Re: Korsika 2012

von: veloträumer

Re: Korsika 2012 - 02.12.12 16:45

Heute darf man auch mal ein zweites Türchen öffnen... - die Inselrundfahrt beginnt:

KAPITEL 2 Ein Meeresbalkon zwischen Garten Eden und Gesteinswüsten, Jazz und polyphone Gesänge: Die Balagne im Nordwesten

Sa 23.6. L'Île-Rousse - Bocca Fogata (77m) - Pigna - Cateri - Col de Salvi (509m) - Montemaggiore - Zilia - Calenzana - Bocca di Neraghia (283m) - Suare - Bocca di Marsolinu (443m) - dev. D81/D81B (Galéria) - Bocca Bassa (122m) - Bocca Serria (146m) - Calvi
102 km | 12,8 km/h | 8:02 h | 1215 Hm
W: sonnig, sehr heiß, > 35 °C, nachts ~ 20 °C, windig
E: Salat kors. Schinken/Käse/ Kichererbsen, Dourade/Kart.kuchen/Zitronensauce, Rw, Maronencrème, Cafe 27 € (+)
Ü: C La Cle d. Champs 7,90 €

Mit L’Île Rousse gehe ich an dem kleinsten der denkbaren Ankunftshäfen an Land. Zumal so früh am Morgen zeigt sich das Städtchen äußerst geruhsam. „Korsika, die Muße und Gelassenheit – sei gegrüßt, ich bin wieder in deinen Armen!“ so mein erster Gedanke. In der Säulenhalle nahe dem Hafen werden gerade Marktstände aufgebaut. Erste Versorgung auf korsisch. Gleich in einer Gasse entdecke ich einen kleinen Laden, den eine alte Frau führt. Canistrelli gibt es dort vor allem – die schon erwähnten leckeren Kekse. Sie sind hier preiswerter als ich sie sonst im Land gesehen habe. Erstes Frühstück unter korsischer Sonne. Andere Fährgäste haben sich schon in den Cafes gegenüber niedergelassen. Mimik und Gestik sagen es ohne Worte: „Das ist hier ist Urlaub. Keine Hektik, milde Sonne, das Meer im Ausblick. – Was willst du mehr?“

Nun, es bleibt nicht bei milder Sonne – der Tag sollte einer der heißesten der ganzen Reise werden. Gleich geht es aufwärts in noch kuppig geformte Berge, immerzu großes Panorama auf die Buchten und das Wasser. Das Blau des Meeres malt sich ins Auge, jeder Höhenmeter eine neue Perspektive voller Unendlichkeit. Da ist es wieder, diese atemberaubende Faszination des langsamen Radelns – obwohl man doch schon soviel gesehen hat. Nichts ist spektakulär hier – es ist nur schlicht schön!

Auf den Zwischenhügeln liegen verschiedene Orte, die höheren erinnern an Adlerhorste. St-Antonino werde ich auslassen – ein Ort, in dem es einen urigen Spezialitätenladen geben soll. Den ersten Stopp mache ich in Aregno – da denke ich in der bereits brüteten Hitze nach, ob ich mich zu einem frisch gepressten Orangensaft unter lichte Schattenbäumchen in ein Bistro setzen soll. Die Verführung ist groß, der Gedanke an ein erfrischendes Sommergetränk drängt in meine Kehle – doch blieb ich standhaft. Ich merke später: Ich bin noch zuviel in der Hektik des Alltags. „Entspanne dich und genieße!“ geht mir noch nicht leicht über die Lippen. Das ausgelassene Glas Orangensaft verfolgt mich tagelang. So ist das: In der Welt geht es um Eurokrise und Fußball-EM und ich denke einen viele Tag über ein nicht getrunkenes Glas Orangensaft nach. Ich brauche über eine Woche, um das Verpasste nachzuholen – diese Erfüllung von Frische in dem gelben Saft einer Orange. Es scheint eine Reise der Nebensächlichkeiten zu werden.

Auf jeden Fall muss Pigna erwähnt werden. Es handelt sich um ein kleines Dorf mit engen Treppengassen (Rad am Ortseingang beim Parkplatz stehen lassen). Pigna wurde zum Vorzeigedorf für korsisches Kunsthandwerk – mehr aber noch ein Zentrum für die korsische Musik. Es gibt sogar einen Plattenladen im Ort mit Spezialsortiment auch im Bereich Jazz. Leider hat man sich auf gut ausgeschlafene Touristen eingestellt und in der Frühe hat noch kein Laden offen (ab 10:30 h oder 11:00 h). Es gibt auch wunderbare kleine versteckte Gärten zum Essen und Trinken – natürlich (fast) alles mit Meerpanorama.

Exkurs Polyphonie: Wer sich einlesen will zum korsischen A-cappella-Gesang: Cantu. Eine gute Zusammenstellung mit korsischen und sardischen Gesänge gab (gibt?) es (mal) bei Zweitausendeins in der WDR/World Network-Serie zu kaufen: Corsica/Sardinia, World Network 31 (Canta u Populu Corse & A Filetta, Donnisulana, Tenores di Bitti, Coro di Neonelli, Coro di Orune, Coro di Mamoiada, Luigi Lai – The Mystery of Poliphony), Network Medien 58.393. Ein Hörbeispiel zur Begleitung der Lektüre von eine der berühmtesten Gruppen (und aus der Balagne!) könnt ihr hier hören: A Filetta (4:39 Min.) – sogar gut zur Adventsstimmung geeignet. Beliebt sind heute auch diverse Mischformen – so etwa mit der korsischen Gitarrenmusik, zu der meist eher leichte, einfache bis schnulzige Lieder gesungen werden wie man es von der Capri-Fsicher-Romatnik kennt. So finden sich zuweilen Gruppen, die mit zwei Stimmen auskommen wollen – für eine echte Polyphonie braucht es aber mindestens drei oder besser mehr Stimmen. Eine weitere moderne Schiene ist die Verbindung mit Rock- und Popelementen. Weltruhm erlangte so die Gruppe I Muvrini Pop (4:40) von meiner zweiten CD-Empfehlung I Muvrini „Umani“,2000, AGFB Productions/Capitol Records 072435419842 (ein Song darauf ist mit dem Schweizer Singer/Songwriter-Star Stephan Eicher). I Muvrini setzt aber auch gerne klassische Elemente ein - hier mit riesigem Chor: I Muvrini Klassik (5:16 Min.) . Ich hatte sie mal live erlebt in Stuttgart. Auf ihrer Website finden sich nicht nur viele poetische Songtexte, sondern auch eine deutsche Sektion.

Cateri ist ein Kreuzungspunkt mit der Route des nächsten Tages. Hier schaue ich erstmals über die gelben Kätzchenblüten von Kastanienbäumen – etwas, was mich noch lange und oft auf der Reise begleitet. Ein hell leuchtendes Gelb, das sich wie eine Sonne vom Blau des Himmels oder des Meeres absetzt. Allerdings endete die Blüte im letzten Teil meiner Reise. Montemaggiore fällt durch seine besondere Lage auf einem Felsen auf, was man aber erst vom Westen aus und bereits weit weg vom Ort wahrnimmt. Macchia und kultivierte Olivenhänge wechseln sich ab, gegen Westen ragen schroffere Berge zur Küste hin auf. Nach Norden immer wieder Blicke in die Bucht von Calvi bis zum Bocca di Marsolinu. Zwar ist die Strecke bis zum Golf von Galéria nicht richtig schwierig, aber in der enormen Hitze ist das viele Auf und Ab schon sehr anspruchsvoll.

Während im südlichen Teil der Strecke Galéria – Calvi noch naturgeschützte Macchia bis ans Meer reicht, dominiert im nördlichen Teil eine aparte Felswüste. Nach dem Blick auf den Leuchtturm auf der Halbinsel sieht man Calvi relativ spät und schält sich wie ein Bild aus einem Rahmen heraus. Calvi kann sich nicht nur der schönen Lage in der Bucht erfreuen – auch blieb die Stadt mit am längsten in den Händen der Genueser, weil sie kaum angreifbar war. Kein Symbol der korsischen Unabhängigkeit also, dafür liberal in seinem Denken. Auf den Widerspruch zwischen Nationalbewusstsein und liberaler Gesinnung werde ich noch in Kap. 9 tiefer eingehen. Zwischen Zitadelle und den steilen Gassen tummeln sich abends die Touristen, am Morgen ist es aber vergleichsweise ruhig. Die Hauptbühne des Jazzfestivals liegt zwar innerhalb der Zitadelle direkt in Terrassenlage zum Meer, aber auch in den Kneipen und Restaurants spielen hin und wieder Gruppen gratis. So kam ich auch essensbegleitend noch zu einer Portion recht gelungenen Mainstream-Jazz’ aus dem Nachbarrestaurant.

So 24.6. Calvi - Lumio - Bocca di Forcolina (261m) - Cateri - Feliceto - Speloncato - Bocca di a Battaglia (1099m) - Olmi - Bocca a Croce (928m) - Bocca Capanna (844m) - Bocca di u Prunu (734m) - Col de San Colombano (692m) - Col de Casella (405m) - Belgodère - Lozari - L'Ostriconi (Ogliastro)
96 km | 12,7 km/h | 7:32 h | 1485 Hm*
W: sonnig, später leicht bewölkt, teils starker Wind, bis > 30 °C
E: Entrecôte & Zucchinigratin, Rw, Crème brulée, Cafe 25 €
Ü: C L'Ostriconi 13 €

Nachdem ich bereits zwei Tage mit Meerblick radele, aber noch kein Bad im Salzwasser genossen habe, hole ich das am Morgen unweit von Calvi nach – hier gibt es weite Kies- und Sandstrände – immer wieder bis L’Île Rousse. Anschließend passiere ich typische Dörfer der Balagne, mit Meerpanorama, eingebunden in Olivenhaine, Obst- und Ziergärten und kleineren Bewaldungen samt Wasserfällen. Die schönsten Orte darunter sind Lumio im Westen – schon 1999 war ich dort und erwarb auf dem Markt eine wunderbare Glaskaraffe mit handbemalten Maronenmotiven – und Speloncato im Osten am Ende dieser Halbhöhenroute entlang der Hügel.

Von Speloncato überwindet man den recht schwierigen Bocca di a Battaglia, auf dessen Passhöhe es ein Ausflugslokal gibt. Die Region wird nun einsamer, nach Süden erstreckt sich ein recht schattiges Waldgebiet, auf der Route nach Osten lockert die Vegetation aber bald auf, bis sie ganz offen ist. Es gibt fast nur noch mittelhohe Macchia, teils wie ein grüner Teppich die Hänge säumend. Die Pässe hier sind recht zahm. In der Ferne im Süden deutet sich das Hochgebirge an.

Doch zunächst kehre ich nochmal kurz zum Meer zurück. Über den Panoramaort Belgodère geht es zur N 1197, auf der abends auch nicht mehr viel Verkehr ist. In L’Ostriconi findet sich recht einsam ein Campingplatz mit aller wesentlicher Infrastruktur. Irgendwo gibt es noch eine Gite in der Nähe und auch morgens findet sich ein Straßenstand mit Obst, Gemüse und mehr. Offenbar lebt er vom Transitverkehr, aber auch von den Gästen hier. Denn der Strand beim Camping ist begehrt und schön – ich kenne ihn noch aus alten Zeiten. Diesmal wars dunkel – der Camping liegt auch nicht direkt am Strand und des Nachts hörte ich nur das Rauschen der Wellen.

Der Camping liegt nicht zufällig hier, denn im Osten beginnt die Désert des Agriates – die korsische Wüste. Auch mehr oder weniger eine Gesteinswüste, teils mit stark wuchernden Kakteen. Für eine intensivere Exkursion fehlte mir letztlich auch auf dieser Reise die Zeit. Erschließen kann man sie aber nur auf Pisten oder auch per Boot zu den Stränden – mehrheitlich von St-Florent.

Mo 25.6. L'Ostriconi (Ogliastro) - Novella - 2 - Bocca a Croce (513m) - dev. N197/D247 - Castifao (514m) - dev. D47/D147 - 15 - Asco - Camping Monte Cinto
70 km | 10,6 km/h | 6:37 h | 1450 Hm*
W: sonnig, sehr heiß, > 33 °C, teils windig, Asco-Tal = Windkanal!
E (Asco): Lamm in Rosmarin-Honig-Sauce/PF, Käse m. Feigenkonfitüre, Roséw., Cafe, Likör gratis 25 € (+)
Ü: C Monte Cinto 8 €

Sicherlich noch ein Geheimtipp ist die Strecke von Monetta über den Bocca a Croce. Das Tal mit Sträuchern und niedrigen Bäumen variiert in verschiedenen Farben und Formen. Novella mal wieder eine kleine Dorfperle – eine schöne Nebensächlichkeit sozusagen. Man überfährt die Bahnlinie, die Calvi mit Ponte Leccia verbindet. Man kann sich sogar dort direkt an einem Bahnhof als Tourist einmieten – Ferien mit direktem Bahnanschluss – allein der Zug kommt selten. Ansonsten aber ziemliche Einsamkeit, die sich auch der Südseite des Passes fortsetzt. Und wieder ein Landschaftswechsel. Blumiger, farbiger, feuchter, mäandernde Kurven, Auenlandschaft.

Auf der N 1197 scheint es dann doch Verkehr zu geben, man hört ihn kurz vor der Einmündung der N197. Doch zweige ich rechtzeitig ab – weiter in die Einsamkeit. Für ein Flussbad finde ich eine kleine Stelle – doch liegt hier noch nicht eine Hochburg der Gumpenflüsse. Dafür aber schon mal Brücken, Wiesen, Blumen, Pferde – dann wieder Wald, auch mal schattig. An Castifao vorbei, liegt wenig später auf einem Hochpunkt der Straße recht eindrücklich ein Kloster. Mit der Abfahrt an Kakteen vorbei und durch das kleine, aber quirlige Dorf Moltifao durch, erreiche ich das Asco-Tal. Damit beginnt ein gänzlich neuer Landschaftsabschnitt und ich befinde mich auch schon einige Kilometer lang im Niolu (auch Niolo). Somit unterbreche ich hier die Etappe und fahre im nächsten Kapitel damit fort.

Bildergalerie zu Kapitel 2 (101 Fotos):



Fortsetzung folgt