes Tal mit anderem Mikroklima.

Ich fühle mich ermutigt, trotz der Wetterkapriolen den Campingplatz zu suchen, auch weil ich bei der Fahrt in und durch die Stadt keine Hotels ausmachen kann. Die jung und modern wirkende, breit angelegte Neustadt (erst 1845 gegründet) ist wenig reizvoll, sogar die Restaurants haben jetzt gegen 21:45 Uhr bereits geschlossen. Für eine Ex-Olympiastadt (1992) ein wenig rätselhaft. Ganz in der Nähe des Campings, aber noch unterhalb der Altstadt, finde ich ein noch geöffnetes indisches Restaurant (wie oft haben mich auf meinen Touren schon die späten Schließzeiten der Asiaten retten müssen?!). Das Essen ist vorzüglich – und ein laut lachendes Liebespaar sorgt für einen komischen Kontrast zum meditativen Ambiente. Die Nacht – oh Wunder! – bleibt trocken. Versöhnliches Ende für die längste Etappe meiner Tour.


Mo, 11.7. Albertville (350m) – Venthon – Beaufort – Col de Méraillet (1605m) – Cormet de Roselend (1967m) – Bourg St. Maurice (840m) – Tignes-les-Brevières (1568m)
[84 km – 6:48 h – 12,3 km/h – 2451 Hm]

Die folgende Schleife über einen Fast- aber Doch-eben-nicht-2000er habe ich eingeplant, um mich zeitlich optimal an den Galibier heranzupirschen und dort auf dem Dach der der Tour de France einmal dem ganzen Treiben beizuwohnen. Im Jahr zuvor bin ich zwar bewusst der Tour im französischen Cantal entgegengefahren, habe aber im Etappenort St. Flour das Finale verpasst, weil zu spät, und den Start am nächsten Tag nicht mehr abgewartet, weil auch zu spät für meine Planung. Außerdem entfaltet sich die Faszination über die Tour erst durch die französische Radsportbegeisterung auf dem Lande bzw. an der Strecke. Im Nachhinein hat sich die Runde in jedem Fall auch landschaftlich gelohnt und die Tourbegeisterung sollte ich schon heute einfangen können.

Zunächst winde ich mich aber die kurze steile Rampe in die kleine Altstadt Conflans hinauf. Die Häuser hinter den Stadttoren sind noch vollständig erhalten, einige wurden bereits im 15. Jahrhundert erbaut. Jeder Beruf hat hier ein kunstvoll gestalltetes Signet oder Schild, das meist geschmiedete Figuren oder Symbole enthält. Überbordende Blumen schmücken die herausgeputzten Fassaden, hinter denen kleine (Kunst-)Handwerksberufe, Händler oder am Platz im Zentrum Restaurantbetreiber ihrer Tätigkeit nachgehen. In jedem Fall hätte es sich bei früherer Ankunft am Abend gelohnt, hier auf dem Hügel in dem pittoresk-romantischen Ambiente zu speisen. Eine besondere Kuriosität ist das Maison Rouge mit seiner ganz roten Fassade, hinter der sich ein Heimatmuseum verbirgt. Dahinter gibt es einen Garten, von dem man tolle Panoramablicke sowohl nach Süden wie auch nach Norden erhaschen kann. Die noch tief stehende Morgensonne sorgt für kurzweilige ungewöhnliche Lichtbrechungen zwischen den Gewächsen und den schmalen Häuserfluchten.

Da ich nun schon einmal den kleinen Berg hochgefahren bin, wähle ich auch gleich eine enge lokale Nebenstraße auf der Höhe, die in der Karte nicht vollständig ausgewiesen ist. Nach ein paar Villen mit Talblick auf Albertville geht es in leichtem Auf-und-Ab an landwirtschaftlich genutzten Wiesen, kleinen Wäldchen und ein paar Kleinstsiedlungen vorbei bis Venthon. Dort setze ich mich in die Morgensonne, um mit einem Kaffee mich fit zu machen für den bevorstehenden Anstieg. Ich sehe einen im schweren Tritt wiegenden Rennradler, der kleines Gepäck montiert hat, vorbeifahren. Zurück auf der Strecke, habe ich ihn bald eingeholt. Er heißt Yoko und kommt aus Finnland – nicht gerade das klassische Land für radelnde Bergfahrer. Wir plaudern auf Englisch ein gutes Stück miteinander, hin und wieder warte ich, bis er herangefahren ist. Bis Beaufort liegen die Steigungswerte zwischen 4-7%, Yoko meint aber, dass es schon 10-14% seien. Ich ahne schon, dass er noch viel quälende Arbeit an diesem Tag zu bewältigen hat. In diesem Teil wechseln schattige Mischwaldpassagen mit kleinen Auen. Tauperlen auf den Blättern glitzern, die Sonnenstrahlen funkeln in dem leicht plätschernden Wasser des kleinen Flusses. Auch bei hoch stehender Mittagssonne dürfte es hier sehr angenehm zu radeln sein, weil das dichte Blattwerk das Tal feucht und kühl hält.

Beaufort ist ein kleiner, quirliger Ort, in dem sowohl Winter- wie Sommertouristen Station machen. Berühmt ist Beaufort für seinen gleichnamigen, schmackhaften Hart- und Schnittkäse, von dem ich in Form eines Sandwiches koste. Nun folgt ein steilerer Teil, der in Kehren durch überwiegend Nadelwald nach oben strebt. Yoko bleibt bald deutlich zurück, sodass ich nun in meinem Rhythmus weiterfahre. Immer mehr Radrennfahrer überholen mich und bald stehen an den engen Straßerändern überall Wohnmobile und Zelte – nicht wenige sind Deutsche. Sie sind die Vorboten der Tour. Neben den Bannern für T-Mobile, Cofidis, Banesto, Credite Agricole etc. campieren und picknicken die Fans. Jan Ullrich, Ivan Basso, Rasmussen, Moreau – Armstrong ist seltener zu lesen (er soll ja nicht so beliebt sein) – pranken als Kreideschriftzüge auf der Straße. Ein Vorabkommando der Tour verteilt gelbe Abfallsäcke und Absperrgitter an der Strecke. Ich weiß nichts über den Stand der Tour, weiß auch gerade nicht mehr genau, wo und wann noch vor der Galibier-Etappe gefahren wird. Ich frage nach und erfahre, dass die Tour heute Ruhetag hat und die Etappe über den Roselend mit anschließender Bergankunft in Corchevel erst morgen ansteht. Umso erstaunlicher sind die Zuschauermassen, die bereits heute die Passstraße bevölkern. Als schwer beladener Tourbiker steche ich aus der Masse der Rennradler heraus und bekomme entsprechend viel Zuspruch und Anfeuerung von der Fankulisse. Das wirkt sich immer wieder positiv aus, ich fühle mich in diesen Momenten psychisch stärker und das Quälende der Auffahrt weicht einem kleinen Siegergefühl. Ich mache weniger Verschnaufpausen und beiße mich besser durch. Wahrscheinlich fahre ich auch etwas schneller als ohne Menschenkulisse.

Der Col de Méraillet ist ein Zwischenpass, von dem nur eine kleine Abfahrt zum Roselend-Stausee herunterführt. Eine unauffällige, aber schwierige und längere Nebenroute mündet hier ein – ebenfalls von Beaufort ausgehend. Ein größerer Parkplatz ist voll mit Autos und Wohnmobilen belegt. Ein paar an der Kurve über dem See verteilte Restaurantbetriebe haben regen Zulauf – Velofahrer, Motorbiker und all die Tourfans genießen die Aussicht auf das Farbenspiel des Blaus von der Seeoberfläche. Ein Badeabstecher zum Seeufer ist möglich, aber mit einem weiteren Abstieg von der Straße verbunden. Die Sonne wird mittlerweile immer wieder von Wolken verdeckt, sodass ich auf den Sprung ins Wasser verzichte. Nach der Straßenmulde bei der Brücke steigen weithin sichtbare Kehren wieder den Berg herauf, der fast als Wand erscheint. Die Steigung ist aber mit ca. 8% geringer als zuvor. Weiter oben windet sich die Straße über kurzgrasige Alpenwiesen, die von Steinen und Steinblöcken eigenartig übersät sind.

Nochmal ein Bistro, massenhaft Tourfans und endlich gelange ich zur Passhöhe des Cormet de Roselend. Zahlreiche Radler scharen sich um das Passschild. Darunter ist auch eine große Gruppe von Trek Travel Tour, die Rennradtouren, wohl auch auf den Strecken der Tour de France organisieren. Darunter befinden sich verschiedenste Nationalitäten, auch Deutsche, aber insbesondere Engländer, Männer wie Frauen, Schwache und Starke. Sie verteilen sich in großen Abständen auf die ganze Bergstrecke, einige habe ich sogar schiebend gesehen, andere sind mir förmlich davongezischt. Es gibt hier kein Haus, nur zwei Verkaufsstände versuchen Süßigkeiten, Käse, Oliven und Postkarten an Mann und Frau zu bringen – leider erhalte ich keinen Passaufkleber. Wer was Essen will, muss die Gelegenheiten zuvor nutzen. Ich komme mit einem Alpen-erfahrenen bayrischen Radler-Trio ins Gespräch (eine Dame und zwei Herren), die etwa mit mir zusammen den Pass erreicht haben. Sie haben ihr Gepäck und Auto in Albertville stationiert und unternehmen von dort aus Stichtouren. Wir plaudern über Alpenpässe, Marathon-laufende Kinder und die Mängel von deutschen Radwegen. Die kalt-windige Witterung treibt uns schließlich auseinander, die Bayern wieder zurück, ich nach Bourg St. Maurice runter.

Die Abfahrt ist auffällig ruhig, kaum Radler und Autos. Im oberen Teil finden sich schöne Flusskaskaden nebst schönen Bergwiesen. Ein paar Wolkenlücken verleiten mich schließlich zu einer Badepause, die jedoch wenig Sinn macht, weil es sofort wieder kühl wird, wenn die Sonne von Wolken verdeckt wird. Ich will die Gelegenheit nutzen einige verschwitzte Sachen im Flusswasser auszuwaschen. Ich binde eine feuchte Trägerhose über den hinteren Taschen fest. Während der Fahrt kann ich so i.d.R. Sachen trocknen. Diesmal aber geht die Sache schief. Die Träger der Hose rutschen herunter und flattern in die Speichen, ohne dass ich das merke. Eine Autofahrerin macht mich aufmerksam. Zwar sind die Träger nun schwarz geworden, ich kann mich aber glücklich schätzen, dass sie sich nicht gänzlich in den Speichen verfangen haben – das hätte gefährlich werden können. Während ich mich über meine Fahrlässigkeit ärgere (die neue Hose konnte ich später wieder sauber bekommen) – kommt der Tourenradler, der etwas weniger Gepäck als ich dabei hat und den ich zuvor bei der Abfahrt grüßend überholt hatte, heran. Er ist Holländer – schon wieder keine „Bergnation“ – und ich flachse mit ihm etwas über die Dutch Mountains, die ja so wunderbar von der Popgruppe The Nits („In The Dutch Mountains“, 1987 auf CBS) besungen wurden. Einen flacheren Teil fahren wir zusammen, soweit es steiler nach unten geht, rausche ich wieder davon.

In Bourg St. Maurice pausiere ich für einen kleinen Snack in einem Bistro, wo noch zahlreiche andere Radler sich Bier, Sandwich oder Omelett schmecken lassen. Der Holländer fährt noch mal grüßend vorbei. Hier unten ist es wieder schwül-heiß, aber der Himmel verheißt alles andere als stabile Witterung. Wenig weiter in Seez sind die Wolken Richtung Iseran tief schwarz. Ich kaufe Toilettenpapier – üblicherweise gibt es das auf den wenigsten französischen Campingplätzen und on the road brauche ich es auch schon mal. Ich bekomme aber nur diese Multipacks, benötige aber nur zwei Rollen. Ein weiterer Reisradler, ebenfalls mit etwas weniger Gepäck, versorgt sich auch gerade aus dem kleinen Supermarkt. Ich biete ihm schließlich das restliche Klopapier an. Er ist auch Deutscher, kennt das Problem mit der wichtigsten Rolle der Welt. Aber er hat keinen Bedarf und so stelle ich den Rest auf einen Abfalleimer.

Der Radler aus Karlsruhe heißt Joe, kam vom Kleinen St. Bernard und ist von seinen zwei badischen Partnern abgehängt worden. Per SMS erfährt er, dass die beiden kurz vor Tignes in einem Tunnel einem heftigen Gewitterschauer trotzen und eine Unterkunft ausgemacht haben, Pizzeria liege gegenüber. Joe soll nachkommen. Das sagt sich leicht, denn d.h. wie auch für mich in die Front hinein zu fahren, und das bergauf. Joe fühlt sich gezwungen loszufahren und ich mache mit. Die Taleinfahrt hat zunächst unerwartet Gefälle. Erste Tropfen prasseln herunter und spätestens bei der ortsfern liegenden Jugendherberge hätte ich jetzt allein fahrend die Etappe abgebrochen. Jetzt nässt es schon heftiger, endlich finden wir einen Balkonunterstand, um uns Regenklamotten überzuziehen. Im Gegensatz zu Joe kann ich mich nicht komplett abriegeln, ich habe eigentlich nur eine Regenjacke, die zwar atmungsaktiv ist, aber nicht ewig durchhält. Für die Schuhe habe ich keinen Schutz, die Beine sind auch ohne Regenschutz kein Problem. Wir fahren bei mäßigem Regen weiter und unser Mut wird belohnt. Bereits in den ersten Kehren bergauf können wir uns der Regenkleidung entledigen und bleiben – wenn auch bei tristem Himmel – trocken.

Während mir Joe in der Ebene fast weggefahren wäre, ist er am Berg doch deutlich langsamer. Das hatte er mir aber schon vorher gesagt. Denn seine Kompagnons hängen ihn als sehr gute Bergfahrer stets deutlich ab – der eine sei ein Fast-Profi, der andere eine tierische Kämpfernatur, er selbst kommt zwar die Berge immer hoch, aber eben nur sehr langsam. Trotz des miesen Wetters habe ich einen guten Rhythmus, warte aber immer in gewissen Abständen auf Joe. Die Strecke eröffnet immer wieder schöne Blicke auf kleine Bergdörfer. Es herrscht allerdings recht starker Verkehr, auch viele LKWs befahren zumindest bis Val d’Isere den Weg. In Ste. Foy zeige ich Joe, wo die Abkürzung vom Kleinen St. Bernard einmündet. Er hätte auf diesem Wege seinen Kollegen ein Schnippchen schlagen und etliche Höhenmeter einsparen können. Doch man muss das vorher wissen, denn die abzweigende Strecke ist sowohl auf der Karte als auch auf der Abfahrt nur schwer zu erkennen. Da ich den Umweg über den Roselend gewählt habe, konnte ich die Abkürzung allerdings nicht nutzen, obwohl sie mir aus dem Radreiseführer bekannt war.

Fast bedrohlich unterhalb der Staumauer vom Lac du Chevril liegt Tignes-les-Brevièrs, ein kleiner, stiller Ort mit nur wenigen Häusern, der nichts mit den weit oberhalb sichtbaren Betonburgen des begehrten Wintersportortes Tignes gemein hat. Ich könnte es noch bis Val d’Isère schaffen, das nicht mehr weit in Kilometern und Höhenmetern entfernt ist. Ich schließe mich aber der Wahl der Badener an, und fahre den kleinen Abzweig mit Joe hinunter. Entgegen der SMS-Angaben ist es kein Camping (beim dem Wetter zum Glück), sondern eine schlichte Festunterkunft. Pro Person kostet es 20 € (ohne Frühstück), ich habe ein Zimmer, Fernseher und Bergblick inklusive, die drei Badener drängen sich etwas eng in einem Zimmer.

Etwas überrascht bin ich, dass sie ihr eigenes Essen (Tütensuppen und Nudeln) anrichten wollen. Keiner will nicht mal auf einen Drink in das gegenübergelegene Restaurant mitkommen. So speise ich allein ein köstliches Menü (sogar eines der besten auf der Tour). Salat mit warmen Schafskäse, mit Honig gebratene Entenbrust an Orangensauce, begleitet von Gratin Dauphinois sowie ein kleiner Nachtisch versüßen den Tagesausklang. Als ich am nächsten Morgen den drei Badenern vom Abendmahl berichte, sind sie zwar angetan, können aber nicht nachvollziehen, dass ich für ein Essen 40 € auslege. Sie sind alle drei EDV-Leute und verdienen sicherlich wesentlich mehr als ich. Mein Beispiel, dass ich schon mal absurde 1200 € für einen kaum sichtbaren Kratzer an einem Auto (eines Unfallgegners) bezahlt habe, finden sie wiederum eine durchaus angemessene Ausgabe, die sie auch fürs eigene Auto freiwillig hergeben würden. Da frage ich mich, ob es typisch Deutsch ist, nicht Genießen zu können oder zu wollen. Statistisch geben der Franzose und Italiener das Doppelte für Essen und Trinken aus wie der Deutsche. Wo liegt da der Sinn für Lebensqualität? – Dass sich die Badener auch noch über den Preis für das Zimmer beklagen, setzt der Geizmentalität die Krönung auf.

Verwöhnst du den Gaumen,
hebt sich die Laune.
Sparst du an Mahlzeit und Trank,
wird die Seele mürbe und krank!


Di, 12.7. Tignes-les-Brevières – Val d'Isère – Col de l'Iseran (2764m) – Bessans – Modane – Orelle – St. Michel-de-Maurienne
[113 km – 7:04 h – 15,8 km/h – 1407 Hm]

Gegen 7:20 Uhr satteln wir gemeinsam auf, aber kaum haben wir die Hauptstraße wieder erreicht, ziehen die beiden Cracks von dannen. Joe ist bald wieder der Letzte, kommt aber an der Baustellenampel am Ende des Sees wieder an mich heran. In der klaren Morgensonne beeindruckt das Bergpanorama am See besonders. Nach einer kleinen Schlucht mit Tunnel öffnet sich das Tal in Val d’Isère. Der Ort wirkt trotz der etwas künstlich alpin stilisierten Holzbauweisen in skitouristisch massierter Dichte doch recht hübsch. Auch hier scheint der Sommertourismus nur ein Nebengeschäft zu sein, etliche Ferienwohnungen und Hotels sind nicht besetzt bzw. geschlossen. Wir nehmen, jetzt wieder zu viert, ein kleines Stehfrühstück an der Straße ein. Dabei gelangen weitere Sticheleien unter den drei Badenern zur Debatte. Irgendwie scheint mir Joe nicht zu den beiden anderen zu passen.

Die zwei Cracks besuchen noch ein Radfahrgeschäft, ich fahre mit Joe eine Nebenstraße zum Campingplatz, wo ihm die Campingwärterin als Nicht-Campinggast den WC-Zutritt verweigert. Sodann halten wir noch mal an einer kleinen Brücke, wo ich schicksalhaft noch ein Foto von der fantastischen Bergkulisse mache, die im klaren, gleißenden Sonnenlicht eine fast hypnotisierende Aura ausstrahlt. Mittlerweile sind die beiden Cracks vorbeigefahren, haben uns aber nicht bemerkt und glauben daher die ganze Auffahrt zum Iseran, dass wir „davongeflogen“ sind. Überraschend stoße ich in einer Kehre auf den Holländer vom Vortag, der gerade einen selbst gekochten Kaffee trinkt. Er lädt mich zu einer Kaffeepause ein. Um 6 Uhr ist er bereits in Bourg St. Maurice gestartet, daher konnte er schon vor uns hier am Berg sein. Ich erfahre, dass er Sambamusik spielt und auch schon in Brasilien war. Daraus erklärt sich sein originelles Brasilien-Radtrikot. Er kommt besser den Berg hoch als runter, bergauf könnte er durchaus mit den Badener Cracks mithalten. Er ist aber Genießer und fährt zunächst ein Stück mit Joe. Dabei bemerkt er auch, wie unkollegial sich die drei Badener untereinander verhalten. Obwohl also auch der Holländer mir wegfahren kann, bin ich mit meinem Rhythmus sehr zufrieden und bescheinige mir selbst ein hohes Bergtempo. Es scheint so, als würde ich die ganz großen Pässe am besten bewältigen, andererseits sind einige der „kleineren“ Pässe tatsächlich in den Steigungsgraden schwieriger.

Noch lange bleibt der Blick zur Talseite auf Val d’Isère und den See erhalten. Am Horizont leuchten pyramidenartige weiße Gipfel am Horizont. Den Schrei der Greife folgen die Warnsignale der Marmottes, wie die Murmeltiere in Frankreich heißen. Es ist alles angerichtet für einen Höhepunkt der Tour. Dann erreiche ich die Passhöhe, geschafft, der höchste „echte“ Alpenpass, 2764 m, zuweilen auch mit 2770 m angegeben. Aber, oh Schreck – meine Kamera ist weg! Ich habe sie vergessen – es kann nur an der Brücke, Ausfahrt Val d’Isère, gewesen sein. Soll ich zurückfahren und noch mal den Berg hoch, wobei die Kamera wohl längst nicht mehr dort liegt? – Nein, ich bin frustriert. Die beiden Badener Cracks sind verwundert, weil sie uns eben dort unten nicht gesehen hatten. Sie fragen nach Joe, der noch einige Kehren zurückliegt. Der Holländer ist auch da, aber so richtig freuen fällt mir schwer. Ich frage eine Gruppe von Trek Travel Bike, ob sie noch ein Begleitauto im Tal haben – aber dem ist nicht so. Ich schreibe einen Zettel, den ich am Pass an einen Pfahl hefte mit dem Hinweis, die Kamera im Kiosk abzugeben und wachte eine Weile.

Die beiden Badener Cracks setzen ihren Kollegen wieder unter Druck, in dem sie sofort die Abfahrt angehen, den Col du Mont-Cenis und den Col de Montgenèvre nach Briançon noch abhaken wollen. Ich warne Joe, dass er das wahrscheinlich nicht schaffen wird, weil am Montgenèvre von Osten her eine große Höhendifferenz zu bewältigen ist (ich bin ihn schon umgekehrt gefahren). Er schreibt erst mal Postkarten, startet aber irgendwann ebenso wie der Holländer durch. Ich esse einen Sandwich aus der Gaststätte, der aber mit den überdicken Graubrotscheiben einfach zu trocken und ganz unfranzösisch ist. Hier wird außerdem deutlich, was es heißt die Natur ihrer urtümlichen Macht zu überlassen. Es gibt wegen der Höhe kein fließendes Wasser und entsprechend auch keine Toiletten! Im Kiosk erwerbe ich ein entzückendes T-Shirt mit Stickereien von Murmeltier und Gämse. Das kurioseste Souvenir ist ein Kuschelmurmeltier mit grünem Hut, das jodeln kann – habe ich nur hier gesehen.

Mein Warten auf einen glücklichen Umstand in punkto Kamera ist indes vergeblich. Ich gebe auf und rausche hinunter ins Val de la Vanoise. In Bonneval frage ich beim Tourist Office, ob eine Kamera abgegeben wurde, später nochmal im schönen Lanslebourg, wo die Dame auch gleich in Val d’Isère anfragt – Fehlanzeige. Im Vanoise-Hochtal leuchten große Blumenfelder in rosa und gelben Farbtönen, geben der Landschaft ein liebliches Gesicht. Bereits in Bonneval endet die recht kurze Abfahrt und es folgen lange Passagen, in denen man kräftig treten muss um den Schwung aufrecht zu halten. Ein schwacher, aber doch giftiger Gegenwind bremst ebenso wie einige kleine Gegenhänge. Das warme Wetter und die Gewissheit im Zeitplan zu sein, erlaubt es mir, eine kleine Rastpause an der Arc einzulegen.

Ich komme im Gegenwindes nur ziemlich zäh voran, eine kleine Regenpause hält mich auf und doch könnte ich eventuell über St. Michel-de-Maurienne hinaus sogar den Col du Télégraphe noch bewältigen und Valoire erreichen. Ich weiß ja nicht, ab wann die Straße für Radfahrer morgen gesperrt wird – die Gerüchte liegen bei zwei Stunden vor dem Tourtross bzw. vier vor dem Fahrerfeld. Deswegen will ich so nah wie möglich an den Galibier noch heute kommen. Vor Modane wird das Vanoise-Tal zur tiefen Schlucht, über der die Straße fast etwas waghalsig verläuft. Eine historische Teufelsbrücke führt zu einem Fort, das besichtigt werden kann. Drohende Regenwolken halten mich aber von jeder Art Exkursion ab.

Im industriell geprägten Modane entschließe ich mich, eine kleine, analoge Ersatzkamera für 89 € zu kaufen, mit bescheidenem Zoom und eben keine Spiegelreflexkamera. Aber morgen steht die Tour de France bevor und davon möchte ich dann doch ein paar Bilder machen. Die Bildqualität, so stelle ich später fest, ist zwar gut, aber das Zoom unbefriedigend. Ich bekomme einfach vieles gar nicht ins Bild wie zuvor. Meine Hoffnung, die verlorene Kamera oder vielleicht auch nur den Film darin wieder zurück zu gewinnen, wird sich auch nach der Tour nicht erfüllen. Alle Nachfragen in Val d’Isère, Bonneval und Lanslebourg blieben erfolglos. Entsprechend fehlen mir auch die Bilder zwischen Aosta und Iseran.

Ab Modane endet der romantische Teil. Das enge Tal wird zur reinen Verkehrsader. Eine Autobahn, die teilweise im Berg verschwindet, leitet den Verkehr von und zum Fréjus-Tunnel als eine der wichtigsten Alpentransversalen, gleiches gilt für die Bahnlinie, dazu kommt noch die Route National – mehr Platz ist nicht. Dann folgt – ein Unglück kommt selten allein – eine Straßensperrung, auch für Radfahrer. Während ich noch überlege mich verbotenerweise auf die Autobahn zu begeben, kommt schon eine Straßenwacht, die mich zwingend auf die unangenehme Umleitung verweist. Diese führt recht steil mit zusätzlich mindestens 100 Hm über das am Hang liegende Orelle. Nach der leicht gefährlichen Abfahrt, flutscht es endlich auf der Nationalstraße, aber für eine Fahrt über mein geplantes Etappenziel hinaus reicht die Zeit jetzt nicht mehr.

In St. Michel-de-Maurienne, nicht mehr als ein kleiner unauffälliger Durchgangsort, ist alles auf Tour de France eingestellt. Bereits zuvor habe ich über der Autobahn Umleitungshinweise gelesen „Col du Télégraphe fermé – Col du Galibier fermé“. Trotz der offiziellen Sperrschilder an der Ortsausfahrt sehe ich aber zahlreiche PKWs und Caravans den Berg anfahren. Offenbar wird die Straße physisch erst gesperrt, wenn die Straßenränder voll stehen. Die Tour-Organisation zeigt sich flexibel – aber auch konsequent, wie sich am nächsten Tag zeigen wird. Im letzten ortsausgängig gelegenen Hotel sehe ich etliche Radler sitzen – natürlich ist es ausgebucht. Ich fahre wieder zurück und finde doch noch einen kleinen Campingplatz, den ich zuvor gar nicht wahrgenommen hatte, weil er fast nicht mehr als ein Parkplatz ist, eine Rezeption kann ich weder abends noch morgens ausmachen. Dort sind ausschließlich Tourfans mit und ohne Räder – wieder überwiegend Deutsche –, die dem nächsten Tag entgegen fiebern. In dem von mir ausgewählten Restaurant bekomme ich nur mäßige Kost.


Mi, 13.7. St. Michel-de-Maurienne (712m) – Col du Télégraphe (1566m) – Valloire (1430m) – Col du Galibier (2654m) – Col du Lautaret (2058m) – Briançon/St. Blaise
[82 km – 5:59 h – 13,4 km/h – 2095 Hm]

Die Nacht war bei klarem Sternenhimmel überraschend mild, sollte der Sommer sich jetzt festsetzen? – Ich starte um 6:45 Uhr. Bereits bei den letzten Häusern klettere ich bei ca. 8% hinauf, was sich fast konstant bis zum Col du Télégraphe fortsetzt. Der dichte, schattige, meist dunkle Nadelwald erlaubt nur wenige freie Blicke ins Tal. Auch jetzt fahren immer noch Autos hinauf, man lässt soviel durch, um die maximale Stimmung für die Tour zu sichern und sperrt die Straße erst, wenn alle denkbaren und nicht denkbaren Plätze aufgefüllt sind. Die Straßenränder sind jetzt schon gut besetzt. Aus kleinen Zelten oder den Caravans lugen verschlafene Gesichter hervor, einige kochen bereits Kaffee, andere putzen ihre Zähne, noch andere haben die Hände schon frei und applaudieren mir.

Noch vor 9 Uhr erreiche ich den Col du Télegraphe, der bereits einen guten schwierigen Teil des Gesamtaufstiegs zum Galibier ausmacht. Es ist ein Zwischenpass, der an einer Aussichtsbiegung liegt. Hier steht schon alles voll mit Radlern, im Bistro hole ich mir einen Capuccino mit Croissant und finde draußen sogar noch einen Sitzplatz in der noch teils verdeckten Morgensonne. Eine kleine, mäßige Abfahrt führt nach Valloire, ein besonders im Winter genutzter Touristenort in einer Talmulde. Heute ist jedoch Tourtag und der Ort hat sich in eine Menschenmetropole verwandelt. Am ersten Verkehrskreisel empfängt mich eine steinerne Gämse im gelben Trikot. Vor einem Supermarkt schreit ein Werbeprediger der Supermarktkette Champion seine Sprüche in ein Megaphon. Da die Straße nach dem Ort für Autos gesperrt ist, zieht sich ein Stau durch den Ort. Die Gendarmerie leitet die Autos zu den letzten eigentlich nicht vorhandenen Parkgelegenheiten.



Von nun an fahre ich durch eine einzige Menschenkette. Eine Million Menschen sollen sich über den ganzen Berg verteilen. Massen von Zuschauern erwandern und erradeln die Passstraße um einen günstigen Platz zu ergattern. Unter den Radlern findet sich alles zwischen semiprofessionellem Rennradler und untrainiertem „Radazubi“. Einige knicken irgendwann ein und platzieren sich dann mitten am Hang zum Zuschauen. Noch nie bin auf einer Etappe von so vielen Radlern überholt worden, aber noch nie habe ich auch so viele überholen können. Die offenen Bergwiesen sind voller Zelte, überall sehe ich die hart gesottenen Fans bei ihrer Katzenwäsche mit Wasserkanistern, die nicht bei allen für die Belange des Tages reichen dürften. Was sagen wohl die Murmeltiere zu diesem Auflauf?



Der Anstieg ist ziemlich konstant schwer, aber auch nicht der schwierigste. Ich kann den guten Rhythmus der frühen Morgenstunden weiter aufrecht halten, die wenigen Fotopausen und bewundernden Sichtpausen über die Bergwelt und die Zuschauerkulisse reichen zum Verschnaufen aus. In dem Gewühl bin ich nur einer unten vielen und erhalte letztlich weniger Aufmerksamkeit als etwa am Roselend zwei Tage zuvor. Die meisten sind irgendwie beschäftigt, haben sich noch nicht dem Treiben auf der Straße zugewandt. Besonders lautstark werde ich von einer Baskengruppe angefeuert, die in helle Begeisterung ausbricht als ich auf meinen Aufkleber mit der Baskenflagge (von meiner vorjährigen Pyrenäentour) deute. Eine andere Gruppe bietet mir einen Erfrischungsdrink an, der sich als in Eis gekühlter Schnaps mit Anisgeschmack entpuppt. Auch das wirft mich nicht um und bald habe ich die Passhöhe geschafft, wobei der letzte Teil nach einer Gaststätte noch mal leicht anzieht und das Zuschauerspalier immer enger wird.



Gegen 12 Uhr stehe ich am Col du Galibier. Ein Passschild ist nicht zu erkennen, denn überall hängen Werbebanner, dazu kommen TV-Autos und ein kaum durchdringbares Gewusel von Radhelden, Gendarmerie und sonst wie angewanderten Zuschauern. So erhalte ich zufällig ein bemerkenswertes Passfoto: Über meiner Mütze ist der Werbebanner zu lesen „Tour de France – Col HC (horse category) – Champion“. Da hat mich die allseits präsente Supermarktkette zum wahren Champion geadelt. Übrigens ungedopt. So lasse ich auch gerne mal die Werbung über mir stehen…



Auf der Passhöhe befindet sich keine Gaststätte oder Kiosk, es gibt kaum Platz neben der spitzen Passkehre, von der aus weite Panoramablicke sowohl nach Norden als auch nach Süden möglich sind. Absolute Mondlandschaft, keine Vegetation. Viele Fans haben sich auf den steilen Geröllhängen postiert, einige klettern sogar abenteuerlich und gefährlich über der Straßenkulisse. Einmal muss ein Polizist eingreifen, weil dadurch Steine ins Rollen geraten, die auf die weiter unten stehenden Leute herunterrollen.

Ich platziere mich wenige Meter unterhalb der Passhöhe auf der Nordseite. Unter den Fans lerne ich viele Deutsche kennen, aber auch Italiener, Amerikaner und sogar Australier. Unter den Radtouristen erweckt einer besonderes Aufsehen. Etwa in den 50er oder 60ern ist der Mann, der ein historisches Rennrad aus der Frühzeit der Radfahrens fährt –ohne Gangschaltung! Wie er diesen langen Berg hochgekommen ist, bleibt für mich unergründlich – zumal wenn ich diese schweren langen Wiegetritte auf der viel zu großen Übersetzung sehe. Natürlich hat der Mann sich auch in ein entsprechend historisches Outfit gepackt – der bewundernde Applaus ist ihm von allen Seiten gewiss.

Etwa zwei Stunden vor der Tourkarawane wird dann auch die Straße für Radler und Fußgänger gesperrt. Jeder muss da stehen bleiben, wo er gerade sich befindet. Da sind etliche Radler gereizt, die gerade die letzten Meter zum Pass noch bezwingen wollen. Da die Gendarmerie ist nun sehr konsequent. Manche denken sich fintenreiche Strategien aus, um den Polizeiposten zu überlisten, was aber nur den wenigsten gelingt. Diese flexible Handhabung, den Berg fast bis zum Kollaps aufzufüllen und dann doch noch rechtzeitig rigoros abzusperren, wäre in Deutschland sicherlich nicht möglich. Da hätte man schon von früh an keine Radfahrer mehr hochradeln lassen. Es fehlt einfach die Radsportbegeisterung, die den Franzosen in Fleisch und Blut liegt – egal ob aktiv radelnd oder nur Zuschauer.

Mittlerweile ist die Sonne hinter dicken Wolken verschwunden. Es ist windig und kalt, leichter Niesel sorgt für ungünstige Aussichten, letztlich bleibt es aber trocken. Während ich bei diesem stundenlangen, ungemütlichen Warten schon mal darüber sinniere, wie weit ich an diesem Tag noch hätte kommen können, sorgt dann endlich die Tourkarawane für Abwechslung. Zunächst kommt eine fast endlose Autokette von offizieller Tourorganisation, Presse und Fernsehen. Manche rasen recht riskant an den Zuschauern vorbei. Ein unangenehmer Dieselgeruch beherrscht nun den Berg. Ich glaube auf meinen Touren immer wieder zu bemerken, dass die Dieselabgase in höheren Lagen ihren Geruch verändern. Ob das daran liegt, dass der Ausstoß der Abgase stärker ist oder ob sich der Gasgeruch tatsächlich ändert, weiß ich nicht.

In einem der ersten Wagen sitzt Michel Virenque, der sechsmalige Bergkönig der Tour, auch ein Jahr nach seinem Rücktritt vom Rennsport noch ungemein beliebt. Als das Auto kurz stoppt, ist er sofort von Autogrammjägern umlagert und kann sich an den Busserln der weiblichen Fans erfreuen. Als Nächstes folgt die Werbekarawane, die einen Hauch Karneval in das Hochgebirge bringt. Mit überzeichnete Figuren und Gegenständen stellen sich die Sponsoren mit ihren Produkte vor. Da sind die radelnden Kängurus, die übergroßen Kaffeekannen, bunte Gartenzwerge einmal riesig, die lappigen grünen Watschenhände von Champion, die schnaubenden Flaschen als Delphinstupsnasen von Aquarel oder die silbernen Riesentaschenuhren von Festina. Als dringend benötigter Aufwärmer zischt auch ein Wagen mit feschen Mädels zu heißen Rhythmen tanzend durch das Zuschauerspalier. Witzig, komisch und originell. Werbegeschenke zu erwischen ist indes schwierig, weil die Autos doch arg schnell vorbeifahren. Als erstes konnte einen ganzen Packen kleiner Aquarel-Flaschen unter leibhaftig riskanten Einsatz ergattern. Damit war die um mich versammelte Gruppe mit Wasser versorgt. Als einziges länger brauchbares Utensil fange ich einen gelben Umhängebeutel von Credit Lyonnais auf.





Nach vier Stunden schlottrig-kalten Wartens kommen sie dann, die Profis der Tour. Es fällt mir schwer mich zu entscheiden, ob ich zujubeln will oder wenigstens einen Fotoversuch wagen sollte. Winokurow von T-Mobile ist der Erste. Er wird den Sieg der Etappe nach Briançon tragen. Sein Vorsprung ist deutlich und er ist der Einzige, der mit seinem Tempo die Entschlossenheit zum Sieg zeigt. Alle Folgenden scheinen zu taktieren oder sind am Ende ihrer Kräfte und fahren auf Mithalten. Einige sind verbissen introvertiert, andere haben den Humor sogar nach einer dieser Champion-Riesenhände von einem Zuschauer zu greifen und damit ein paar Späße zu machen. Von Winokurow erwische ich schließlich die Hose auf dem Bild. Den Dänen Michael Rasmussen (Bergtrikotträger, gedopt? – na klar!) bekomme ich ganz ins Bild. Weder Lance Armstrong noch Jan Ullrich kann ich im Durcheinander ausmachen. Meine deutschen und australischen Nachbarn wissen ohnehin besser Bescheid, wer wer ist und wer im Klassement vorne liegt. Die Abstände zwischen den einzelnen Gruppen sind überraschend groß. Als Abschluss gibt es noch ordentlich Abgase von der Wagenkolonne der einzelnen Teams und der Tourorganisation.



Bald ist das kurzweilige Rennerlebnis vorbei. In der Kälte möchte ich schnell weg. Leider wollen das noch einige Leute mehr. In den ersten Kehren nach unten kann ich nur mit Stotterbremsen herunterrollen. Das Fußvolk ist übermächtig. In der kurz unter der Passhöhe liegenden Gaststätte mit Kiosk verwechsle ich zu mienem späteren Ärger den richtigen Aufkleber vom Galibier mit dem des Lautaret. Ersatzweise hält ein Portemonnaie mit Galibier-Motiv heute den magischen Ort in Erinnerung. Bis zum Col du Lautaret (Bild aus 2002, mit Blick auf Ecrins-Massiv), der heute für mich nur ein Abrollpass ist und einem riesigen Parkplatz gleicht, kann ich in Schlangenlinie fast alle Fußgänger und Radler einholen. Richtung Briançon ist die Straße dann sogar wieder normal befahrbar. Die gut ausgebaute Straße ist mir bereits aus der 2002er Tour bekannt (damals von Vizille kommend). Im unteren Teil heißt es wieder kräftig strampeln um Schwung mitzunehmen.



Vor der Stadt herrscht dann Autostau. Ich weiche wie einige andere Radler auf Seitenstraßen und Gehwege aus. Nach dem oberen Verkehrskreisel entspannt sich die Situation wieder. Das mir bereits bekannte Naturistencamp liegt im Süden der Stadt, schon eine Ortschaft weiter in St. Blaise, und dort eine steile Zufahrt hoch. Die dunklen Wolken sind allerdings wenig einladend für Camping. Als wäre es ein Wink mit dem Zaunpfahl, ist der Camping „La Clapière“ für immer geschlossen. Als Alternative gibt es unter der Zufahrtsstraße einen „textilen“ Campingplatz. Das wissen aber noch mehr Tourbegeisterte, eigentlich ist der Platz voll belegt. Für zwei weitere deutsche Velofahrer, einen deutschen Motorbiker und mich stellt der Campingwart dann Plätze auf einer noch freien Spielwiese (Tischtennis etc.) zur Verfügung.

Noch ist der Tag aber nicht gerettet, denn tiefe Regenwolken aus Richtung Lautaret-Pass bedrohen mit Blitz und Donner eine trockene Nacht. Nach dem Duschen fahre ich zum Essen nach Briançon. Noch bevor ich die ca. zwei Kilometer zum unteren Stadtrand zurückgelegt habe, prasselt ein ungemein heftiger Regen nieder. Im ersten Restaurant ist kein Platz mehr frei, Reservierung ohnehin gewünscht. In dem Regen verweigere ich mich dem Weg in die steil oben gelegene und sehenswerte Altstadt. Aber auch in den wenigen Minuten der Suche im unteren Neustadtbereich werde ich völlig durchnässt. Als tropfende Wassersäule erhalte ich nach einiger Zeit des Wartens in einem italienischen Restaurant doch noch einen Platz. In einem Etappenort der Tour ist das mit dem Essen abends immer schwierig, so auch letztes Jahr in St. Flour. Wenn das sommerliche Open-Air-Speisen auch noch dem Sauwetter zum Opfer fällt, wird es auch in größeren Orten wie Briançon eng. Immerhin endet das Gewitter nach dem Essen. Ohne das gewünschte Camp und bei solchem Wetter beschließe ich, den geplanten, aber ohnehin mit Fragezeichen versehenen Ruhetag zu streichen.


Do, 14.7. Briançon (1190m) – Col d'Izoard (2360m) – Guillestre (1000m) – Col de Vars (2109m) – (1286m) – Larche (1697m)
[105 km – 8:11 h – 11,8 km/h – 2695 Hm]

Die Nacht war wieder unangenehm kalt, blieb aber trocken. Am Morgen scheint der Himmel wieder gereinigt und strahlt in tiefstem Blau. Die Zeltplane ist noch reichlich nass und ohne die ersten einfallenden Sonnenstrahlen abzuwarten, kann ich meine Sachen nicht genügend gut trocknen. Mit ein paar Sachen fürs Frühstück aus dem kleinen Camping-Supermarkt verlasse ich die Tore des Campings erst gegen 9 Uhr. Die beiden Würzburger Velotourenfahrer wollen die die fast selbe Route wie ich fahren, allerdings mit dem Etappenziel Jausiers. Sie lassen es sehr gemütlich angehen und wollen wohl erst eine Stunde später starten.

Für die Abzweigung Richtung Col d’Izoard ist die Fahrt in die Oberstadt nicht nötig. Die gleich kräftig ansteigende Straße führt an ein paar Villen vorbei in eine geruhsame Natur, die bald eine tiefgehend romantische Stimmung ausstrahlt. Vom Wasser überflossen glitzern und blinken die Felsen, brechen das Licht der Morgensonne in verschiedene Edelsteinfarben. Nach dem Wintersportort Cervières gestalten Wiesen die Landschaft offener, dann sorgt lockerer Lärchenwald für eine weitere Facette der Bergwelt. Zwei Schweizer Rennradler mühen sich ebenfalls hoch, sonst scheint die Tour de France die Radler heute ins Durance-Tal zu ziehen. Etliche Passagen mit über 10% und bis zu 13% verlangen heftige Schweißarbeit, zumal es mittlerweile sommerlich heiß ist. In der offenen Bergwelt verblüffen dann eigentümliche Felszacken, die wie Termitenburgen oder geknetete Zapfen aus den Geröllhängen herausstehen. Die Berghügel bekleiden weiter unten grüne Kurzgrasteppiche als Kontrast zu den felsigen Bergrücken, die sich wie Mondkrater um den Betrachter aufbauen. In dieser einzigartigen Szenerie und unterhalb der Passhöhe steht das Refuge Napoléon, eine sehr charmantes Domizil zum Übernachten, Speisen oder einfach einen Kaffee zu trinken.



Auf der Passhöhe kommt zum herrlichen Blick nach Norden auch noch ein tolles Südpanorama hinzu. Ein Kiosk bietet ein paar Erfrischungen und Souvenirs. Von Süden kommt eine italienische Rennradgruppe mit zwei Frauen und zwei Männern hoch, die sich sehr locker geben – die Frauen absolut sexy und die Männer absolut Macho. Die Felstürme, -zapfen und -zacken sind auf der Südseite noch eindrucksvoller. Eine wundersamsten Felslandschaften, die ich je gesehen habe! In einen Fels sind Gedenktafeln zu Ehren Fausto Coppis und Louison Bobets (Radsportlegenden) eingelassen. Ich habe immer wieder mit alten Franzosen auf meinen Touren gesprochen, die sich für Radfahren begeistern – Fausto Coppi kennen sie alle. Er gewann den Giro d’Italia fünfmal, schaffte dabei das Double aus Sieg bei Giro und Tour de France zweimal, wurde Weltmeister und Stundenweltrekordler, war heiß geliebt und bald gehasst als untreuer Ehemann an der Seite seiner neuen Geliebten und starb 1960 bereits im Alter von 40 Jahren an den Folgen einer Malaria, die er sich bei einem Radrennen in Obervolta einfing.





Die Abfahrt ist im oberen Teil recht holprig und schwierig. Eine Lowridertasche klickt sich aufgrund der Straßenbeschaffenheit aus, zum Glück komme ich zum Stehen, bevor sie ganz abfällt. Weiter unten ist die Straße wieder in gutem Zustand, es kommt aber wieder Gegenwind auf. Herrlich ist dann die Schlucht Combe de Queyras, wo die Straße oberhalb des rauschenden Wassers und durch diverse Tunnelbögen verläuft. Mutige Kanuten steigen gerade für eine Tour in den Fluss. Bei Guillestre weitet sich das Tal, die nahe Durance gibt einen weiten Blick nach Norden frei. Ohne Guillestre zu durchqueren, windet sich die Straße zum Col de Vars gleich noch oben, verläuft ohne Schatten durch stumpige mediterrane Sträucher- und Baumhänge. Nach dem schweren Izoard und der großen Hitze, die ich ja fast schon nicht mehr gewohnt bin, fühle ich mich ziemlich schlapp. Ich habe heute einen sehr hohen Wasserverbrauch. Bei einer Verschnaufpause unter einem kleinen Baum im unteren Teil kommen die beiden Würzburger mit extrem hoher Trittfrequenz fröhlich den Berg hochgestürmt. Sie brechen gleich an einem ebenfalls sich schwer tuenden Rennradler vorbei, was diesen wohl recht frustriert haben dürfte. Sie sind zwar deutlich jünger als ich (Altersklasse 20+), aber so stark hatte ich sie auch wieder nicht eingeschätzt.

Insgesamt sind jetzt doch viele Velofahrer unterwegs. Darunter ist auch ein Schweizer (50+) mit seiner 17-jährigen Tochter, die zwar immer etwas zurückhängt, aber als Transalpenradlerneuling stolz darauf sein kann, doch schon solche große Pässe bewältigen zu können. Meistens können junge Menschen aber konditionell mehr leisten als das die Alten ihnen zutrauen wollen. Mit dem Vater, der jedes Jahr über die Alpen zu seinem Ferienhaus in Fréjus fährt und die Pässe wie Izoard, Vars oder Bonette schon viele Male überquert hat, fahre ich ein Stück zwischen St. Marie und les Claux. Wir treffen uns noch mal auf der Passhöhe, wo auch die Mutter als Tourbegleiterin mit Auto wartet. Dort sitzen am Refuge Napoléon – ja, schon wieder der Bonaparte (diesmal aber keine Übernachtungsmöglichkeit) – auch noch die beiden Franken, die entweder lange Pausen gemacht haben müssen oder doch ein wenig eingebrochen sind.

Der Col de Vars ist landschaftlich ein krasser Gegensatz zum Izoard. Nach les Claux markieren sanfte grüne Bergkuppen wie die Hügel eines übergroßen Golfplatzes die Horizonte. Kleine idyllische Weiher strahlen Bergruhe aus. Dass hier tatsächlich auch ein Golfplatz eingerichtet ist, stellt einen seltenen Glücksfall zwischen moderner Landschaftsnutzung und ursprünglichem Landschaftsbild dar. Die kraterartigen Bergkämme an der Passhöhe zeigen die geologische Verwandtschaft zum Izoard an. Dieser Teil enthält einige flachere Passagen. Zwar ist der Vars-Pass insbesondere im unteren Teil auch schwer zu fahren, ist aber insgesamt leichter als der Izoard. Während les Claux eine touristische Hochburg für Jetset- und Trendsportarten ist (Ski, Golf, Mountainbiking, Bungie Jumping), schmücken in Vars kunstvolle geschnitzte Holzbrunnen aus den Händen der lokalen Handwerkszunft das Dorfbild.



Nach einer Crêpes am Refuge Napoleon begebe mich erstmals hinunter ins Ubaye-Tal. Zwar bin ich etwas spät für mein Etappenziel, aber die von unten martialisch wirkende Straße zum Col de Larche entpuppt sich als mäßig kletternde Route, die ein gutes Bergtempo erlaubt – was eigentlich für die gesamte Passstraße auf der Westseite gilt. Die Straße kann jederzeit gesperrt sein, weil sie von häufigem Steinschlag bedroht ist. Über die gerade gezogene Straße am offenen Hang der Bergkette entlang kann ich bereits früh die Passhöhe erahnen. Es ist gerade dämmerig, als ich in Larche auf dem schön im Tal gelegenen Campingplatz mein Zelt aufschlage. Ich muss mich für das Essen beeilen und erhalte in der an der Passstraße gelegenen Auberge ein leider miserabel zubereitetes Steak mit Buttermakkaroni, ohne jeden Pfiff und Frankreich nicht würdig. Zu meinem Leid kann ich nicht mal nach der Top-3-Höhenmeter-Etappe duschen, weil im Camping die Brausen um 22 Uhr geschlossen werden. Ein bisschen war die Situation wie in Lienz – nur dass hier die Kälte der Nacht auf der mit einer Schweißkruste benetzten Haut doppelt fröstelnd wirkt.


Fr, 15.7. Larche – Col de Larche (1948m?/1991m?) – Vinadio (895m) – Col de la Lombarde (2350m) – Isola (870m) – St. Etienne-de Tinée (1144m)
[96 km – 6:30 h – 14,1 km/h – 2121 Hm]

Morgens sehne ich mich dringend nach der Sonne, die aber in dem ungünstigen Winkel zu den Bergrücken erst spät ihre ersten wärmenden Strahlen verbreitet. Allein die Morgenkälte verhindert eine Abreise vor 9 Uhr. Dann aber stürme ich recht energisch der Passhöhe entgegen, bin sogar bald durchgeschwitzt. Eine Läuferin joggt recht flott auf der Straße, auch eine besondere Leistung in der Höhenluft. Die Gegend ist ein beliebtes Wanderziel und einige stechen schon jetzt mit Stock und Stiefel in die Bergwiesen hinein. Der Reiz der Landschaft liegt in den lieblichen Wiesen, auf denen bei genauem Betrachten eine vielfältige Flora gedeiht. Der Col de Larche, von den Italienern Colle della Maddalena genannt, ähnelt dem Col de Vars. Hundert Meter unter dem Pass liegt bereits auf italienischer Seite ein Restaurant gegenüber einem verträumten See, in dessen reinem Wasser jeder Blick am Grunde magisch verweilt und die gesundete Seele wieder wohltuend ruhig auftaucht.



Im oberen Teil der Abfahrt muss ich auf einige Rinnen und Straßenunebenheiten besonders gut aufpassen. Dann läuft es sehr gut in der blendenden Kulisse des Valle di Stura. Neben der Straße plätschert, sprudelt und rauscht das Wasser, das Sonnenlicht leuchtet, bricht und schimmert an Wasser, Blumen und Blattwerk – kurz, die Natur strahlt mit überschäumender Pracht. Es ist jetzt in der starken Sonne heiß, verlockende Badestellen verkneife ich mir so früh. Nach einer kleineren flachen Passage zum kräftigen Strampeln zweigt aus dem Stura-Tal noch vor der Ortseinfahrt von Vinadio die Straße zum Col de la Lombarde ab. Im Tal versorge ich mich mit Paninis, denn die gesamte Auffahrt führt durch Niemandsland.

Bereits in den untersten Kehren heizen heftige Steigungen ein, 11-13% sind Standard. Trotz schattiger, teils gänzlich die Straße überspannender Gewächstunnels fließt der Schweiß in Strömen. Die Straße ist extrem schmal, zwei Autos kommen an vielen Stellen nicht aneinander vorbei, der Belag ruppig und wellig, eine Abfahrt ist auf der Ostseite gefährlich, obwohl mir auch hier wenige Rennradler halsbrecherisch entgegen schießen. Ein Vergleich zur Westpassage am Staller Sattel ist angebracht, dort gibt es aber die unfallverhindernde Ampelregelung. Der farbenprächtige Pflanzenwuchs mutet fast tropisch an. Erst verdeckt, später offen fallen die Wasserkaskaden über große Steinblöcke neben der Straße ins Tal. An dem seinem Ruf als Geheimtipp alle Ehre machenden Pass sind doch etliche Radler unterwegs. Zu unterst überhole ich ein nettes italienisches, aus der Gegend kommendes Paar, sie mit super-sexy Outfit, beide schwer kämpfend, aber mit Beißerqualitäten. Später bei einem verlassenen Refugio, wo ich eine längere Pause einlege, fahren sie dann an mir vorbei und kommen mir im oberen Teil nochmals später wieder entgegen (sie sind nur zum Pass gefahren und wieder retour).

An dem verlassenen Refugio kommen noch einige Radler vorbei, unter ihnen auch ein paar Tourenbiker. Als Bade- und Liegestelle ist der Ort weniger geeignet im Vergleich zu Stellen weiter unten oder weiter oben, aber ich habe hier fast mitten am Berg dringend Erholung nötig. Ich lerne einen Darmstädter Tourenradler kennen, der zwar weniger Gepäck, aber ein ungewöhnlich schweres Rad hat, sodass mein Gefährt insgesamt kaum mehr wiegt. Er ist auf dem Weg zum elterlichen Ferienhaus in St. Tropez – das scheint eine große germanische Radl-Kommune an der Côte d’Azur zu sein, die ich da im Laufe der Tour kennen lerne. Schon nach einer kleinen Flachpassage mit Zwischenabfahrt über das sich mit sumpfigen Wiesen zur Hochebene ausbreitende Tal bleibt der Hesse aber zurück.

Trotz der Bergwelt liegt hier auch noch einer belebter Ort. Von Santuario di Santa Anna, über eine abzweigende Straße zu erreichen, dringen laute Musik und Partystimmung durch die heiße Nachmittagsluft auf den Gegenhang, an dem ich mich wieder bei heftiger Steigung weiter hoch kämpfe. Der lichte Bergwald mit Lärchen und Kiefern liefert erneut Abwechslung. Dann treten die offenen Bergwiesen hervor, die in weitgezogene, öde Geröllhänge übergehen. Bis jetzt habe ich mich stark gefühlt, habe dem extremen Berg gut getrotzt. Doch nun quäle ich mich etwas zermürbt zur Passhöhe, die greifbar nahe scheint, aber durch die ausladenden Schleifen noch ein gutes Stück entfernt ist.



Am provisorischen Kiosk auf dem Col de la Lombarde nehme ich ein Stück Kuchen. Nach Süden erstreckt sich eine nicht enden wollende Kette der kahlen Seealpen aus Sand und Stein – abweisend, unnahbar. Bereits in Frankreich, ist der Straßenzustand zunächst schlecht, ständig greife ich zur Bremse. In dem wenig attraktiven Skiressort Isola 2000 beginnt eine breit ausgebaute Straße ins Tal, die die Wintertouristen bequem in die Höhe bringen soll. Trotzdem gibt es auch hier scharfe Kurven und es besteht die Gefahr dem Geschwindigkeitsrausch zu erliegen. Vorsicht ist geboten, sonst fliegt man aus der Kurve! Das Tal ist durch Nadelwald gekennzeichnet, Wiesen mit weidenden Schafen und Kühen lichten hin und wieder das Dunkle. Die Landschaft ist gleichförmiger und weniger aufregend als auf der Ostseite.

Nach einer kleinen Schlucht erreiche ich das nette Örtchen Isola. Mit der Kehrtwende nach Norden im Val de Tinée geht es nur leicht ansteigend mit leichtem Rückenwind gut voran. In der tief stehenden Abendsonne liegen schon etliche Passagen im Schatten. Es gibt sogar einen intensiv grün markierten Radweg, was aber wenig Sinn macht, weil die Straße ausreichend Platz hat und nur spärlich befahren ist. Vor St. Etienne-de-Tinée gibt es zur Hauptstraße eine Alternative näher am Fluss entlang, auf beiden Strecken muss man jedoch eine kleine Rampe überwinden. Das Etappenziel ist ein noch gut besuchter, charmanter Basispunkt für die folgende Himmelsfahrt. Am Camping mit künstlichem Badesee bleibt die Nachtluft mild. Das Essen ist recht mäßig, aber es gibt etliche Alternativen, wo der eine oder andere vielleicht mehr Glück hat.


Sa, 16.7. St. Etienne-de-Tinée – Col de la Bonette-Restefond (2802m) – Barcelonnette (1136m) – Col d'Allos (2247m) – Colmars
[103 km – 8:37 h – 11,8 km/h – 2789 Hm]

Wie am Fuße dieses in den Augen eines jeden Radlers magischen Berges nicht anders zu erwarten, sind noch mehr Velotisten hier am Zeltplatz versammelt. Ein Paar hat eine Hängerlösung gewählt. Der Mann hat an sein Rennrad einen Einradhänger, auf dem das Gepäck verstaut wird. Es würde mich einmal reizen auszuprobieren, ob ein leichtes Rennrad mit dem Hänger eventuell einen Vorteil gegenüber dem bepackten Reiserad bietet und wie sich das Gefährt bei rasanten kurvenreichen Abfahrten verhält. Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass das einseitig auf hinten konzentrierte Gewicht leichter den Berg hochzufahren ist – gleiches Gesamtgewicht einmal vorausgesetzt.

Ob die anderen Radfahrer mir noch nachfolgen oder bereits die höchste asphaltierte Alpenbarriere auf dem Weg nach Süden überwunden haben, werde ich nicht mehr erfahren. Ich beginne die Fahrt um 6:50 Uhr, während die anderen noch schlafen. Noch ohne Sonne, aber bei ausgesprochen mildem Klima gehe ich die ersten leichten Steigungen an. Das Tal ist eng, die Vegetation dicht und leuchtend grün. Teils bin ich auf gleicher Höhe zur Tinée, teils fahre ich weit oberhalb in einer Schlucht. Wasser bricht überall aus den Steinen, fließt teils über die Straße, die Strahle der Kaskaden und Wasserfälle ziehen wie ungeordnete Messlatten an mir vorbei, die die Höhenmeter der Serpentinen in rauschender Phonstärke anzeigen. Autos fahren nur wenige, das bleibt auch den ganzen Berg über so.



Dieser abwechslungsreich romantische Teil ist schnell zu Ende. Kurz vor La Praz mit dem vorletzten Restaurant/Bar öffnet sich Bergwelt zwischen steilen Geröllhängen. Ich möchte etwas frühstücken, doch außer Kaffee gibt es noch nichts. Die Küche, der Karte nach gibt es gute raffinierte Gerichte, wird täglich mit frischen Lebensmitteln beliefert und es ist noch zu früh – auch für einen kleinen Sandwich. Meine Müsliriegel und eine Banane müssen aushelfen. Auch bei der letzten Bar bin ich zu früh, sie öffnet erst um 14 Uhr. Hier kann ich schon fast den gesamten Berg einsehen, die bevorstehende Arbeit in weiten Serpentinen hinauf zu dem Platz, wo die Engel nur noch ein paar Stufen hinabsteigen müssen, um den Boden Mutter Erde zu betreten. Es ist ein große Einöde, kaum Autos, zeitweise bedeckter Himmel und die größte psychische Herausforderung, mit Geduld die Langsamkeit zu ertragen, mit eisernen Willen die schwindenden Kräfte zu überwinden, die Natur respektvoll zu genießen und schließlich den Kampf zum Sieg über diese enorme Barriere zu führen. Einige wenige Rennradler pirschen sich heran. Der ganze Berg ist einsehbar und ich übe mich darin zu schätzen, wie viele Kehren ich vorwärts komme, bevor ich eingeholt werde.

Obwohl ich noch ein paar Kohlehydrate vermisse, breche ich nicht ein. Ich fühle mich ziemlich stark, sehe mich auf dem Weg zur Krönung, gewinne dadurch neue Power, pusche mich selber. Der Rhythmus ist gut, das Tempo auch, die Steigung nicht zu schwer. Einige Motorradfahrer grüßen enthusiastisch, motivieren zusätzlich – Danke! Außenstehende können gar nicht nachvollziehen, wie viel positive Kraft von den Aufmunterungen ausgehen, die mir Autofahrer, Motorbiker oder Radler zuwinken. Und weil das in Frankreich die motorisierten Zweibeiner am häufigsten tun, fühle ich mich auf dem dortigen Asphalt auch am wohlsten. Der deutsche Automobilist neigt leider dazu, den Radler als Konkurrenten zu betrachten, der ihn behindert und den es gilt, von der Fahrbahn zu vertreiben. Motorradfahrer sind aus allen Nationen immer etwas netter, obwohl sie mit ihren oft lärmenden Begleiterscheinungen auch ein Gräuel für den Drahteseltreter sein können.

Als Zwischenziel zum Verschnaufen komme ich zu längst verlassenen und verfallenen Kasematten und Garnisonshäusern, die bereits im 19. Jahrhundert an dieser als Militärstraße gebauten Strecke der Verteidigung der Grenze zu Italien dienten. Die steileren Passagen des Passes liegen im oberen Teil. Dort lugt die Sonne immer öfters hervor und verbessert die fantastischen Panoramablicke auf kraterartigen Berge nach Norden an einer Gratstelle. Das Ziel ist nun greifbar nah. Der ganze Südhang im Blick führt noch einmal das bisher Geleistete vor Augen. Der vulkanisch anmutende Kegel des Cime de la Bonette türmt sich wie ein außerirdischer Ameisenhügel im Auge auf. Dann ist da plötzlich der Durchbruch durch eine kleine Felswand. Auf der anderen Seite geht es gemäßigt runter. Der Col de Restefond ist hier der echte Pass – „lediglich“ 2678 m hoch. Nun, in Fachkreisen ist das längst bekannt. Von hier aus hat man aus touristischen Gründen eine kühne Asphaltschleife um den Cime de la Bonette gebaut, die auf der Nordseite 2802 m hinaufführt und von dort wieder auf der Südseite erneut zum Ausgangspunkt, dem Col de Restefond, herunterführt. Nur in dieser Richtung ist die Schleife auch befahrbar, denn es handelt sich um eine Einbahnstraße. Dieser asphaltierte Übergang wird als höchster Straßenpass in den Alpen und „Top of Europe“ zelebriert, obwohl er nach strengen Kriterien kein echter Pass ist. Für die geleistete Kurbelarbeit ist das genauso unerheblich wie der Umstand, das die höchste Straße Europas bei Granada auf 3000 m über die Sierra Nevada führt (aber auch kein echter Pass ist).





Diese letzten Höhenmeter sind mit das Steilste von der ganzen Auffahrt, aber hier spüre ich keinen Schmerz mehr. Das Ziel bläst alles Wehleidige aus dem Körper. Die Radfahrerdichte nimmt plötzlich zu, denn Einzelfahrer und ein größere Gruppen kommen von der Nordseite rauf und teilen nun mit mir den gleichen Weg. Einige haben entstellte Gesichter, später auf der Abfahrt begegnen mir einige, die wie vom Tod geweiht sich hin und her wiegend hinaufquälen oder mit zweifelndem Blick am Straßenrand stehend den Gipfelpunkt suchen. Dann ist es geschafft, 2802 m – „Top of Europe“, höchster Punkt meiner Veloreisen. Ein Steinzapfen zollt dem Erbauer der Straße Tribut, dahinter fällt der Berg schwindelerregend ins Tal ab. Gegenüber geleitet eine gut begehbare Treppe zum Gipfel, der nur 60 Meter höher liegt und den ich nicht mehr besteige, denn mehr Panorama als auf meiner Fahrt geht nicht. Keiner der Radler tut es, es ist das Highlight für die Autofahrer, die sich hier ein wenig die Beine vertreten können. Kein Kiosk, kein Restaurant, kein Hospiz. Für eine 12-köpfige Radfahrgruppe, Deutsche und Schweizer, stehen Getränke bereit, die in einem Begleitauto herangeschafft wurden. Einer träumt bereits von nur noch einem Höhepunkt: dem Sprung ins Meer in Nizza. Hätte ich hier erzählt, dass ich heute noch einen weiteren 2000er überwinden möchte, es hätte sie wohl umgehauen oder mir ohnehin keiner geglaubt. Zwei bayrische, zerknirschte, nicht gesprächige Reiseradler erklimmen den Berg, weitere Nationalitäten auf dem Rennvelo stoßen hinzu, Holländer, Franzosen.



Das kleine Südstück auf der Schleife rausche ich hinunter, alle Anspannung löst sich, das Adrenalin bricht heraus – Jubelschreie, die Siegesfaust. Ab dem Col de Restefond gleite ich bei geringem Gefälle nach unten, dann wird es steil, die Straße in sehr gutem Zustand, Rochieren auf dem Sattel um die Kurven zu nehmen, Abfahrtsfeeling pur. Die herrlich leuchtenden Bergwiesen sind unter 2300 m leicht von Wasser durchflossen, es gibt mehr Vegetation als auf der trockenen Südseite. Ein schöner See lockt viel Bergwanderer an, viele entspannen sich auf den Wiesenteppichen unter der nun kräftigen Sommersonne. Bei 2000 m blicke ich auf ein Chalet mit Restauration. Eigentlich wollte ich ja etwas essen, doch kaum habe ich wieder eine Kehre durchjagt, sehe ich keinen Zugang mehr, zu schnell fliege ich vorbei und die Gelegenheit dahin.

Nach unten hin wird es zunehmend heißer, die Luft flimmert über den Wiesen und dem Vallée de l’Ubaye, das ich nun zum zweiten Mal erreiche. In Jausiers nehme ich dann endlich ein Sandwich vom Imbissstand, etwas Joghurt und ein paar Früchte aus dem Supermarkt zu mir. Dort treffe ich zwei junge, noch unbekümmerte deutsche Reiseradler, mindestens so dick bepackt wie ich. Sie drehen ein Schleife durch die französischen Alpen, wollen auch Offroad-Pässe wie den Col de Parpaillon meistern, campieren wild häufig in der Nähe der Passhöhen – wieder mal Asketen auf zwei Rädern.

An der Ausfahrt von Jausiers entdecke ich eine dieser Verkaufsstellen, die durch den genossenschaftlichen Verkauf von Regionalprodukten die heimischen Bauern und Kunsthandwerker stützen. Solche Shops findet man in allen Regionen Frankreichs. Die Produkte sind hochwertig und nicht billig. Ich erwerbe nur ein paar Spezialitäten und kleine Gegenstände, doch schon steigt mein Gesamtgewicht an und ich habe Mühe alles unterzubringen. Auf besonders schmackhafte Schoko-Orangen-Stäbchen kann ich jedoch genauso wenig verzichten wie auf ein Kokosgebäck. Bonbons mit Genepy und ein Minifläschchen von diesem im westlichen Alpenraum populären Bitterschnaps sind schon als Reisemitbringsel gedacht. Der in verschiedenen Arten (gelb und klar) und Qualitätsstufen hergestellte Genepy enthält nur die Extrakte von Edelrauten aus einer Höhe von über 1600 m. Er liefert u.a. raffinierte Nuancen für Desserts, Konfiserieprodukte und Fleischmarinaden, dient aber insbesondere als verdauungsfördernder Aperitif.

Ein wenig matt und müde schleiche ich mich durch das nun eher flache Tal nach Barcelonnette, ein sehr lebendiges und schmuckes Städtchen. Wimpelfähnchen schmücken die Hauptstraße und engen Nebengässchen. Es ist gerade Jazzfest, neben den gesetzten Konzerten am Abend – darunter der schmissige Slap-Bass-Heroe Marcus Miller – spielen auch tagsüber in den Gassen und Restaurants Gruppen auf. Um solche Events auszukosten, müsste ich allerdings große Zeitverluste bei meiner Tour in Kauf nehmen, was ich dann doch lieber vermeide. Meine Versuche, Aufkleber noch nachträglich für den Col du Galibier und im Voraus für Allos und Cayolle zu erhalten, scheitern trotz der vielen Souvenirläden.





Sowohl Allos wie Cayolle erreicht man zunächst über die gleiche Zufahrtsstraße. Dann gabelt sich die Straße, der Cayolle verschwindet in ein enges, lichtarmes Tal, während die Auffahrt zum Col d’Allos sich kühn und verwirrend am Hang entlang und über tiefen Abgründen, von Viadukten überbrückt, zu meiner Linken unter der späten Nachmittagssonne entlang schlängelt. Nach einigen kleine Stopps, die noch auf die hitzebedingte Erschöpfung zurückzuführen sind, finde ich dann doch in einen guten Rhythmus hinein. War ich einen Kilometer zuvor im Zweifel, ob ich überhaupt noch einen dicken Berg schaffen kann, spüre ich jetzt eine erstaunlich große Energie. Ich erhöhe das Tempo, schweißüberströmt und entschlossen pusche ich mich nach oben. Weiter oben wird es steiler, die Energie ist nun fast aufgebraucht, leichte Winde bremsen zusätzlich. Nach einem Wald mit knorrigen Kiefern, Fichten und Eschen, oben vermehrt Lärchen, schaffen grüne Berghügel einen Fahrkanal. Damit erreiche ich die Passhöhe, ein paar Meter zuvor liegt eine Gaststätte. Das faszinierende Rundumpanorama geht seinem Höhepunkt entgegen – dem Sonnenuntergang. Dafür haben sich einige Touristen mit Klappsesseln auf den Bergwiesen postiert. Ein jugendlicher Franzose, der mich zuvor noch mit dem Mountainbike überholt hatte, reagiert etwas ungläubig als ich ihm sage, dass ich auch den Restefond-Bonette heute schon gemeistert habe.

Schnell bin ich in Foux d’Allos, einem typischen Wintersportort, viele Hotels, Lifte nahe der Straße, aber ohne Charme. Es folgt eine gemäßigte Abfahrt bis Allos, wo durch eine Kirmes viel Betrieb herrscht. Der Ort hat ein angenehmes Flair, kleine Hotels sind vorhanden, aber kein Camping. Daher fahre ich doch weiter, in Wellen gibt es Passagen, in den ich einen kräftigen Abwärtsschub bekomme. So erreiche ich noch ausreichend für das übliche Abendprogramm Colmars mit seinem Fort aus dem 17. Jahrhundert, das man zuerst von oben kommend erblickt. Der Camping liegt wenig unterhalb des Ortskerns in einer Wiesenmulde. Das Mädchen, welches mit mir abrechnen soll, würde mit den Rechenkünsten bei jeder Pisa-Studie durchfallen. Die 50 Cents, um die sie sich zugunsten des Campings unabsichtlich verrechnet, haben die Betreiber trotzdem verdient, denn es geht um einen Betrag zwischen sechs oder sieben Euro. Der Ort hat ein sehr nettes, geschlossenes Ortsbild, das Essen ist ordentlich, aber ohne französische Raffinesse.


So, 17.7. Colmars (1269m) – Col des Champs (2045m?/2087m?) – Guillaumes (798m) – Col de Valberg (1673m) – Beuil – Gorges du Cians – Puget-Théniers
[96 km – 6:59 h – 12,4 km/h – 1793 Hm]

Wenn auch der Himmel klar ist, fallen die ersten Sonnenstrahlen wegen der umliegenden Berghänge erst spät auf den Platz. Im kühlen Grunde hat sich die Feuchtigkeit auf die Zeltplane gelegt. Der Start verzögert sich demzufolge auf 8 Uhr, Gebäck und Croissants besorge ich mir aus einer Bäckerei. Der Abzweig zum Col des Champs liegt am oberen Ortseingang und wirkt so unscheinbar wie eine private Grundstückszufahrt. Da der Pass nur eine Querverbindung zwischen den beiden parallelen und nicht weit voneinander getrennten Nord-Süd-Routen von Cayolle und Allos ist, hat er nur eine sehr untergeordnete Bedeutung. Die Straße ist entsprechend schmal und zuweilen in schlechtem Zustand, eignet sich auf beiden Seiten für bedingungslose Abfahrten nicht. Die Westseite verläuft lange durch Schatten spendenden Wald. Zunächst fahre ich an einer talseitigen Allee von Ahornbäumen entlang, die aber fließend in einen Mischwald übergeht. Später bestaune ich die Lärchenbäume, die über dem Boden einen gebogenen Unterstamm haben, um so am steilen Berg alsbald gerade in die Höhe wachsen zu können. Sonnenstrahlen suchen sich einen Lichtschlitz durch die Baumkronen hindurch und erreichen über atmosphärisch wirkungsvolle weiße Strahlmuster den Waldboden als sei hier eine geheimnisvoll verschleierter Feenwald. Sehr schnell steigt die Straße, 12 km mit vielen 12%-Passagen stehen bis zum Sattelpunkt an. Von einem Picknickplatz aus kann man Colmars wunderbar in seiner runden, Schutz gebenden Häuseranordnung aus der Vogelperspektive ins Auge fassen.



Ich kämpfe bereits früh um einen guten Rhythmus, der sich aber nicht einstellen will. Auch die Hitze ist heute früher als sonst zu spüren. Ich muss übermäßig viele und lange Verschnaufpausen einlegen, erreiche die Passhöhe schließlich über eine halbe Stunde später als prognostiziert. Der Col des Champs gleicht der grünen Hügellandschaft des Col de Vars, wenngleich alles etwas wilder und urtümlicher wirkt, was eine Folge der geologisch interessanten, aus den Berghängen hervortretenden Erosionsschichten ist. Es gibt hier weder Bistro noch Kiosk. Ein paar italienische Motorradfahrer aus der Gegend südlich des Monte Rosa sind ganz begeistert, als ich ihnen berichte, dass ich auch die italienischen Alpen von den Dolomiten über das Stilfserjoch bis zum Aostatal abgeradelt habe.



Die Ostseite ist im oberen Bereich offener, viele eigentümliche Bergblumen sorgen für weitläufige sommerbunte Wiesen. Einige Wanderer nutzen den Sonntag für eine Exkursion in die Bergflora. Die Abfahrt ist schwierig. Bei starkem Gefälle hat die Straße zahlreiche Rippen, Schwellen für den Wasserabfluss und Viehgitter, die wie kleine Sprungschanzen wirken. Im unteren Bereich gibt es eine Verzweigung, man kann beide Varianten wählen. Von einem Refugio mit Kinderattraktionen schwärmen zahlreiche Wanderer aus. Die Abfahrt wird durch eine Flachpassage und durch leichte Gegenhänge unterbrochen, kurz vor St. Martin-d’Entraunes ist es dann nochmal steil auf gutem Fahrbahnbelag. Schon den kleinen Ort im Auge, lohnt sich ein Stopp an einer schattigen Wasserquelle um die Trinkvorräte aufzustocken.

Auf der nun mäßigen Abfahrt mit Flachstücken entlang der Var, die schwarzes Sedimentgestein mit sich trägt, habe ich das Gefühl, als würde ich mit einem Heißluftfön behandelt. Jetzt noch Klamotten zu tragen ist eigentlich Unfug, es sei denn zum Sonnenschutz. Trotzdem mache ich keine Badepause, weil ich riskiere mein Etappenziel zu verfehlen. Die schlechte Performance am Morgen stimmt mich pessimistisch. Für den auf dem Papier „kleinen“ Col de Valberg habe ich immerhin noch 800 Hm zu überwinden. So nehme ich auf der Straßenterrasse eines Restaurants im brütend heißen Guillaumes ein leichtes Bruschetta zu mir. Der erhoffte Kraftschub bleibt jedoch aus. Die Südtrasse ist ganz der prallen Sonne ausgesetzt und steigt stetig kräftig an ohne Erholungsphasen. Wieder pausiere ich häufig abgekämpft unter Restschatten von kleinen Bäumchen am Straßenrand. Die Route ist zudem landschaftlich wenig abwechslungsreich, zieht sich teilweise an einer aufgeheizten Felswand entlang, das einzige Wasser ist ein dünner Bergbach weit unten im Tal. Ich ärgere mich schließlich, nicht die ein Kilometer längere Route über Péone eingeschlagen zu haben, die vielleicht ähnlich trocken verläuft, aber zumindest verkehrsärmer ist.

Der viele Verkehr hier hat eine Ursache. Die Passhöhe ist identisch mit dem Wintersportort Valberg, in dem es aber auch im Sommer allerhand kommerzielles und künstlich animiertes Treiben gibt. Ein Sessellift ist im Betrieb um kleine und große Kinder zur Bergrutsche zu bringen. Man kann Kutsche fahren, Inlineskaten, Minigolf spielen, überall sind Eisdielen und Souvenirshops, man sitzt im Trubel. Mountainbiker schießen quer zu den überlaufenden Gehwegen und müssen von der Gendarmerie zur Disziplin ermahnt werden. Ich verschaffe mir mit einem Eis innere Abkühlung und hoffe auf erfrischende Abfahrtswinde. Richtung Beuil ist das Gefälle aber noch gering. Ziemlich ordinäre Weidewiesen überziehen ein kleines Hochtal. In Beuil ist noch mal ein Brunnen zum Auftanken.

Was nun kommt, ist nicht weniger als ein Weltwunder! Noch ein paar Kurven durch Wiesen hin zur Cians, die unauffällig neben der Straße dahinströmt und dann beginnt eine unvergleichliche Welt aus rost-rotem Stein. Abbrüchige Felsen ragen unmittelbar neben der Straße senkrecht in die Höhe, wasserdurchflutete Mooswände schaffen feuchte Kontraste. Die Gorges du Cians zieht sich wie ein enger Schlauch, die Sonne, kaum dass sie nicht mehr im Zenit steht, bleibt hier von Felsen verdeckt. Dann immer wieder Tunnels und Torbögen aus diesem roten Fels, die Cians rauscht über ebensolch gefärbte Steinblöcke. Die Fahrt ist rasant, berauscht, ja betört. Die Blicke gehen steil nach oben und ich muss mich zur Sicht- und Fotopause zwingen. Wundern, staunen – Wow! Im untersten Teil bleiben die Felsformationen in der Form gleich, sind aber nur noch im üblichen Grau. Noch mehr Moos, noch mehr Feuchte, der Fluss zum Bad einladend. Hier hätte ich die Mittagshitze gut überstanden.




Das flache Tal der Var bis Puget-Théniers (und weiter bis Annot) kenne ich bereits aus meiner Tour 2002, damals vom Col de Turini kommend und zur Verdon-Schlucht fahrend. Das FKK-Camp „Club Origan“ erreicht man über einen Abzweig am Ortsausgang, kurz vor der Brücke und über die Bahngleise. Nach zwei welligen Kilometern führt eine derart steile Rampe in das Camp, dass mir die Zunge an der Rezeption heraushängt. Und es sind tatsächlich volle 100 Hm von Puget-Théniers aus. Vom Zelt aus habe ich eine sehr schöne Aussicht auf das Var-Tal. Zeltnachbar ist eine nette italienische Familie. Für die freizügige Romantik zahle ich 28 € pro Nacht – ein rekordverdächtiger Preis für einen Zeltplatz. Im Camp gibt es ein Restaurant, das ordentliche Gerichte serviert, aber auch ohne besondere Finessen.


Mo, 18.7. Puget-Théniers (Ruhetag)
[13 km – 0:53 h – 14,5 km/h – 101 Hm]

Wenn insgesamt der Sommer auf meiner Tour zu wünschen übrig lässt, so habe ich mit den Ruhetagen besonderes Pech. Eingerahmt von zwei tollen Hochsommertagen ist es ausgerechnet heute stark bewölkt, erst spät am Nachmittag gibt es ein paar Wolkenlücken. Bis in den Nachmittag hinein regnen immer wieder kleine Schauern ab, die Luft bleibt aber mediterran mild. Durch den Regen und fehlenden Wind trocknet meine morgens gewaschene Kleidung nur teilweise bis zum nächsten Morgen. Nach der Waschaktion durchstreife ich die Macchia der hinter dem Camp aufsteigenden Berghänge auf einem markierten Pfad, den man nackt erwandern kann. Immer höher steige ich über das Var-Tal in Adlerhöhen. Wieder unten zurück verweile ein bisschen am Pool, später nehme ich noch ein kurzes Bad am Camp-eigenen Strand in der Var. Vom Camp geleitet dazu ein schwierig zu begehender, glitschiger Pfad entlang eines Rinnsals zum Fluss. Das sandige und steinige Sediment der Var ist aschgrau bis schwarz. Nur wenige Stellen eignen sich zum Eintauchen, die Strömung ist zu stark oder die Flusssteine sind zu klitschig um durch den Fluss zu waten. Außer zwei fröhlichen Holländerinnen findet sich auch niemand mehr für das bisschen Abendsonne ein.

Am Abend suche ich dann verzweifelt einen Kugelschreiber um meine Reisenotizen weiter schreiben zu können – der Shop im Camp hatte den ganzen Tag geschlossen. Als ich in Puget-Théniers eintreffe, haben die Geschäfte schon geschlossen. Umso erfreulicher ist dann, dass mir die Frau in der Tankstelle am östlichen Ortseingang einen Kugelschreiber umsonst überlässt, obwohl ich sonst nichts kaufe. Zurück im Ort schlendere ich durch die alten engen Gassen, die teils als Halbtreppen angelegt sind. Besonders eindrucksvoll sind die mehrstöckigen Hausbrücken, die über einige Gassen wie Torbögen gebaut sind. Die Gebäude des alten Ortskerns stammen aus der Renaissancezeit und sind immer noch bewohnt, obwohl manche Fassade ziemlich brüchig erscheint. Ein süßes Bild geben die Katzen ab, die sich jeweils auf einer anderen Treppenstufe als Fotomodelle positioniert haben. Ein wirkungsstarkes Fotomotiv ist schließlich noch ein Brunnen mit einem leicht gekrümmten T aus Holz, von dem mehrere, nach unten größer werdende Steinovale, ähnlich wie Curlingsteine geformt, an einem Seil herunterhängen, über die das Wasser herunter fließt.



Ich kann mich schließlich nicht entscheiden bei der schwülen Luft in ein geschlossenes Restaurant zu gehen, das laut Karte raffiniert zubereitete Gerichte anbietet. So esse ich lieber freizügiger im Restaurant des Camps, wo aber im Vergleich zum Vorabend es lärmend und voll ist. Es gibt einen Partyabend mit einem Einheitsmenü „Couscous“, ein Aperitif, ein Tellergericht mit Kuskus und verschiedenen Sorten Fleisch, eine Karaffe Wein und ein Dessert. Es ist zwar billig, aber auch wenig schmackhaft. Der DJ arbeitet mit Desktop und Soundfiles, womit er zwar einige Mädels beeindrucken kann, aber die Musikübergänge – das sage ich als ehemaliger Gelegenheits-DJ – sind grottenschlecht. Weil die Disco-Zone auf der halboffenen Terrasse fließend in das Restaurantareal übergeht, ist es außerdem zu laut für den Essbereich. Da ist die Ruhe am Zelt mir doch ein höheres Gut.


Di, 19.7. Puget-Théniers (418m) – P.d. Gueydan – Gorges de Daluis – Guillaumes – Col de la Cayolle (2326m) – Gorges du Bachelard – les Thuiles – le Lauzet-Ubaye
[115 km – 8:14 h – 13,7 km/h – 2008 Hm]

Etwas übermüdet gelingt mir die Abreise erst um 7:30 Uhr. Keine Wolke trübt den Himmel, der Sonnentag bleibt den ganzen Tag. Bis zur Pont de Gueydan durchfahre ich noch mal bekanntes Terrain. Das Wiedersehen mit der Festungsstadt Entrevaux (Bild aus 2002) ist aber auch im Morgenlicht eine Augenweide (damals war es abendlicher Etappenort). Der alte Ortsteil mit Rundtürmen direkt über der Var ist nur über eine alte Steinbrücke erreichbar, oben am Berg von einer mächtigen Festung flankiert. Kleines Frühstück in der Morgensonne. An der Pont de Gueydan macht die Var einen scharfen Knick und geht von dem zuvor enger gewordenen Tal überraschend in eine weite Flussaue über.



Die erwartet enge Schlucht beginnt erst nach Daluis, dessen Ortskern beschaulich über der Straße liegt. Nun steige ich stärker und alsbald tritt das graue Gestein gegenüber dem rostroten zurück. Aus der Vogelperspektive kann man die Grenze der Gesteinsfarben in der Flussebene besonders gut studieren. Bald leuchtet die gesamte Schlucht in Rot, verblüffende Felsformationen machen aus der Strecke ein Labyrinth, wobei die beiden Fahrspuren teils getrennt verlaufen, die in Südrichtung häufiger durch kleine Tunnels, die in Nordrichtung häufiger durch freie, senkrecht aufragende Felstürme. Dazwischen noch ein Brückenviadukt, das vom Schluchtende eine alternative Ostroute bis Guillaumes ermöglicht, allerdings auf schlechterer Fahrbahn. Die Straße der Gorges de Daluis verläuft im Gegensatz zur Cians-Schlucht weit über dem Flusslauf, ist trockener und der Sonne ausgesetzt, was in den Morgen- oder Abendstunden durchaus angenehm ist. Die Steigungen sind mäßig, dazwischen gibt es Flachstücke, nach Guillaumes geht es kurz runter. Manchmal tauchen die Felsen des Canyons so steil und tief hinab, dass man nicht auf den Schluchtgrund sehen kann. Wohl den Mauerseglern und Greifvögeln, die hier in solcher Kulisse zuhause sind. Einer Schlucht den Vorzug zu geben hieße auf ein Wunder mehr zu verzichten.



In St. Martin d’Entraunes möchte ich etwas Kohlehydrate nachlegen. Doch in dem im Gegensatz zu Guillaumes sehr beschaulichen Örtchen kann ich mich nicht tourengerecht versorgen. Auch das einzige Hotel kann mir nichts für on the road anbieten. Ich müsste schon für ein richtiges Essen Platz nehmen, was ich aber hier direkt vor der nun steiler werdenden Passauffahrt nicht tun sollte. Letzter bescheidener Proviant hilft über das kleinste Energiedefizit hinweg. Zum Glück ist es heute nicht ganz so heiß wie zwei Tage zuvor, als ich das kleine Teilstück zwischen Guillaumes und St. Martin d’Entraunes schon in umgekehrter Richtung gefahren war. Im höher gelegen Entraunes, nur eine kleine Häuseransammlung gibt es dann ein Refugio mit Bistro, wo ich zwei gut belegte Sandwiches erhalte, die in den Bergregionen meist mit Graubrot und nicht wie sonst in Frankreich mit Baguette gemacht werden.

Kurz vor Entraunes steigen aus einem Lieferwagen holländische Rennradler aus und beginnen hier ihren Aufstieg zum Col de la Cayolle. Vom Auto werden sie dann auf der anderen Seite in Barcelonnette wieder eingesammelt – so, so… – Umso erstaunlicher ist es daher, dass sie mich bis zu einem auf ca. 1600 m Höhe abzweigenden Wanderweg, wo ich zu einer 2-stündigen Bade- und Esspause aussteige, nicht eingeholt haben. Nur ein Paar fährt mir voraus, das ich aber auch bald passiere. In den kräftigen Kaskaden der Var haben sich hier zahlreiche Vertiefungen gebildet, die man zum Baden nutzen kann. Durch die noch großen Wassermassen ist es aber nicht ganz ungefährlich und außerdem sehr kalt. Zum Abkühlen aber allemal willkommen.

Die Ursache des schwarzen Sediments der Var kann ich dann weiter oben erkennen: Alle Wasseradern, die den Fluss speisen, laufen über schwarzen, bröseligen Schiefer, der in kleinen Stücken abgetragen wird. Dabei bilden diese kleinen Wasseradern manchmal rund ausgeformte, schwarze Wannen und sorgen für Lava-ähnliche Berghänge zwischen Wald- oder Wiesenhängen. Auch in Estenc gibt es noch Unterkunftsmöglichkeiten und Essgelegenheiten. Etliche Ausflügler schauen mir Kaffee-trinkend oder Eis-schleckend bei meiner Mühsal zu. Hier liegt das Quellgebiet der Var, das durch einen kleinen See definiert ist, der das Wasser aus den überall durchflossenen Wiesen und weiteren Bergbächen aufsammelt. Das Wiesengrün weicht bald einem aufgelockertem Fichtenwald und Bergblumen in Rot, Blau und Gelb (Genepy), die sich dem windoffenen, steinigen Untergrund angepasst haben.



Die faszinierenden Panoramablicke nach Süden verleihen mir neue Kräfte für die letzten Höhenmeter. Auf der Passhöhe ist es dann schon etwas kühl. Col de la Cayolle. 32. Tourtag. Der 32. (und letzte) 2000er! Die Kernleistung der Tour ist geschafft. Abschied vom Hochgebirge. Abschied von den Murmeltieren. Seufz. – Ich unterhalte mich mit einem österreichischen Motorradfahrer aus Gmunden auch über die Sichtweisen von Deutschen auf Schweizer und Österreicher und umgekehrt. Er sieht sein derzeit als Erfolgsmodell gehandeltes Heimatland durchaus kritisch. Der Biker möchte noch in kurzer Zeit durch die Schweiz entlang des Genfer Sees zurück nach Österreich und bittet mich um eine Routenempfehlung. Ich rate ihm den Weg über Grimsel-, Susten-, Oberalppass als die die landschaftlich abwechslungsreichste, Fahrspaß bringende und doch nicht zu schwierige Route.

Der Col de la Cayolle ist ohne jeden Kommerz, etwas unterhalb der Passhöhe gibt es zwar eine Alm, aber so was wie einen Aufkleber kann ich hier und auch weiter unten nicht erhalten. Die schon weitgehend schattige Nordseite ist deutlich kühler. Etliche Wasserfälle begleiten die rauschende Abfahrt, dann muss ich plötzlich anhalten. Ein Räumfahrzeug schafft Schiefer und Geröll von der Fahrbahn, Wasser läuft über die Straße. Eine Furt ermöglicht eine einspurige Nutzung der Straße, der Berg ist teilweise mächtig abgerutscht. Jetzt erklärt sich mir der Hinweis auf einer Digitaltafel nach Entraunes, dass der Col de la Cayolle gesperrt sei. Da sowohl Autos weiterfuhren, ich mir das nicht erklären konnte und außerdem auch bei Baustellen oft noch ein Durchkommen für den Radfahrer möglich ist, habe ich den Hinweis ignoriert. Und schließlich kann ich tatsächlich ungehindert weiterfahren. Die Gorges de Bachelard ist sehr eng, wild und ungestüm, erinnert z.B. an den Rhein bei der Via Mala.

Um nicht den Umweg über Barcelonnette zu fahren, schlage ich die Abkürzung Richtung le Lauzet-Ubaye ein, die allerdings mit einem leichten Auf-und-Ab etwas höher als die D 900 verläuft. In Thuiles stoße ich dann auf die verkehrsreiche Route. Erst bremst ein bissiger Gegenwind, dann fällt die Straße doch noch so stark ab, dass ich bequem bis le Lauzet-Ubaye rolle. Das Ubaye-Tal, in das ich nun schon das dritte Mal gelange, ist auch von hohen Bergrücken umragt, sodass die Sonne recht früh verschwindet. Entsprechend kühl wird es auf dem Campingplatz, ein sehr einfach ausgestatteter an der Ortseinfahrt. Im Ort gibt es mittelalterliche, nieder gebaute Häuserzeilen, auch wieder mit kleinen Hausbrücken über die Gassen. An der Hauptstraße – mancher LKW donnert laut vorbei – speise ich sehr gute regionale Küche auf einer Gartenterrasse.


Mi, 20.7. le Lauzet-Ubaye (906m) – (1112m) – Tallard – Plan-de-Vitrolles (580m) – Barcillonnette – Col d'Espréaux (1142m?/1160m?) – Veynes – Aspres-s-Buech (755m) – Col de Cabre (1180m)
[104 km – 7:20 h – 14,1 km/h – 1235 Hm]

Am Morgen ist es saukalt, die Sonne ist bei der Abreise um 8 Uhr noch nicht auf dem Platz. Mir fehlt die Bewegungsenergie und ich suche erst mal eine Bäckerei auf, was die Abreise schließlich auf 8:30 Uhr hinausschiebt. Meine Route verläuft zunächst stärker aufwärts als erwartet bis ich einen Aussichtspunkt über dem großen Stausee Serre-Ponçon erreiche. Von dort zweigt eine Straße zum nahen Col St. Jean nach Süden ab. Die D 900 entfernt sich vom Stausee und führt in einem Auf-und-Ab erst wieder unterhalb der Staumauer bei les Celliers zum Wasser der Durance zurück. Zuvor besuche ich in la Bréoule zwei Kunsthandwerker, wo ich ein paar kleine Mitbringsel erwerbe, darunter eine aus Leder geknautschte Schildkröte und eine Mini-Sonnenuhr, die als Symbol für die hier verlaufende Route der Sonnenuhren (von denen ich allerdings nur wenige gesehen habe) steht.



Es ist schnell brütend heiß geworden und mich verlassen alsbald die Kräfte. Für eine Rast packe ich ein dickes Sandwich in Tallard ein, wo ein vieleckiges Schloss steht, in dem Konzerte und andere Kulturevents veranstaltet werden. Etwas zu früh abgebogen, lande ich auf dem Weg Richtung Barcillonnette noch in der Talebene an einem kleinen Bächlein, das zur Abkühlung und für die Rastpause reichen muss. Ich würde jetzt in der stechend heißen Sonne am Berg schmoren, obwohl die Lufttemperatur nicht ganz so hoch ist. Obwohl eigentlich noch zu heiß, zwinge ich mich dann alsbald zur Weiterfahrt. Am Berg weht mir ein austrocknender Wind entgegen, sodass ich nur zäh voran komme, nicht zuletzt ist der Anstieg heftiger als erwartet. Zunächst blicke ich auf öde Feld- und Wiesenhänge. In der Nähe des Col d’Espréaux treten dann eigenartig geschichtete Gesteins- und Sandstrukturen hervor, wie sie auch schon am Cayolle zu beobachten waren. Die schwarze Erde steht im bizarren Kontrast zu einem grünen mediterranen Mischwald. Die letzten Kurven zur Passhöhe sind fast flach und fahren sich wie ein Slalom um Berghügel und Haine.

Die Nordseite dieses sehr wenig befahrenen Passes ist durch typisch mitteleuropäischen Mischwald geprägt. In der Talebene der Buëch setzt der Gegenwind mir immer stärker zu. Ein Radweg strebt idyllisch und geradewegs entlang des Flusses. Der Kampf überwiegt aber, die Zeit läuft mir davon. Trotz einer leichten Richtungsänderung mit der Fahrt über einen kleinen Hügel nach Aspres-s-Buëch ändert sich an der fatalen Windsituation nichts. Der Wind frischt sogar in Böen auf, als ich auf der D 993 Richtung Col de Cabre fahre bzw. kämpfe. In St. Pierre führt mich ein Camping-Hinweis in die Irre, ich verliere nochmal Zeit. Der Camping ist schließlich ein Parkgelände mit Ferienhaus bei der Heilquelle hinter St. Pierre, wo es aber kein Restaurant gibt, eventuell könnte ich in St. Pierre etwas zu essen kriegen (also wieder hin und zurück). Die Dame teilt mir mit, dass das nächste Hotel-Restaurant auf der Passhöhe liegt. Ich muss mich entscheiden, das Zeitfenster ist knapp und meine Psyche am Boden. Ich lege mich wieder in den Wind, kämpfe mich auf der schwachen Steigung nebst Wiesen und Feldern bis la Beaume. Dort schöpfe ich neue Hoffnung, als ich einen Gasthof erkenne – er hat aber geschlossen. So ziehe ich mir ein wärmendes Trikot über und lege alle Power hinein um den Berg anzugehen. Der Wind ist direkt am Berg weniger stark und ich stürme mit enormem Tempo hinauf zum Col de Cabre. Dort bekomme ich ein Zimmer für 35 €, es gibt immerhin noch Essen nach 21 Uhr, allerdings bleibt auch diesmal die Küchenleistung hinter dem üblichen Nimbus französischer Qualität zurück.


Do, 21.7. Col de Cabre – Luc – Die (400m) – Col de Rousset (1254m) – D103/D518 – Grands/Petits Goulets – Pont-en-Royans (230m) – Gorges de la Bourne – Villard-de-Lans (990m)
[127 km – 8:34 h – 14,9 km/h – 1663 Hm]

Mal wieder eine Nacht in einem richtigen Bett – welcher Luxus! Die Morgenröte sorgt für ein besonders schönes Bergpanorama am Horizont. Die Passunterkunft wird auch noch von drei Fernfahrern genutzt, die gerade ihre Schwergewichte warm laufen lassen. Die Luft ist auch hier morgens sehr kühl, als ich um 7:45 Uhr ohne Frühstück hinab fahre. Der Mischwald am schattigen Nordhang gleicht bereits dem deutscher feuchter Mittelgebirgshänge, etwa an der Schwäbischen Alb. Auf einer gut ausgebauten Fahrbahn fröstele ich mich bei mäßigem Gefälle nach unten, wo alsbald Flachstücke überwiegen. Große Felsquader ragen aus den Waldhängen auf und drücken am Horizont der Region Drôme ihren Stempel auf. Ruhig und leicht gräuselnd fließt der gleichnamige Fluss durch Wälder und Wiesen. Dann versperren riesige helle, wie zusammengewürfelt aufgetürmte Felsblöcke den Weg der Drôme. Nur eine schmale Pforte für das Wasser bildet den Durchbruch der Drôme. Wenig später breitet sich eine weite Feld- und Wiesenlandschaft aus, deren Reiz in der umgebenden charakteristischen Bergkulisse liegt. Erst bei einem Frühstück in Luc-en-Diois endet die Schattenzone dauerhaft.





Kurz vor Die besuche ich einen Jardin de Papillon, obwohl mein Zeitfenster schon wieder eng ist. Sollte ich doch gestern schon bis Luc gekommen sein, so will ich heute den Rückstand aufholen und bis Villard-de-Lans kommen. Der Besuch bei den Schmetterlingen lohnt sich aber allemal. Im tropischen Mikroklima flattern schillernd blaue und grüne Falter umher, große mit roten Augenmustern auf gelben Grund, kleine mit rot-schwarzen Fächermustern, heimische und exotische. Sie fliegen um Beine und Ohren und machen den Gang durch die Gazekäfige zu einem sinnlichen Erlebnis. Überall erläutern Tafeln (französisch/englisch) nicht nur die Artenvielfalt, sondern stellen auch die Entwicklungsstationen und die Heimatbiotope vor. Es wird Schmetterlingszucht betrieben, die Puppen können an übereinander geordneten Stangen hängend bewundert werden. Die meisten Züchtungen erfolgen jedoch in den Heimatländern der Schmetterlinge und sind mit sozialen wie ökologischen Projekten dort gekoppelt. Der größte Schmetterling der Welt (aus Indonesien) ist mit im Bild, aber nur als totes Modell. Im angrenzenden Shop erstehe ich u.a. ein Schmetterlingsmobile.

In Die lohnt es sich durch die Fußgängerzone zu schlendern. Überall locken schmackhafte Verführungen, ich bräuchte wohl ein halbes Jahr, um alles einmal probiert zu haben. Leider habe ich auf den Touren nie Gelegenheit die verschiedenen regionalen Produkte für die tägliche Küche zuzubereiten und zu kosten. Nur die eine oder andere Gebäckspezialität kann ich entweder gleich verspeisen oder in kleinen Mengen als Proviant mitführen. Die Stadt fungiert als ein kleines Zentrum für die Drôme-Region und dient als südlicher Ausgangspunkt für das Vercors.

Die Trödelei dauert ein Weilchen. So muss ich mich in der Mittagshitze wieder am Berg durchbeißen um nicht zu arg in Zeitrückstand zu geraten. Im unteren Teil breitet sich ein ebenso typisches wie klischeehaftes Postkartenbild aus, das in einem Farbraster alle Elemente der Region zusammenstellt. Unten leuchten goldfarben auf leicht geschwungenen Hügeln Getreidefelder, daneben zieren die geordneten Reihen des violetten Lavendels die Gegenhügel, Walnuss- und Obstbäume setzen passende Grüntöne dazu, dazwischen die gebleichten Brauntöne der beackerten Erde. Darüber ziehen dichte dunkel-grüne Mischwaldgürtel die Hänge hinauf, oben wachsen dann die grauen Bergklötze heraus. Über allem hängt das helle Azur des Himmels, von wo aus vereinzelte Wolken Schattenspiele auf Berg und Tal entwerfen.



Die langen Schlaufen am Berg, von oben furchteinflößend zu betrachten, machen die Steigung erträglich. Zeitweilig habe ich mit leichten Magenkrämpfen und Durchfall zu kämpfen, muss daher zweimal ungewollt unterbrechen. Schwerwiegender ist allerdings der böige und stürmische Wind, der selbst direkt am Berg nicht verschwindet. Durch die Kehren fahre ich immer eine Strecke gegen den Wind, komme fast zum Stillstand, muss sogar das Rad mal absetzen, weil ich sonst umkippen würde. Nach der nächsten Kehre werde ich dann wieder vom Wind hochgeschoben. Ein vernünftiger Rhythmus ist dabei nicht zu finden und ohne den Wind wäre ich trotz der Unpässlichkeiten den Berg mit hohem Tempo hochgefahren, weil ich doch deutliche Kraftreserven an einem unerwartet leichten Berg verspüre. Unten habe ich noch einige Radler überholt, oben ziehen dann einige Rennradler an mir vorbei. Die Passhöhe lässt sich nur schwer erahnen, weil die Straße nicht über einen Bergkamm führt, sondern in einem kurzen Tunnel zur anderen Bergseite verschwindet. Als ich noch glaube, etliche weitere Kehren bewältigen zu müssen, schießt ein holländischer Rennradler so an mir vorbei, so dass ich Übermenschliches vermute. Es stellt sich dann heraus, dass der Col de Rousset nur noch wenige Meter entfernt war und er zum Finale seinen 14-jährigen Sohn „der Ehre wegen“ abhängen musste. Wir plaudern ein wenig miteinander und genießen den eindruckvollen Blick den Berg hinunter und zu den landschaftstypischen Felsabbruchkanten hinüber.



Nach dem Tunnel gibt es ein Gasthaus und ein unansehnliches Apartmenthaus. Nach einer kleinen Abfahrt fahre ich über eine Hochtalebene, auf der alles Provenzalische verschwunden ist. Nadelwald, Mischwald und Wiesen bilden eine ziemlich „nordische“ Landschaft. Bei einer kleinen Rast nicke ich gleich ein. Wieder berappelt gelange ich zu den Grands Goulets, eine Ansammlung mächtiger Tunnelbögen, in den Stein der engen Schlucht gehauen. Am Galerieeingang liegt ein besseres Hotel, viele Touristen fahren bewundernd die Strecke ab. Die Straße ist schmal, der Fels auch in den offenen Passagen noch über dem Kopf. Kühn gebaut, rasant zum abfahren, grandios in der Wirkung. Ich fliege immer weiter nach unten. Am Ende der engen Schlucht nochmal ähnlich durch die Petits Goulets. Noch ein Stück weiter runter bin ich auf 230 m über Meereshöhe, fast auf Höhe der nahen Isère-Ebene, die Luft ist entsprechend aufgeheizt.



Pont-en-Royans ist der wichtigste nördliche Ausgangspunkt um die zahlreichen Schluchten des Vercors zu erkunden, es herrscht großer Trubel. Die Häuser wirken vom Fels ans Wasser gedrückt, hängen sogar teils reizvoll über der Bourne, gleich dahinter beginnt die Gorges de la Bourne. Schnell fahre ich weiter, nicht mehr ganz sicher, ob ich noch vor Einbruch der Dunkelheit mein Etappenziel erreichen werde. So richtig bewusst bin ich mir auch nicht der nun noch anstehenden 750 Hm, die ich nahezu ohne Erholungsphasen erarbeiten muss. Ich empfinde den Anstieg schwieriger als am Col de Rousset, wohl weil ich ausgepowert bin und ich auch auf das Tempo drücken muss. Nur im untersten Bereich gäbe es noch Campingmöglichkeiten, danach sehe ich zumindest keine geöffneten Unterkunftsmöglichkeiten mehr. Umso so mehr Natur, wieder eine Schlucht, nun von unten angefahren, ständig mit dem Blick in die hoch und senkrecht aufragenden Felskulissen, die für Greifvögel und Mauersegler ideale Nist- und Flugreviere bieten. Anfangs fließt die Bourne noch ruhig neben der Straße, bald ist die Schlucht aber während des Fahrens nicht mehr einsehbar. Wie in den Fels einrasiert ist die Straße in den Fels gehauen, der Berg über meinem Kopf hängend, kleine Galerien folgen. Für die Steigungen mobilisiere ich wieder alle Kräfte, ein ähnliches Szenario wie am Vorabend.



Und weil ich beim stetigen Anstieg kaum noch ein Ende erwarte, tritt umso plötzlicher nach einer letzten Biegung der Schlucht die Hochebene hervor, die ich noch nachmittags vom Col de Rousset kommend bereits etwas weiter nördlich teilweise befahren hatte. Der Campingplatz liegt noch unterhalb des Ortes, zu dem ein Fußweg hinaufführt. Ein kleiner Bach durchfließt den Camping, ein Holzbrücklein verbindet die beiden Platzteile. Es ist auch hier sehr kühl und nachts richtig kalt, was durch die offenen Bergwiesen rundum auch noch bildlich gestärkt wird. Vor dem fröstelnden Schlaferlebnis drehe ich noch eine Runde durch den Ort, der gut besucht ist und viel Essgelegenheiten bietet. Es ist aber ein typischer Skiort, mit wenig Charme und an einer Schickeria orientiert. So lande ich im Restaurant „Golf“, wo ich ein gutes Entrecote bekomme, ich vermisse aber auch hier etwas Ausgefallenes, Originelles.


Fr, 22.7. Villard-de-Lans – Sassenage – Voreppe (200m) – Col de la Placette (587m) – St. Laurent-du-Pont (385m) – Col de Couze (626m) – Chambery – Grésy-s-Aix – Aix-les-Bains
[120 km – 7:05 h – 16,7 km/h – 695 Hm]

Durch den kühlen Bachgrund hat sich viel Nässe auf der Zeltplane gesammelt und auch die fortwährende Morgenkälte trägt dazu bei, dass ich erst nach 8 Uhr abreise. Nach einem ersten Stück Hochebene in der Sonne gelange ich in die nächste Schlucht, die Gorges d’Engines – weniger spektakulär als die vom Vortag, aber durch die hohen Doldengewächse am Flusslauf etwas geheimnisvoll wirkend, ein bisschen an den kroatischen Nationalpark Plitvice erinnernd. Nach sanftem Gefälle öffnet sich ein weiterer Panoramablick über das Isère-Tal und die industrielle und städtische Agglomeration Grenoble. Noch ein paar schnelle Kehren und ich bin auf dem tiefsten Punkt meiner Tour, etwa 200 m über dem Meeresspiegel – und zurück im schlichten Verkehrswahn.

Der ungeliebten Verkehrsader kann ich bald mit einer alternativen Zufahrtsstraße in Richtung Voreppe nach der Brücke über die Isère entweichen. Voreppe ist ein geschäftiger Ort, schon etwas oberhalb der Ebene gelegen. Heute ist Markttag und entsprechend drängelt sich alles um die Stände mit schmackhaften Obst, Gemüse, Käse, Fleisch, Wurst, Schinken, Pasteten, Geflügel, Backwaren und allerlei nicht essbarem Krimskrams. Ich kann mir Mittagsproviant zulegen, darunter auch eine Schale köstlicher Himbeeren. Bereits als ich den kleinen Pass angehen will, ist es schwül-heiß. Mal wieder läuft mein Motor schlecht, ich fühle mich matt. In der nachfolgenden Ebene flimmert schon die Luft über dem Asphalt, ich suche dringend eine Gelegenheit zum Abkühlen. Ich verbringe schließlich drei Stunden an einem flachen Flusslauf zwischen St. Laurent-du-Pont und les Echelles. Sowohl auf der Suche dorthin als auch auf dem Rückweg irre ich ein wenig durch ein Labyrinth aus Wasseradern und Feldwegen. Die verlorene Zeit ist letztlich entscheidend für das nicht ganz glückliche Ende der Etappe.



Auch der Col de Couze hat wie zuvor der Col de la Placette keine landschaftlichen Besonderheiten aufzuweisen. Immerhin gibt es eine kurze, aber ordentliche Abfahrt nach Chambéry (Bild aus 2002), was mir auch schon aus meiner 2002er Radtour bekannt ist, ebenso wie die folgende Strecke bis Aix-les-Bains – nur damals in umgekehrter Richtung. Ich verzichte also, die Innenstadt zu besichtigen (ein Bummel lohnt sich für Erstbesucher, denn es ist eine quirlige, aber dennoch charmante Studenten- und Einkaufsstadt mit viel Flair). Zwar kann ich die Stadt schnell umfahren, jedoch gelange ich auf der ebenen, mit Tempo fahrbaren Fahrradstraße etwas von der direkten Route ab, weil ich den richtigen Abzweig verpasse. So komme ich am Südwestende des Lac du Bourget heraus (Sicht auf den See zunächst nicht möglich) und zurück zur Straße nach Aix-les-Bains (zunächst noch parallel Radweg), wo die Ruhe der sanften Wasserfläche mit dem Verkehr an seinem Ufer um die rechte Stimmung kämpft.



Ein Inlineskater bezirzt seine Auserwählte und beginnt plötzlich und ohne jeden Blick zur Seite mit einem unberechenbaren Tanz auf den Rollen, der ihn stolpernd auf die Überholspur (bzw. Gegenfahrbahn) des gut ausgebauten Radweges kolportiert. Eine Kollision kann ich nicht mehr verhindern, aber es reicht ihn über die Lowridertasche seitlich vom Lenker abzuwehren. Während ich zwar verärgert bin, aber mich auf dem Rad halten kann, erwischt ihn die gerechte Strafe, die ihn zu Boden purzeln lässt. Es zeigt sich wieder, dass sogar gut ausgebaute Radwege (Inlineskaten ist hier erlaubt) gefährlicher sind als die Straße, weil das rücksichtslose oder unbedachte Verhalten auf Radwegen nicht wirklich sanktioniert werden kann. Solche „Versehen“ gelten bei den Betroffenen als Kavaliersdelikt. Aus diesem Grunde sollten alle Gesetzgeber das Radfahren auf Radwegen grundsätzlich nur anempfehlen und nicht zwingend vorschreiben. Die Entscheidung auf der Straße zu fahren, auch bei parallelen Radwegen, kann nur der Radfahrer selbst treffen, der sowohl sein Art des Radfahrens als auch die Verhaltensweisen seiner Kollegen einordnen muss. Es ist nicht zuzumuten, dass Radfahrer sich wider besseren Wissens in Gefahr begeben, weil der Gesetzgeber stupide Verkehrsregeln vorschreibt. Der Radfahrer ist sehr wohl in der Lage seine persönliche Gefahrensituation abzuwägen und die entsprechenden Verkehrswege auszuwählen. Flexibilität tut in unseren Gesetzen und Verordnungen Not.

Das Klima am See ist sehr mild und ich überlege zunächst gleich hier zu campieren. Doch ich fahre zunächst weiter, weil es auch in Grésy-s-Aix leicht außerhalb einen Camping gibt. Es geht für mich etwas unerwartet nach oben, allerdings nur mit mäßiger Steigung. In Grésy finde ich zunächst keinen Camping, aber auch kein geöffnetes Restaurant. Ich überlege noch, ob ich mein ursprüngliches Etappenziel Cusy erreichen könnte. Die Straße scheint moderat steigend weiter zu verlaufen, doch wenn sich das ändert, wird es zum Essen in der Provinz zu spät sein. Also kehre ich wieder um, sehe zwar die Zufahrt zum Camping, der abgelegen liegt und ich zum Essen runter und mit vollem Magen wieder bergauf radeln müsste. Kein Blick auf den See und die Autobahn noch im Rücken. So beschließe ich wieder an den See zu fahren und auf einen Camping in Aix-les-Bains zu gehen. Wie befürchtet, bestimmen Schickeria und exklusiver Kommerz die Uferpromenade. In einem Restaurant bekomme ich wieder ordentliches Essen ohne Gourmet-Kniffe, Service eher etwas schlapp.


Sa, 23.7. Aix-les-Bains (240m) – Cusy – Col de Leschaux (897m) – Annecy (445m) – Col d'Evires (810m) – Bonne – Genève (375m)
[113 km – 7:36 h – 14,7 km/h – 1089 Hm]

War der Vortag schon ein etwas unglücklicher, so wird der heutige zu einem kleinen Einbruch. Es sind gerade die vermeintlich leichten Etappen, die einen aus den verschiedensten Gründen aufreiben können. Der Morgen ist ausnahmsweise mild, doch ich fühle einen gewissen Kopfdruck. Möglicherweise habe ich abends – weil kein Wasser kostenlos gereicht wurde – zu wenig Wasser zu Essen und Wein getrunken, was sich durchaus zu Kopfschmerz führen kann. Das nächtliche „Nachtanken“ mit Wasser kommt dann manchmal zu spät. So schon etwas geschlaucht, kann ich ohnehin nicht vor 8 Uhr losfahren, weil abends die Rezeption des Campings nicht mehr besetzt war und der Nachtwächter nur den Ausweis einbehalten hat, aber sich weigerte, mich bereits abends zahlen zu lassen. Das Ganze Prozedere zieht sich dann noch eine zusätzliche halbe Stunde hin. Weitere Zeit vertrödele ich am Seeufer.

Endlich wieder aufwärts nach Grésy und weiter, zunehmend auch mit einigen stärkeren Steigungen, nach Cusy, finde ich trotz des Kopfschmerzes einen guten Rhythmus. Doch ich bin irgendwie körperlich erschöpft, der Kopfschmerz und ein tiefes Schlafgefühl wollen auch nicht nach einem kleinen Zwischenfrühstück weichen. Selbst in den flacheren Passagen quäle ich mich, eine kleine Zwischenabfahrt treibt mich bis zum Wendepunkt la Charniaz. Noch leuchtet das Tal grün im Sonnenlicht, doch bald trübt der Himmel ein und es bleibt eher kühl. Trotz der Malaise gelingt mir der restliche Anstieg zum Col de Leschaux recht flott. Ich fahre an einem Kunstatelier vorbei, der u.a. einen lustigen Fliegenpilz als Demo-Objekt außen aufgestellt hat.



Außer einigen Rennradlern hält auch ein Auto mit einem jungen Paar auf der Passhöhe, während ich eine Banane und Joghurt verspeise. Er ist Holländer, sie ist Schwedin, wohl frisch verliebt, sie unterhalten sich in Englisch. Sie fragen mich nach einer bestimmten engen Schlucht, die in einem Prospekt abgebildet ist und die sie durchwandern wollen. Wir stellen bald fest, dass sie kein geeignetes Kartenmaterial haben und sich daher völlig verfahren haben. Jetzt sind sie ganz enttäuscht und wissen nicht so richtig weiter. Zwei so herzzerreißend niedergeschlagene und doch anmutige Gesichter – hoffentlich haben sie noch was Schönes am Tag erlebt.

Von der gemäßigten Abfahrt habe ich weit tragende Panoramablicke über den Lac d’Annecy, obwohl die fehlende Sonne und eine dunstige Luftschicht keine guten Bilder zulassen. Am See ist es dann mild bis schwül, aber nicht richtig Sommer. Annecy ist mit seiner Lage am See, den großen Gärten an der Seepromenade, den alten Häusern direkt am Wasser der Kanäle, den kleinen Brücken, den verwinkelten Gassen, den schmalen Stadttoren und Übergängen, dem überbordenden Blumenschmuck, den vielen kleine Blickfängen von verzierten Details an den Häusern und nicht zuletzt die Vielfalt der Geschäfte mit Delikatessen und Kunsthandwerk bis hin zum Kitsch ein der schönsten Städte der Welt. Das Ambiente nimmt einen gleich gefangen, selbst wenn ich vor Touristen nur schwer einen Überblick behalten kann. Weil ich doch sehr matt und müde bin, entschließe ich mich zu einer längeren Trödelei durch die Gassen. Ich kaufe einen „radelnden“ Kerzenständer, schnuppere den Unterschied zwischen Vanille aus Tahiti und La Reunion (entscheide mich für eine sündhaft teure Stange aus Tahiti) in einem Spezialgewürzladen, lecker gefüllte Schokostäbchen und Savoyer Himbeerbonbons aus einer noblen Patisserie erhöhen nochmal meinen Ballast – hier gäbe es sogar Handtaschen aus Schokolade! Und selbst die Speisekarten sind mit viel Liebe einfallsreich kreierte Schmuckstücke, mit denen die Restaurants um ihre Gäste werben.



Die Luft ist immer noch drückend schwül als ich die Stadt gegen 16 Uhr verlasse. Ein kleines Stück muss ich über eine Kraftfahrtstraße fahren, weil es mir an einer alternativen Ausfahrtorientierung fehlt. Die folgende N 203 ist sehr stark befahren, obwohl es eine Alternative via Autobahn gibt. Die Landschaft erinnert manchmal etwas an die Weide- und Wiesenhügel im Allgäu, sonst an andere deutsche Mittelgebirge. Außer den fortwährenden Kopfschmerzen treten auf dem Weg zum Col d’Evires keine nennenswerten Schwierigkeiten auf. Die Straße bei der Abfahrt ist autobahnähnlich bis la Roche-s-Foron, das in einem weiträumigen Bogen verläuft. Da ich noch auf das Etappenziel Thonon-les-Bains spekuliere, schlage ich den Abzweig nach Genf aus. Es geht schnurgerade, mit ungewohntem Weitblick – das Ende der Bergwelt ist jetzt Fakt – und über eine etwas schlechtere Fahrbahn Richtung Bonne, bald wird es auch flach. Ich trete zunehmend zäh, leichte Anstiege verursachen wieder stärkere Kopfschmerzen. Ich muss erkennen, dass der Weg nach Thonon-les-Bains zu weit ist, nicht mehr in angemessener Zeit vor Einbruch der Dunkelheit machbar ist. Ich muss den kürzeren Weg Richtung Genf einschlagen, um einen Campingplatz oder eine Jugendherberge zu erreichen.

Annemasse, in der Karte als sehenswerte Stadt eingetragen, erlebe ich nur als unfranzösische, völlig überfremdete Industriestadt mit niedriger Lebensqualität – wohl habe ich die Altstadt verpasst. Doch ich sehne mich nach einem erholsamen Etappenende und fahre dessen ungeachtet weiter bis Genf. Dort ist es schwierig, jemand zu finden, der verständlich Auskunft geben kann. Der Camping liegt 8 km außerhalb am Südufer, so entschließe ich mich zum Aufenthalt in der Jugendherberge, die ich zwar schon mal 1986 (mit dem Auto) besucht hatte, aber von der mir nichts im Gedächtnis geblieben ist. Lediglich die Blumenuhr an der Seepromenade ist mir noch gut in Erinnerung, obwohl sie je nach Jahreszeit immer wieder ihr Gesicht mit unterschiedlichen Blumen wechselt. Heute funktioniert in der Jugendherberge alles mit einer Hightech-Karte, bis in die Dusche hinein und recht umständlich. Man kann fast nichts in den Händen halten, weil man ständig die Karte zücken muss, um weiterzukommen. Auf dem Zimmer sind Engländer und ein Japaner, dem meine Schilderung der japanischen Meile von Zermatt etwas peinlich ist. Die internationale Stadt hat sich zu einer extremen Multikulti-Emulsion entwickelt. Daher finden ich gleich in der Umgebung der Jugendherberge Restaurants unterschiedlichster Nationalitäten, aber ich fühle mich nicht in der Schweiz, alles ist zu überfremdet, es fehlt Authentizität, es fehlt Identität. Der Autoverkehr ist übermäßig und hektisch, eine Schweiz ohne Romantik eben. Eigentlich will ich mich mit einem gelungenen Abschiedsmenü für meine Megatour belohnen. Doch das Essen ist nur mäßig, die Bedienung unfreundlich und der Preis astronomisch hoch. Eben typisch Weltstadt.




So, 24.7. Genève – Nyon – Lausanne |15:30-22:00| Stuttgart
[66 km – 4:07 h – 16,0 km/h – 223 Hm]

Warum eine Festunterkunft nicht immer die bessere Wahl ist, zeigt sich auch diesmal. Die Jugendherberge ist gut ausgelastet, entsprechend eng ist es in den Zimmern und es fällt mir schwer die Sachen schnell einzupacken. Die Zimmer sind trotz bescheidener Außentemperatur sehr warm, kaum geeignet für einen gesunden Schlaf – erst Recht nicht im Oberbett. Der Waschraum hat sogar ein wahrhaftes Tropenklima. Obwohl es bereits ab 6:30 Uhr Frühstück gibt, kann ich die frühe Zeit nicht nutzen. Dann kommt ein größerer Schwung an Gästen und ich plaudere mit einer netten Berlinerin. Sie arbeitet als Lehrerin, alles aber nur auf Zeit und sucht daher eine bessere Perspektive an einer deutschen Schule in der Schweiz oder in Frankreich, wo sie anschließend noch weiter zu Freunden reist. Da sie nur mit dem Zug fährt, gerne aber etwas von den Alpen sehen möchte, nicht zu weit von ihrer Route nach Frankreich abweichen möchte, kann ich ihr kaum etwas Weiterempfehlen. Denn anders als in der Schweiz sind die interessanten Alpentäler und -berge in Frankreich meistens nicht mit der Eisenbahn zu erreichen. Bis dann der Regen in leichtes Tröpfeln übergeht ist es bereits 10 Uhr. Das ehrgeizige Etappenziel Bern (und noch anschließender Bahnfahrt) ist gefährdet. Irgendwie hat sich in den letzten Tagen eine fortwährende Unpässlichkeit eingenistet. Schon wieder leide ich an leichtem Durchfall und es geht auch nicht ganz ohne Kopfschmerzen. Fehlen mir die hohen Berge oder habe ich die natürliche Grenze für eine solch hohe körperliche Dauerbelastung erreicht?

Von dem Park am nördlichen Seeufer habe ich dann nochmal einen schönen Blick über die gesamte Bucht der Stadt mit dem Wahrzeichen, der 140 m hohen Wasserfontäne. In dem trüben Licht wirkt dann doch alles etwas trist. Da ich schon nach einem Kilometer die Fahrt unterbrechen muss, gelange ich unfreiwillig zu den Toiletten des botanischen Gartens. Teilweise in Glashäusern angelegt, gibt es bei freiem Eintritt eine Vielzahl exotischer Pflanzen zu bewundern. Ich habe aber weder Zeit noch Geduld, um intensiver in diese Welt einzutauchen. Bei kühlem Halbregenwetter versuche ich zwar Tempo zu machen, doch die angrenzenden Weinberge haben zur Folge, dass es leicht hügelig wird. Auch bei engagiertem Tritt kann ich nicht die nötige Durchschnittsgeschwindigkeit erzielen um Bern in angemessener Zeit zu erreichen. Auch für die Alternative Fribourg ist das Zeitfenster bald zu eng und ich sehne mich dann letztlich nach einem gemütlichen Ende in Lausanne. Damit wird die letzte Etappe zu einer etwas unbefriedigenden Halbetappe, in gewisser Weise auch eine Folge der letzten Tage, die nicht so günstig verlaufen sind. Ich wollte ja eigentlich noch eine Tempo-Etappe machen und ein bisschen Kilometer fressen. Und leider lässt sich die Schweiz auch nur schlecht mit dem Zug durchqueren, wie ich noch erlebe.

Die Route verläuft zwar manchmal hinter den Mauern von Privatvillen mit Zugang zum See, aber ist doch reizvoller als ich mich zu erinnern vermag. Unter den hübschen Orten ragt das mittelalterliche, fast kreisrund gebaute Nyon besonders heraus. In Morges steht ein imposantes Schloss, demgegenüber ich auf einer Verkehrsinsel ein symbolisch künstlerisch inszeniertes Ensemble aus Velos entdecke, das genau rechtzeitig zum Tourende auftaucht. Ich stelle mein Rad unter dem Banner „Arrivée“ dazu. Das war’s!? – Noch nicht…



Das gemütliche Ende im Zug wird dann doch noch zur Odyssee. Das Bahnland Schweiz versagt völlig, als ich am frühen Nachmittag in Lausanne mit dem Velo eine Fahrt nach Stuttgart ordern will. Zunächst bekomme ich die Auskunft, dass ich ohne Reservierung keinen Zuganschluss an diesem Tag mehr bekommen könne. Mit dem Hinweis, dass möglicherweise alle Stellplätze für Räder belegt sein könnten, erhalte ich dann doch ein Ticket für den IC nach Zürich. Die Dame, mit der Buchung des Fahrrades im grenzüberschreitenden Verkehr überfordert, verkauft mir schließlich zwei verschiedene Velotickets, was ich zunächst aus Zeitgründen nicht monieren kann. Dann bekomme ich noch ein ICE-Ticket für die Strecke Zürich – Stuttgart. Es soll die einzig mögliche Verbindung noch an diesem Tag sein, so die Auskunft. Meine im Internet recherchierten Rückfahrtalternativen sind zwar andere, die findet sie aber erst gar nicht.

Der Zug hat dann genügend frei Plätze für Velos, warum er ausgebucht sein sollte, erschließt sich mir nicht, außer das Schweizer Buchungssystem ist mangelhaft. Im Zug frage ich dann wegen des ICEs nach, der eigentlich keine Fahrräder mitnimmt. Entscheidende Hilfe auch dort nicht. In Zürich versuche ich einen Zug nach Konstanz zu nehmen, was aber ein Umweg ist und daher nicht der gebuchten Strecke entspricht. Der Schaffner lehnt ab und verweist mich auf das Bahnreisezentrum. Dort gibt es wenige spezielle Schalter für Beschwerden und Umbuchungen. Ich muss eine Nummer ziehen, um an die Schalter zu gelangen, es dauert natürlich ein gewisses Weilchen. Schließlich bekomme ich dort die Auskunft, Velo und ICE geht nicht, eine alternative Verbindung gäbe es heute nicht mehr nach Stuttgart (7½ Stunden vor Mitternacht bei schlichten 220 km!). Der Zug via Konstanz ist längst abgefahren. Ich beschwere mich über die seltsamen doppelten Radkarten, bekomme eine erstattet. Mit über 120 € fahre ich aber immer noch weit über dem Preis, den ich vor meiner Reise im Internet recherchiert hatte. Ich beklage mich weiter über die miserable Auskunft, außerdem habe ich jetzt wertlos gewordene Tickets. Eine ausstehende Übernachtung würde die Ausgaben ins Astronomische wachsen lassen. „Ist das die Schweiz, dicke abkassieren, aber keine Leistung bringen?“ frage ich schließlich frech und vorwurfsvoll. Nochmal verschwindet die Dame in den Hinterzimmern. Dann heißt es, der ICE nimmt doch Räder mit!?

Den Rest des Aufenthalts am Zürcher Bahnhof nutze ich, um doch noch die Reise mit einem kulinarischen Schmankerl ausklingen zu lassen. Echtes Zürcher Geschnetzeltes mit Rösti. Nun super war es für die üblichen Schweizer Hochpreise nicht, aber doch besser als manche andere Mahlzeit in der Schweiz. In den ICE steige ich dann in der Nähe des Bistros ein, es gibt genügend Platz, aber kein Fahrradabteil – wie sollte es auch. Auch die Dame am Zürcher Hauptbahnhof – und wer immer noch dazu – hat keine Kenntnis über die einzelnen Bestimmungen. Vielleicht hat sie sich auch unter Druck gefühlt und einfach die Verantwortung auf den Zugführer abgeschoben. Da mich beim Einsteigen das Zugpersonal nicht bemerkt hat, sitze ich bereits im fahrenden Zug, als es der Schaffner merkt. Dabei sieht er es nicht anhand meiner Tickets – die hat er offenbar blind abgestempelt – erst als er vorbeiläuft, bemerkt er mein Rad. Er kann zwar das Wirrwarr der Schweizer Bahnauskunft nicht nachvollziehen, kommentiert aber: „Nun sitzen Sie ja schon im Zug, und anders wären sie ja ohnehin nicht mehr nach Stuttgart gekommen.“ – Es geht doch, Herr Mehdorn! Warum nicht auch offiziell?