Re: Kalte Heimat und Baltikum

von: Dietmar

Re: Kalte Heimat und Baltikum - 27.12.09 14:53


Später erfahren wir, dass sie auch im Inneren ordentlich saniert ist. Die alte „Reichsautobahn 1“, einst geplant von Berlin nach Königsberg – in diesem Abschnitt als Nationalstraße wieder hergerichtet - überqueren wir bei Nowe Sadluki (dt. Neu Sadlucken).



Nach ein paar Kilometern sehen wir den Hof, den mein Großvater bis 1945 bewirtschaftete.



Jan, der jetzige Bewohner ist sehr freundlich und lässt uns alles ausgiebig besichtigen. Er wohnt bereits seit 1946 hier. Er gehörte zu den polnischen Vertriebenen, die aus dem damaligen Ostpolen (jetzt Ukraine) in die ehemals deutschen Gebiete umgesiedelt wurden. Das Wohnhaus sieht wahrscheinlich so aus, wie es 1945/46 verlassen wurde, selbst die alte Hausnummer war noch da, leider unlesbar verrostet. Fenster und Türen stammen aus Vorkriegszeiten. Leider sprach Jan nur wenig russisch, so dass wir nur ein paar Daten austauschen konnten.

Nach der Überquerung der hier zu einem Stausee verbreiterten Pasleka (dt. Passarge) sind es nur noch wenige Meter bis Dabrowa (dt. Schöndamerau). Hier die Dorfstraße, da hat sich bestimmt nicht viel verändert.



Viele Häuser vom früheren Ortsplan sind verschwunden. Einzelne Häuser sind aber ordentlich saniert. Die beiden Schulgebäude hinter der Weggabelung des Dorfangers sind als Wohnhäuser noch gut erhalten. Hier ging meine Mutter bis 1945 zur Schule.



Weiter geht es bei Nieselregen, die schöne Landschaft verschwimmt im Trüben, wie auch die Reste vom ehemaligen Ortsteil Darethenhof.



Hier steht das ehemalige Insthaus, in dem meine Großeltern, meine Mutter und ihre Geschwister bis zu ihrer Vertreibung im Jahre 1946 wohnten. Das Gebäude wurde kurz nach dem Krieg teilweise zerstört, später umgebaut und in jüngster Zeit ordentlich modernisiert. Heute wohnen hier Irena mit Ihrer Tochter und der 79jährigen Mutter, die 1946 hier einzog. Irena lädt uns zu einer Tasse Kaffee ein. Da sich mein Polnisch nur auf wenige Worte beschränkt, war das Gespräch zwar sehr freundlich, aber nicht sehr aufschlussreich. Immerhin konnte ich mich anhand eines alten Fotos und einiger Jahreszahlen etwas verständlich machen.

Auf dem Weg nach Braniewo suchen wir noch den Ort Szalmia (dt. Schalmey), früher Sitz des Kirchspiels. Aber außer zwei Ortsschildern und 2 Häusern ist von diesem Ort, der früher mal 360 Einwohner hatte, nichts mehr zu sehen.

Im Hotel Warmia in Braniewo (dt. Braunsberg), das wir nach 46 km erreichen, muss die Gardine als Wäschetrockner herhalten.



Bei trübem Himmel beginnt die 10. Etappe am Sonntag. Im Zentrum von Braniewo sehen wir eines der letzten R1-Schilder.




3. Kaliningrader Gebiet - Russland mit einem bisschen Sowjetunion

Nun haben wir noch 10 km auf polnischem Gebiet. Die Grenzabfertigung ins Kaliningrader Gebiet dauerte ungefähr eine Stunde. Wir haben mehrere Posten zu passieren, Dokumente auszufüllen und schwierige Fragen der strengen Deschurnaja zu beantworten: „Nomer welosipeda?“ Ich: „Nomer njet“. Ein Soldat wird gerufen und mit der Kontrolle des Fahrrads beauftragt. Nach vorn gebeugt, Hände auf dem Rücken schleicht er um mein Rad herum, kann aber kein Kennzeichen finden. Nachdem er den Sachverhalt gemeldet hatte, macht die Deschurnaja mit missbilligendem Gesichtsausdruck einen Vermerk auf einem Formular, die Stempel knallen auf Pass und Formulare und ich kann passieren.

Die Straße nach Kaliningrad (dt. Königsberg) ist gut ausgebaut. Der Verkehr ist sonntagsgerecht kaum wahrnehmbar. Erst kurz vor Kaliningrad wird es etwas hektischer.



In Mamonowo (dt. Heiligenbeil) erleben wir Musterbeispiele sowjetischer Baukunst. Allerdings muss man sagen, dass die Stadt im Krieg fast vollständig zerstört war.



Als Gegenstück erleben wir die alte Post in Pjatidoroschnoje (dt. Bladiau), obwohl auch hier der Krieg schlimm gewütet hatte. Wie fast überall haben sich die Dachziegel fristgemäß verabschiedet und sind durch Wellasbesttafeln ersetzt worden. Immerhin residiert hier jetzt die Potschta Rossii.



Mehrfach sehen wir an der Straße nach Kaliningrad Gedenkstätten und Soldatenfriedhöfe wie diese. Im Heiligenbeiler Kessel verloren noch im März 1945 Zehntausende sowjetische und deutsche Soldaten ihr Leben. Die Aufschrift „Ewiger Ruhm den Helden 1945“ ist typisch für viele solcher Denkmäler, wie sie auch sehr zahlreich in Ostdeutschland zu finden sind.



Bei Uschakowo (dt. Brandenburg) genießen wir den letzten Blick auf das Frische Haff (russ. Kaliningradskij saliw). Nach 70 km erreichen wir das exquisite Gästehaus Albertina, benannt nach der alten Königsberger Universität. Kurz vorher haben wir unsere ersten beiden Angriffe von wilden Hunden erlebt. Dabei haben wir beobachtet, dass sich die lieben Tierchen gar nicht um normale Spaziergänger kümmern. Sie schleichen um diese herum und stürzen sich mit vollem Tempo auf uns Radfahrer. Wir wählen die Taktik „Flinke Füße“ und entkommen mit Mühe.



Der Geschäftsführer des Hauses, Boris, ist Akademiker, spricht ganz gut Deutsch und verpasst mir ein tolles Kompliment: „Du machst solche Touren, Du bist doch schon alt.“ (Wir sind etwa gleichalt.) Immerhin fährt er uns mit seinem Privat-Pkw ins Zentrum und gibt uns den Tipp, eventuelle Taxifahrten mit maximal 100 Rubel (gut 2 €) zu entlohnen. Wir greifen zweimal auf diesen Hinweis zurück und halten jeweils den passenden Schein bereit. Einmal gibt’s leichten Widerstand, „njet, sto chwatit“.

Der Königsberger Dom mit dem Grab von Immanuel Kant ist seit kurzem wiederaufgebaut und wird als Konzert- bzw. Ausstellungshaus genutzt. Der Dom und die liebevoll sanierte alte Börse zeugen auch vom Wiederaufbauwillen der Stadt, auch von der Zuwendung auf alte deutsche Traditionen, was uns sehr überrascht. Auf einem Bus war z.B. die Aufschrift des Reiseunternehmens „Kjonigsberg-Awto-Trans“ in lateinischer und kyrillischer Schrift zu sehen. Später erfahren wir, dass es tatsächlich Bestrebungen gab, den belasteten Namen Kalinin (offizielles Staatsoberhaupt zur Stalinzeit) loszuwerden und den historischen Namen wieder einzuführen. Mangels „ö“ im russischen Alphabet wäre eben das „jo“ (für deutsche Augen: ein „e“ mit 2 Punkten) eingesetzt worden. Zar Wladimir im fernen Moskau witterte Separatismus und unterband solches Ansinnen.



Der Platz des Sieges mit 2 neuen öden Einkaufszentren, sowjetischer Siegessäule und neu errichteter orthodoxer Kirche ist wohl recht typisch für das neue Russland.



Die Landstraße von Kaliningrad Richtung Norden führt uns zu Beginn der 11. Etappe am Montag zur Ostsee. Auch hier gibt’s einen Hundeangriff, die der Gegenverkehr freundlicherweise unterbindet.



In Petrovo (dt. Zielkeim) an der Chaussee nach Selenogradsk füllen wir in einem Magasin unsere Vorräte auf. Dank „sozialistischer Verkaufskultur“ fühlt man sich schnell in alte Zeiten versetzt.



Selenogradsk wirbt am Ortseingang auch mit seinem früheren deutschen Namen Cranz, dem ersten Seebad an der Samlandküste.



Am Strand treffen wir auf die Ruinen der sowjetischen Baukunst und ein paar Meter weiter auf die Ruinen des ungebremsten Kapitals.



Bei einer Flasche russischem Bier beobachten wir „Russia‘s next Topmodel“.



Bei strahlendem Sonnenschein sehen wir kilometerweit feinsten Sandstrand aber kaum Urlauber.



Die alte Bäderarchitektur ist leider sehr verfallen, die Straßen sind kaputt.



Gleich hinter Selenogradsk beginnt der Nationalpark Kuhrische Nehrung. In Lesnoje (dt. Sarkau) erreichen wir nach 48 km das Hotel Kurschskaja Kosa an der Haffseite, noch recht neu, aber schon ziemlich viele Bauschäden. Die unfreundliche Chefin (Drei-Wetter-Taft-gestählte Frisur, „kyrillischer Gesichtsausdruck“) verweist unsere Räder ins Foyer, obwohl bei der Buchung eine Fahrradabstellmöglichkeit bestätigt wurde. Immerhin gab es in beiden russischen Hotels freien Internetzugang. Bei einem Spaziergang haben wir diese ländliche Begegnung.



Auf dem Weg zum Strand versperrt uns plötzlich ein schmiedeeiserner Zaun den Weg. Schuldbewusst hat aber jemand ein handbemaltes Pappschild an einen Baum genagelt: „hier lang zum Meer“. Wir machen also einen kleinen Umweg und erreichen tatsächlich den Strand. Auf dem Rückweg gelangen wir zufällig in eine der vielen Neureichen-Siedlungen, die offenbar ohne Beachtung öffentlicher Wege „einfach so“ in die Landschaft gebaut werden. Großer Zaun, Schlagbaum (russisch: schlagbaum), Sicherheitspersonal. Die Wohnhäuser stellen einen für uns sinnlosen Protz dar. Dicke Säulen, die kleine Vordächer tragen, Marmorverkleidungen, viel Holz und geschmiedete Zäune. Der schadenfrohe Betrachter stellt allerdings fest, dass diese Objekte den Verfall bereits mit der Fertigstellung in sich tragen. Feuchte Sockel, schiefe Wände, usw. Wer das große Ganze im Auge hat, vergisst schon mal eine Gasleitung, die dann nachträglich durch die Wand gestoßen wird.

Die 12. Etappe am Dienstag beginnt bei trübem Wetter und führt auf endloser Straße entlang der Nehrung - ab und zu gibt es einen Blick in eine Moorlandschaft oder auf Dünen.



In Rybatschi (dt. Rossitten) sieht man noch etliche alte deutsche Häuser, hier sogar mit Dachziegeln, ansonsten aber unsaniert.



Die Überbleibsel der „sowjetischen Bäderarchitektur“ sehen noch schlimmer aus, so dass wir von diesem Ort keinen guten Eindruck haben. Der vierten Zusammenrottung mit wilden Hunden begegnen wir, indem wir uns als Fußgänger tarnen. Damit fallen wir wohl aus dem Beuteschema und werden in Ruhe gelassen. Das war’s dann aber auch mit Hundeangriffen. In den baltischen Ländern bleiben wir vor Hunden verschont.

Kurz vor der Grenze treffen wir ein Ehepaar aus Sachsen, aus Sankt Petersburg kommend. Bei einem Kaffee an einem Kiosk tauschen wir unsere Restvaluta und ein paar Tipps für die nächsten Kilometer.


4. Transit - Litauen

Nach problemlosem Grenzübertritt (sogar mit dem Lächeln einer jungen uniformierten Dame und „Do swidanja“) sind wir in Litauen. Gleich hinter der Grenze liegt Nida (dt. Nidden) mit der gigantischen Parnidis-Düne mit 52 m Höhe. Sie ist vom Stadthafen aus gut zu sehen und über einen Fuß- und Radweg schnell zu erreichen.



Die Düne erstreckt sich kilometerweit bis über die russische Grenze.



Anschließend fahren wir auf dem teilweise recht gut ausgebauten Radweg Nida – Klaipeda am Schwiegermutterberg mit dem Thomas-Mann-Haus von 1929 vorbei.



Wenn man wenig Zeit hat, kann man auch gut auf der Landesstraße 167 fahren, der Verkehr hält sich wegen der gefühlten „Sackgassenlage“ in Grenzen.



Kurz vor der Abfahrt erreichen wir die kostenfreie Fähre von Smyltene (dt. Sandkrug) nach Klaipeda (dt. Memel).



Nach 104 Kilometern sind wir im Gästehaus Litinterp. Die Räder dürfen mit aufs Zimmer.



Zum Abendessen begeben wir uns in die Altstadt, an deren Peripherie sich dieser Büro- und Hotelkomplex befindet.



Die 13. Etappe am Mittwoch beginnt bei trübem Wetter entlang der Ostsee zum litauischen Badeort Nr. 1 Palanga. Der Radweg führt meist auf asphaltierten Waldwegen immer nah am Meer entlang bis kurz vor die lettische Grenze. In einem Badeort finden wir die schon bekannte Mischung aus sowjetischer und marktwirtschaftlicher Ruinen-Architektur.



Nun gibt’s Mittagessen vor einem Kiosk. Die beiden jungen Damen sprechen natürlich kein Wort Englisch. Ich merke aber, dass sie sich untereinander auf Russisch verständigen, na warum nicht gleich so!




5. Holz und Schotter in Lettland

Der Grenzübergang nach Lettland war nicht besetzt. Nach der Prozedur in Russland haben wir nun schon Entzugserscheinungen. Die Nationalstraßen sind in Grenznähe auf beiden Seiten kaum befahren, so dass wir meist nebeneinander fahren. Die paar Autos (auch Trucks) überholen in großem Bogen.

… und am Ende der Straße steht ein Haus am See …



Diese lettische Rentner-Radeltruppe treffen wir bei Rucava (man spricht russisch). Die Jungs (60 bis 72 Jahre) machen eine verlängerte Wochenendtour und beneiden uns wegen unserer Reise.



In Braksi erreichen wir nach 96 km eine tolle Ferienwohnung mit hauseigener Storchenfamilie.



Nach der Sauna gibt’s ein rustikales Abendbrot aus dem Supermarkt. Die 14. Etappe am Donnerstag führt zunächst nach Liepaja, einer Stadt mit zahlreichen Holzhäusern, die noch auf ihre Restaurierung warten.



In Aizpute, einer richtigen Holzstadt ...



... zelebrieren wir ein umfangreiches Mittagessen vor dem Supermarkt, mangels Tisch auf der Blumenrabatte. Nach 105 km erreichen wir das Etappenziel Kuldiga mit dem zum Hotel Kolonna umgebauten Büro-Plattenbau. Von der Brücke hinter Kuldiga gibt es eine Aussicht auf die Rumbas Venta (manche sagen Stromschnelle, manche Wasserfall). Am Ufer (links) liegt ein Campingplatz in schönem landschaftlichem Umfeld. Den persönlichen Testbericht bitte von Bianka (Bikebieneberlin) abfordern.



Das Rathaus macht auch was her:



Die 15. Etappe am Freitag beginnt natürlich wieder bei Sonnenschein.



… ich hab den Tag auf meiner Seite, ich hab Rückenwind …


In Sabiles erleben wir eine „Volksversammlung“.



Auf Nahrungssuche: In einer Kafejnica in Kandava gibt’s ordentliches Essen (gute Hausmannskost) und wie immer fantastischen Nachtisch zu fantastischen Preisen.



Nach 97 km erreichen wir die kleine Stadt Tukums. Das gleichnamige Hotel war gut in einem Eislaufhallenkomplex versteckt.




Die 16. Etappe am Samstag beginnt wieder etwas eingetrübt, dafür haben alle Häuser geflaggt. Nationalfeiertag ist heute nicht, muss irgendwie mit der Unabhängigkeitsbewegung zu tun haben. Im TV sehen wir etliche Dokumentationen über diese Zeit. Oder flaggen die etwa wegen Mittsommer?



Heute machen wir unsere erste Bekanntschaft mit einer der zahlreichen Schotterstraßen, die gegenwärtig noch einen großen Teil des lettischen Straßennetzes prägen. Man wird ganz schön durchgeschüttelt. Außerdem ist es rutschig und staubig. Dafür werden wir mit einer herrlichen Landschaft im Kemeru-Nationalpark entschädigt.



In Jurmala, dem Badeort vor den Toren Rigas treffen neuzeitlicher Protz und Tradition aufeinander.



Zum Mittagessen in einer Kafejnica an der Jomas iela lassen wir den Sonnenschirm aufspannen. Nach ein paar Minuten muss er allerdings als Regenschirm dienen. Mit Regenausrüstung geht es weiter Richtung Riga, zunächst über die Lielupe. Auf der Brücke pflegt man russische Hochzeitstraditionen.



Danach fahren wir auf einem landschaftlich schönen und gut ausgeschilderten Radweg wieder bei Sonnenschein fast immer entlang der Bahn nach Riga. Den Track dazu habe ich auch bei gpsies gefunden.