Re: Kalte Heimat und Baltikum

von: Dietmar

Re: Kalte Heimat und Baltikum - 27.12.09 15:23


Die lettische Hauptstadt empfängt uns mit einem tollen Panorama vor imposanter Wolkenkulisse. Hier das Schloss und der Dom:



Auf dem Domplatz machen wir erst einmal ein „Zielfoto“.



Daraufhin gesellen sich andere Reiseradler zu uns, auch ein paar motorisierte deutsche Touristen. In kleiner Gruppe werden nun Reiseerfahrungen ausgetauscht. Die Automobilisten leisten natürlich die besten „Beiträge“:

Woher?

aus Berlin

äh, ja, mit der Fähre bis Klaipeda?

nein, mit dem Rad

ja, aber nicht komplett von Berlin?

doch

Caravankapitän: siehste Erna, das wollte ich auch schon immer mal machen, aber Du …

Dabei haben wir bisher gerade mal 1.400 km auf dem Tacho! An der Freiheitsstatue vorbei





erreichen wir unser Hotel nach 74 km. Anschließend bummeln wir noch durch die Altstadt, u.a. zum Schwarzhäupterhaus. Wir nehmen uns vor, unbedingt nochmal herzukommen. Für die Stadt des Jugendstils haben wir einfach zu wenig Zeit.



Der Start zur 17. Etappe am Sonntag erfolgt wieder bei strahlendem Sonnenschein. Anfangs auf sechsspuriger Ausfallstraße wird es später sehr ländlich.



Von Garkallne über Vangazi nach Krustini geht es über Schotterstraßen und Waldwege vorbei an schönen Häusern und durch urige Wälder. Wenn ein Traktor ein Feld bearbeitet, ist ein Storch nicht weit.



Dank längerer Schotterpisten haben wir die heutige Etappe auf 73 km gekürzt. Sigulda ist das Tor zum Gauja-Nationalpark, den wir uns auf der 18. Etappe am Montag, ansehen. Nun geht es ca. 50 km über Schotter, durch schöne Landschaft teils mit ordentlichen Anstiegen, die wir manchmal auch mit etwas „Schiebung“ überwinden mussten.





Nein, das ist nicht Arizona, das ist Lettland im Gauja-Nationalpark. Und schon erscheint wieder unser „Lieblingsverkehrszeichen“: Belagwechsel, jetzt kommt eine schöne Schotterstrecke.



In Cesis essen wir zu Mittag und werden Zeuge eines militärischen Zeremoniells. Später auf der Landstraße nach Valmiera sehen wir eine weitere Ehrung.



Die heutige Etappe endet nach 75 km in Valmiera. Im Hotel Wolmar (frühere Version des Ortsnamens) übernachtet außer uns noch eine lautstarke finnische Radlergruppe, die, mit reichlich Alkohol versehen, die Sauna okkupiert und bis 23 Uhr gut hörbar feiert. Am nächsten Tag fahren wir bei starkem Gegenwind Richtung estnische Grenze. In der geteilten Stadt Valga/Valka sind die Grenzanlagen noch zu sehen.



Nach dem Fall der sowjetischen „Einheit“ wurde nationalstaatlich getrennt. Durch EU und Schengen gibt es nun keine Kontrollen mehr.




6. Mit Rad und Edeltraut durch Estland

Nach 79 km erreichen wir in Sangaste das Motel Rukki Maja. Wir sind mal wieder die einzigen Gäste. Die 20. Etappe am Mittwoch führt uns durch Estlands mit 150 m höchstgelegene Stadt Ottepää, auf separaten Radwegen vorbei am Pühajärv (Heiliger See) mit Hotels und Kuranlagen.



Wir genießen die letzten Kilometer unserer Reise … Da wir die Strecke bis Tallinn nicht mehr schaffen (uns fehlt wegen der Schotterpisten 1 Tag), setzen wir hier den Schlusspunkt unserer Radreise durch das Baltikum. Den Rest schaffen wir mit der Bahn.



Nach 72 km kommen wir in Tartu an. Das Gästehaus Tampere Maja ist nicht ganz billig, aber sehr schön, rustikal und traditionell. Auf dem Flur läuft der Computer mit freiem Internetzugang. Das Haus liegt ganz in der Nähe des Upsala Maja (Tipp aus dem Forum), das leider ausgebucht ist.



Am Mittsommerabend bummeln wir durch die attraktive Altstadt, vorbei am Brunnen der zu Stein gewordenen Verliebten.



Über das Original dieser Brücke über den Emajögi soll schon Napoleon geritten sein.



Heute ist Mittsommer und noch viel Trubel auf den Straßen. Sonnenuntergang ist heute um 22.24 Uhr. Am Donnerstag starten wir ganz früh Richtung Bahnhof. Das Frühstück lag vorbereitet im Kühlschrank. Kaffee haben wir selbst gekocht. Um 7.34 Uhr geht’s los. Da nur 4 Züge am Tag fahren, haben wir nicht allzu viel Auswahl. Der Fahrpreis ist gering (weniger als 10 €), Fahrradmitnahme kostenlos.



Nach über 3 Stunden Fahrt mit Edeltraut auf rumpeliger Strecke erreichen wir Tallinn, die Hauptstadt Estlands (heute nur 2 km mit dem Rad).



Tallinn mit mittelalterlichem Stadtkern und modernem Stadtverkehr.



In 61 m Höhe auf der Oleviste Kirikus …



… hat man einen tollen Überblick, u.a. auf den Fährhafen.




7. Finale auf dem Wasser

Am Freitag verabschieden wir uns von Tallinn mit Foto vorm Rathaus, dann geht es zum Fährhafen von Tallink.



Die Überfahrt nach Helsinki dauert nur 2 Stunden. Die Zeit erschien uns aber viel kürzer, da wir 2 interessante Reisebegleiter hatten. Vor mir fährt Matteo aus Italien auf die Fähre.



Lidia schließt sich uns an. Matteo ist seit 47 Tagen von Siracusa, einer Stadt an der Südspitze Siziliens unterwegs. Sein Ziel ist das Nordkapp. Zur Navigation benutzt er für die gesamte Reise eine Europakarte 1 : 2,5 Mio! Zur Verständigung dient ihm ausschließlich die Weltsprache Italienisch.



Dove vai? Verso capo nord.

Wir lassen Tallinn zurück und schon sind wir in Helsinki, Ankunft im Westhafen. Lidia sehen wir später wieder. Sie war mit ihrem Freund Ernst-August von Hannover (nein nicht der) zwei Wochen im Baltikum unterwegs. Er fährt noch eine Woche weiter, während sie nach Hause muss.



Die ersten Meter auf finnischem Boden sehen recht offiziell aus, bis auf diese bunte Truppe.



Vom Westhafen zum Fährhafen Vuosaari sind es ca. 30 km. In die Route wird natürlich eine kleine Stadtrundfahrt eingebaut.



Auf der Esplanadin Puisto (so’ne Art Ku’damm) herrscht ein buntes Treiben.



Eine Militärkapelle spielt anlässlich unseres letzten Reisetages zum Konzert auf. Heute ist auch der wärmste Tag unserer Reise, so dass wir das Eis im Schatten genießen.



Anschließend fahren wir am Südhafen vorbei, gegenüber dem Präsidentenpalast. Nun folgt eine interessante Radtour entlang der Schären mit bunten Marinas, Badestränden, idyllischen Wegen durch schöne Wohnsiedlungen.



Die Strecke hatte ich mir mit gpsies.de zusammengebastelt. Im OSM-Fahrrad-Modus war ein dichtes Netz von Radwegen verfügbar.



Hinter dem Vorort Vuosaari beginnt das neue Hafengebiet (das eher wie ein riesiges Gewerbegebiet aussieht) mit dem Fährhafen für die Rostock-Linie. Kurz nach 19 Uhr fahren wir auf das Schiff, parken die Räder in Bugnähe und gehen in unsere Kabine.



Für unsere „Traumschiffreise“ über 27 Stunden hatten wir eine Außenkabine gebucht. Pünktlich um 21 Uhr legt die Fähre ab. Drei Tage nach Mittsommer geht die Sonne erst kurz vor 23 Uhr unter.



Pünktlich 23 Uhr geht es in Rostock an Land. Nach ein paar 100 m empfängt uns unser Sohn mit einem Blitzlichtgewitter.



Die Räder sind schnell verladen und 23.30 Uhr verlassen wir den Hafen. Am Sonntag um 1.30 Uhr sind wir wieder zu Hause.


8. Das war‘s

Eine großartige Reise geht zu Ende. Sie führte uns durch 6 Länder: Polen, Russland, Litauen, Lettland, Estland und Finnland. Da die baltischen Staaten die Euro-Einführung verschoben hatten, mussten wir mit 5 Fremdwährungen zurechtkommen. Richtige Grenzkontrollen gab es nur am Kaliningrader Gebiet, ansonsten bewegten wir uns komplett in Schengen-Ländern.

Das Wetter war meist auf unserer Seite (Sonne und Rückenwind). Es gab nur einen „richtigen“ Regentag (ausgerechnet in Ostpreußen), ab und zu mal ein paar Tropfen zwischendurch, aber die Sonnentage waren in der Mehrheit. Einen Tag machte uns heftiger Gegenwind zu schaffen.

Auf dieser Reise habe ich für die Navigation zum ersten Mal GPS-Unterstützung genutzt. Im "GPS-Anfänger-Faden" habe ich beschrieben, wie es so gelaufen ist und was für Erkenntnisse und Erfahrungen entstanden sind. Durch GPS-Unterstützung war die Reise jedenfalls sehr entspannt. Meine Frau sagt mehrmals, dass ich in diesem Urlaub wesentlich entspannter war (zumindest was die Navigation betrifft schmunzel ).

Die Strecke in Polen richtete sich nach dem Europaradweg R1, der sehr gut ausgeschildert ist und meist über ruhige, asphaltierte Landstraßen führt. Die Landstraßen in Russland sind auch gut befahrbar, in den Ortschaften herrschen allerdings teilweise üble Verhältnisse. Die Straßen in den baltischen Ländern sind ebenfalls meist gut ausgebaut. Allerdings besteht ein großer Teil des Straßennetzes aus Schotterpisten in der Qualität von Baustraßen, sehr grob und wellig.

Die Reise erwies sich als sehr preisgünstig. Für Übernachtung und Essen haben wir nur etwa 30 bis 50 % der Preise von Süd- und Westeuropa bezahlt. Dafür haben wir bei der „Traumschiffsreise“ etwas drauflegen müssen.



Bei einer Reise durch 6 Länder muss man mit ebenso vielen Sprachen klar kommen. In touristischen Zentren spricht man, egal in welchem Land, ein ausreichend gutes Englisch. Problematisch wird es in ländlichen Regionen. Mitunter ist es erschreckend, dass vor allem Jugendliche, egal ob in Polen oder im Baltikum, sich lieber wegducken, als einem auf eine einfache Frage zu antworten. Manche Reisende legen das als Unhöflichkeit aus. Ich glaube eher, dass viele sich ihrer Unwissenheit schämen und diese nicht offenbaren möchten.

Ich war auf dieser Reise vor allem darüber erstaunt, wie oft ich meine Russisch-Schulkenntnisse anwenden konnte, und dass nicht nur in Russland, sondern auch in den ehemaligen „Sowjetrepubliken“ und in Polen. Immerhin sind ca. ein Drittel der lettischen und der estnischen Bevölkerung Russen (in Litauen nur 6 %). In den Hauptstädten Riga und Tallinn sollen sogar jeweils 50 % Russen wohnen. Wenn man sich im Hotel mal durch die TV-Kanäle zappt, wird man mehr Russisch als Landessprache hören. Lustiger Höhepunkt: „Kommissar Rex“ in Originalfassung, also der deutsche O-Ton ganz leise, russisch drüber gesprochen, lettische Untertitel. Ebenso wird mit amerikanischen Filmen verfahren, nix synchronisiert, sondern in Landessprache übersprochen plus Untertitel. Bei den geringen Bevölkerungszahlen geht’s ja wohl auch um Kosten.

Ansonsten habe ich keine Vorbehalte gegenüber der russischen Sprache feststellen können. Natürlich ist das auch eine Altersfrage. Am besten, man spricht Leute an, die zu Zeiten der Wiedererlangung der nationalen Identität ihre Schulausbildung hinter sich hatten. Die heutige Jugend sollte dann wenigstens Englisch können – oder auch nicht?

Noch ein schönes Beispiel: Wir fuhren mit dem Taxi in Riga. Der Fahrer war mit drei Worten Englisch ausgestattet und verstand, dass wir zum Domplatz wollten. Im Taxifunk wurde ausschließlich russisch gesprochen. Ich machte daraufhin eine spaßige Bemerkung, so dass das weitere Gespräch natürlich ganz entspannt auf Russisch weiter lief.


Fazit

Reisen bildet. Nicht ganz neu diese Erkenntnis. Aber kein anderes Wort kann diese Reise besser charakterisieren. Von den meisten Regionen, die wir durchreist haben, habe ich mir völlig andere Vorstellungen gemacht, z.T. sogar Vorurteile gehabt. Geprägt durch Erziehung und Schulbildung, desorientiert durch mediale Oberflächlichkeit setzt man sich als Reisender einem Ausschnitt der Realität aus – und staunt!

Immer wieder musste ich auf unserer Reise an einen Spruch aus der Wendezeit denken:

Weltanschauung kommt von Welt anschauen!

Hier noch die Strecke:




So, jetzt bin ich aber müde!




Gruß Dietmar