Kalte Heimat und Baltikum

von: Dietmar

Kalte Heimat und Baltikum - 27.12.09 14:19



Im Faden Kalte Heimat (Länder) habe ich den Plan für unsere diesjährige Radreise beschrieben. Das besondere unserer Reise war, dass sie uns nicht nur in bisher unbekannte Länder führen sollte, sondern, dass sie auch viel mit der Vergangenheit meiner Familie und der jüngeren Geschichte der bereisten Länder zu tun hatte. Hier nun der Bericht:


1. Brandenburger Prolog

An einem Freitagnachmittag starten wir bei bewölktem Himmel die 1. Etappe. Aber kurz vorm Alexanderplatz scheint schon die Sonne, ein gutes Omen für die gesamte Tour.



Schnell noch das „offizielle“ Startfoto am Roten Rathaus



und schon geht es richtig los auf dem Europaradweg R1, dem wir bis zur polnischen Grenze bei Küstrin-Kietz und danach durch fast ganz Polen folgen werden. Nachdem wir den Plänterwald passiert haben, erreichen wir die BVG-Fähre über die Spree von Baumschulenweg nach Wilhelmstrand, die erste und kleinste von 4 Fähren auf unserer Reise.



Die 2. Etappe am Samstag beginnt ländlich, hier in Liebendorf.



Die Strecke ist fast immer gut ausgebaut und bestens ausgeschildert. Außerdem fahren wir zum ersten Mal mit GPS-Navigation, also mit „himmlischer Unterstützung“.



Für Deutsche-Reichsbahn-Fans gibt es am Bahnhof in Buckow, Märkische Schweiz, Interessantes zu sehen.



Durch blühende Landschaften geht es bis zur Oder. Auf dem Deichradweg herrscht starker Gegenwind, so dass wir lieber auf der Deichverteidigungsstraße fahren.



In Küstrin-Kietz erreichen wir die polnische Grenze. Wegen der neuen Ortsumgehung gibt es einen kleinen Umweg zur Grenzbrücke. Von dort sehen wir zum ersten Mal die berühmte Festung auf der Insel.




2. Noch ist Polen nicht verloren

Seit Dezember 2008 gilt hier das Schengen-Abkommen, so dass sämtliche Kontrollen entfallen sind. Kostrzyn reicht uns noch nicht, so dass wir ein paar Kilometer drauflegen. Nach 125 km sind wir in Osno Lubuskie, unserem ersten polnischen Etappenort. Im Wellness-Hotel Afrodyte gehen wir in die Sauna. Die Übernachtung war als Vollpension recht teuer, aber Schwimmbad und Sauna waren im Preis inbegriffen. Als wir am nächsten Tag auschecken, erlässt man uns sogar noch die Kosten für das Mittagessen. Die 3. Etappe am Sonntag startet bei Nieselregen. Nach 10 km können wir aber die Regenjacken wieder ausziehen.



Die Fahrt geht durch ehemals deutsche Dörfer im Lebuser Land. Die meisten Häuser sind seit dem Nachkriegs-Besitzerwechsel fast unverändert. Die Dachziegel wurden oft durch Wellasbest ersetzt. Viele Nebengebäude und Stallanlagen sind eingefallen. Die Kirchen sind allerdings meist gut saniert.



Zwischen Stoki und Dormowo verläuft der R1 auf einem Feld- und Waldweg, der dank vorangegangenem Regen einigermaßen fest ist, sodass wir nur mal kurz schieben mussten. Damit die Idylle komplett wird, huschten noch ein paar Rehe und Eichhörnchen über den Weg.



Unser am Vormittag gebuchtes Hotel Neptun am Jezioro Miejskie in Miedzychod (dt. Birnbaum) erreichen wir nach 107 km. Die Reservierung erwies sich aber als sinnlos, da wir, wie so oft in Polen oder im Baltikum, die einzigen Gäste waren. Das Frühstück im Hotel ist sehr reichlich, so dass wir noch ein paar Stullen für den Tag schmieren können. Die 4. Etappe am Montag beginnt bei Sonnenschein. Auf der Straße nach Drezdenko (dt. Driesen) reinigt die Straßenmeisterei die Randstreifen – mit dem Fahrrad.



Auf dieser Straße haben wir noch eine Begegnung mit 2 Reiseradlern aus Niedersachsen, die in Sankt Petersburg gestartet waren. Einer der beiden war in den letzten Kriegstagen in Schneidemühl (jetzt Pila) geboren. Leider hatte er kaum noch Spuren seiner Eltern wiederfinden können. Der R1 führt oft auf herrlichen Alleen, meist mit wenig Verkehr. Meist fahren wir nebeneinander und niemand stört sich daran.



Am Wegesrand sehen wir immer wieder Storchennester. Polen scheint „das“ Land der Störche zu sein. Oft sehen wir sie neben uns im Straßengraben oder auf einem Feld bei der Nahrungssuche.



In Trzcianka (dt. Schönlanke) erreichen wir nach 110 km die Pension „Nad Logo“. Marek, der Inhaber spricht sehr gut Deutsch und empfiehlt uns zum Abendbrot den Kiosk am See mit Forellenräucherei (sehr schmackhaft und extrem preiswert). Das exklusive Frühstück in Mareks „guter Stube“ reichte mal wieder über den ganzen Tag.



Die 5. Etappe beginnt natürlich bei Sonnenschein und führt am Anfang auf Waldwegen (als Variante geht auch eine Asphaltstraße) und danach wieder auf schönen Straßen durch



idyllische Orte und Landschaften.



In Pila (dt. Schneidemühl) trifft man nur noch auf wenig deutsche Überbleibsel, denn die Stadt war im letzten Krieg sehr stark zerstört. Hier war mein Vater 1945 auf dem Heimweg von der Kriegsgefangenschaft in seine ostpreußische Heimat für 2 Jahre Zwangsarbeit auf einem polnischen Gut verpflichtet worden.



Große Viehherden sahen wir in Polen nicht, statt dessen viel Privatwirtschaft.



Da es in Osiek am R1 weder Hotels noch Privatquartiere gibt, müssen wir noch 5 km weiter nach Wyrzysk. Unterwegs ereilt uns die einzige Panne unserer Fahrt. Noch einmal aufpumpen und schon erreichen wir das „Dom Polski“, ein Musterbeispiel postsozialistischer Gastlichkeit, immerhin sehr preiswert und das „staropolska Golonka“, so eine Art Pökeleisbein mit Sauerkraut, zum Abendbrot ist sehr schmackhaft.



Heute bringen wir es auf 89 km. Vor dem Abendbrot wird noch das Rad repariert, mitten auf dem Marktplatz, mit zahlreichen Zuschauern.



Die 6. Etappe am Mittwoch beginnen wir wieder bei Sonnenschein und Rückenwind und wohlwollenden Blicken dieser Dame, mit einem Einkauf, um das Flickzeug zu vervollständigen. Hier hatte ich bei den Vorbereitungen etwas geschlampt und nicht auf Vollständigkeit geachtet. Danach noch einen Stopp an der Tankstelle, um den richtigen Reifendruck zu erzeugen.



In Koronowo (dt. Krone) gibt es Mittagessen am Kiosk mit Suppe, Kaffee und reichlich Kuchen, der hier sehr vielfältig, schmackhaft und preiswert ist. Nach ruhiger Fahrt durch viel Natur gelangen wir zur Weichsel bei Chelmno. Über den Fluss geht es entlang einer Nationalstraße mit sehr starkem Lastverkehr, allerdings von diesem durch eine Leitplanke getrennt.



Die Stadt mit historischem Zentrum erreichen wir nach 116 km. Im „Hotelik“ direkt an der Stadtmauer fühlen wir uns bei freundlichen Gastgebern sehr wohl. Der Sohn des Chefs ermöglicht mir am Computer in der Rezeption einen Blick ins Forum. Die 7. Etappe beginnt am Donnerstag bei etwas trübem Wetter. Die Sonne meldet sich aber später wieder. Viele Häuser sind für den heutigen Feiertag – Fronleichnam – geschmückt.



Überall sehen wir Neubauten, manchmal scheint den Bauherren auch das Geld ausgegangen zu sein, so dass viele Rohbauten in der Landschaft herum stehen. Oft ist der aufwendige Zaun bereits fertig.



Marek meinte dazu, dass sich viele Leute bereits beim Zaun so verausgaben, dass kein Geld mehr fürs Haus übrigbleibt.



Kurz vor Grudziadz (dt. Graudenz) sehen wir die erste Prozession, nachdem uns die Polizei gestoppt hat und uns bat zu schieben. An der Spitze die Feuerwehr,



dann verschiedene Uniformen, Blumenkinder, Hochwürden unterm Baldachin, angeführt von zahlreichen Ministranten.



Polnische Mischung: Jungfrau Maria (das ist die Statue) und dahinter ein sowjetisches Ehrenmal für die Gefallenen des 2. Weltkriegs



Hier führt der R1 direkt an der Weichsel entlang,



die Festung haben wir erst halb umrundet und dann schiebend genommen.



Nach der Festung fahren wir durch die Altstadt und treffen auf dem Marktpatz auf die nächste Prozession.



Hier ist auch die polnische Armee dabei, alles attraktive junge Damen.



Das Mittagessen findet heute auf dem Weichseldeich statt.



Anschließend fahren wir auf glattem Asphalt durch schöne Dörfer in der Weichselaue, vorbei an interessanten Grundstücken …



… und durch blühende Landschaften.



Da es die Radlerunterkunft in Biala Gora nicht gibt, müssen wir von unserer geplanten Route abweichen, also 12 km bergauf nach Sztum (dt. Stuhm). Dort übernachten wir im Hotel Baster, das seine beste Zeit schon lange überlebt hatte. Der Wirt spricht russisch, was die Zimmerreservierung vorher am Telefon erleichtert hat. Das restliche Personal spricht drei Wörter englisch und versucht, uns damit zu beeindrucken.



Für den nächsten Tag wird eine neue Route auf dem Navigationsgerät geplant, um wieder auf den richtigen Kurs nach Malbork (dt. Marienburg) zu kommen. Ab hier weichen wir von der offiziellen R1-Strecke ab, um persönlichen Ambitionen zu folgen. Vor der Marienburg halten wir nur zu einem Fotostopp. Der Radweg ist mit deutschen Bus-Touris verstopft, die wir mit ein bisschen Klingeln aufschrecken.



In Sztutowo, Ort des ersten deutschen KZ (Stutthof) auf polnischem Boden, biegen wir ab zur Frischen Nehrung. Hinter Rybackie (dt. Bodenwinkel) sehen wir zum ersten Mal das Frische Haff (polnisch Zalew Wislany). Die einzige Straße auf der frischen Nehrung nutzten 1945 fast eine halbe Million Flüchtlinge aus Ostpreußen.



Nach 85 km (gesamt 791 km) erreichen wir Krynica Morska (dt. Kahlberg). Das Hotel Kahlberg ist frisch renoviert und mit 60 € unsere teuerste Übernachtung in Polen. Dafür gibt es einen schönen Blick über das Frische Haff, das in den Erzählungen meiner Mutter und meiner Großeltern stets eine große Rolle gespielt hatte.



Krynica Morska hat einen kleinen Hafen am Haff. Um auf die Seeseite zu kommen, müssen wir einen kleinen Hügel überwinden. Dazwischen gibt es viel Rummel aber auch ein paar schöne Villen und Hotels. Im Vergleich zur deutschen Ostseeküste geht es hier noch recht preiswert zu. Am Samstag starten wir die 9. Etappe bei Nieselregen. Nach kleiner Runde am Fischhafen fahren wir zum Fährhafen, wo unser Schiff nach Frombork bereits wartet.



Auf Deck ist es recht windig, deshalb bleiben wir fast die gesamte Fahrt im Bordrestaurant. Hier treffen wir auch ein polnisches Radlerpärchen, dass die polnische Ostseeküste entlang radelt und von Braniewo mit dem Zug zurück fahren möchte.



Der Kapitän lädt mich ein, auf die Brücke zu kommen. Er kann ein wenig Englisch, sein Matrose aber ganz gut Russisch. So erfahre ich, dass der lupenreine Gasprom-Kanzler auch schon mal mit auf dem Schiff war (ein Foto von Kapitän und Gerd dem Pipeline-Experten hängt im Restaurant). Auf meine Frage, wann das Haff zuletzt zugefroren war, meint er, dass das etwa alle 5 Jahre passiert.



Nach 1,5 Stunden kommen wir in Frombork (dt. Frauenburg) an. Der Dom aus dem 14. Jahrhundert, Wirkungsstätte von Nikolaus Kopernikus, ist schon von weitem zu sehen.



Wieder auf dem Festland finden wir in einem kleinen Park den Gedenkstein, der in deutscher und in polnischer Sprache über die Flucht von 450.000 Ostpreußen über das zugefrorene Frische Haff im Januar/Februar 1945 informiert. Zu ihnen gehörten auch meine Mutter und ihre Eltern.



Anschließend fahren wir bei anhaltendem Nieselregen auf der Landstraße 505 Richtung Süden.



Bald erreichen wir Wielkie Wierzno (dt. Groß Rautenberg), Geburtsort meines Vaters. Neben verlassenen alten Gehöften gibt es auch gepflegte Grundstücke und ländliches Idyll.



Die Taufkirche meines Vaters ist frisch verputzt. Leider ist sie verschlossen.