Tür Nr. 3

von: veloträumer

Tür Nr. 3 - 02.12.13 23:09

Einführung – Fortsetzung (3)

Pro Arte

Kunst und Kultur sind ja immer ein bisschen der Feind des Radlers. Lange Museumsspaziergänge passen selten ins Zeitkonzept, schon die rieisigen Hallen schrecken den Freiluftfreund. Manchmal ist aber schon eine Stadt eine Museum. Auffallend ist in Montenegro, dass sämtliche Binnenorte oder -städte kaum über eine attraktive Architektur oder Silhouette verfügen. Nun habe ich nicht alle Städte besucht, gerade Pljevlja gilt noch als recht sehenswert. Doch fehlt den meisten, auch kleinen Dörfern meist ein gewisser Charme. Kirchen sin selten, die orthodoxen Schmuckstücke stehen zuweilen stark abseits, können das Ortsbild nicht aufpeppen. In den muslimisch geprägten Teilen ist ein gewisser Bauboom von Moscheen zu beobachten. In der als bettelarm geltenden Gegend bei Plav und Gusinje baut man derzeit eine überdimensionierte Moschee – da ist wohl Geld in ganz bestimmten Händen gebündelt. So ist es auch nicht überraschend, dass zumindest auf der ersten Etappe in Bosnien die Orte mit Gebetsturm ein schöneres Ortsbild abwerfen als die Montenegro-Orte.


Kunsthandwerk als Spiegel der Traditionen Montenegros: Typisches Steinhaus und bemalter Löffel mit Trachtenlook

Was für das Binnenland gilt, trifft auf die Küste weitgehend nicht zu. Es gibt zwar auch moderne, unschöne Küstenverbauungen, aber an der Adriaküste reihen sich schon ein paar pittoreske Perlen ein. Was Dubrovnik für Kroatien, ist Kotor für Montenegro. Auf einer römischen Siedlung basierend, bietet die Altstadt ein Kaleidoskop unterschiedlicher Bauepochen, eingerahmt von einer mächtigen Festungsanlage, die sich sogar noch atemberaubend den Fels hinter Stadt hochzieht. Ebenso wie die faszinierende Altstadt von Budva war auch Kotor schwer von einem Erdbeben 1979 getroffen. Zum UN-Weltkulturerbe ernannt, konnte aber genügend Geld aufgebracht werden, um die Stadt im alten Charme wie eh und je erstrahlen zu lassen.


Die Bibliothek in Budva bewahrt auch Titos Schriften auf, dessen Partisanenkampf zum jugoslawischen Staatssozialismus in Montenegro den Anfang nahm

Kotor ist im Sommer die Bühne für verschiedene Festivals und Workshops in den Bereichen Philosophie, Kindertheater, Kunst, Architektur und Musik. Ein Teil der Kunst ist auch im öffentlichen Raum präsent, indes fällt die Deutung schwer. Auch Nachfragen bzgl. einiger Kunstpräsentationen bei den Tourismusverbänden von Montenegro und Kotor blieben erfolglos, da ebenfalls ahnungslos oder nicht beantwortet. Zu einer sehr speziellen Form der staatstragenden sozialistischen Denkmal-Kunst unter Tito mit den Spomeniks habe ich bereits das Bilderrätsel 827 gestellt.


Vielfältige Kunstaktivitäten gibt es im Sommer in Kotor: Verpackungskunst an Bäumen mit Zeitnahme?

In der Herzegowina und Kroatien sind dann auch im Binnenland schon mal schöne Stadtbilder vorzufinden, wenngleich der Krieg hier einige unschöne Spuren hinterlassen hat. In Pocitelj ist mit einem Atelier in Verbindung mit Tourismus eine Künstlerwerkstatt entstanden, von der offenbar viele Nachwuchskünstler profitieren. Meist recht farbenfrohe Malereien findet man in Kroatien in der Küstenregion immer wieder – längst ist dabei nicht alles Kitsch, doch meist bleibt die Kunst im Dekorativen stecken.


Traumtänzerin in der Mondnacht: Im Künstleratelier des Museumsstädtchens Pocitelj kann man sogar als Tourist übernachten

In den muslimen Gebieten der Herzegowina findet man vielfältiges dekoratives Kunsthandwerk. Vor allem sind wunderbare Tücher als Mode- oder Wohnaccessoire zu bewundern. Orientalischer Schmuck, verzierte Wanderstöcke, bemalte Mokkakännchen und einiges mehr an Kitsch und Kunsthandwerk werden feilgeboten. Besonders beliebt ist das Nazar-Amulett, kurz auch Boncuk genannt, das böse Blicke abwenden und damit Glück bringen soll. Die Händler drängen sich natürlich überall, wo Touristenmassen zu erwarten sind – so denn auch in Pocitelj. Man ist gut beraten, solche Orte zu früher oder später Stunde zu besuchen. Und: es muss nicht immer Mostar sein!

Erstaunliche Schwierigkeiten hatte ich im Binnenland von Montenegro, qualitativ passable Postkarten zu erhalten. Das betrifft sowohl das Fotografische als auch die materielle Qualität. An der Küste besserte sich das zwar, ein Überangebot wie in anderen Touristengegenden des Mittelmeeres hat man aber nicht. Auch hier scheint es Spätfolgen des Sozialismus zu geben – nicht zuletzt konnte ich ja selbst erleben, wie schlecht es um fotografische Technik im Land bestellt ist.


Die osmanische Herrschaft hinterließ ihre Spuren: Dekorative Mokkakännchen als Souvenir und der Orient-Fetisch Boncuk

Gehörfutter & „The unanswered question“ (frei nach Charles Ives)

Wer sich mit verschiedenen Formen von Musik beschäftigt, wird möglicherweise einen Unterschied zwischen dem östlichen und westlichen Balkan bemerken. Volksweisen aus Rumänien (und Bulgarien) haben deutliche Spuren in der Klassischen Musik hinterlassen haben – insbesondere durch den Ungarn Béla Bartók, der sich nicht zuletzt von der Volksmusik des östlichen Nachbarlandes zu einer neuartigen Tonsprache inspirieren ließ. Rechnet man Ungarn noch dem Balkan zu, was in verschiedener Hinsicht kulturell durchaus Sinn macht, findet man noch viel mehr an slawischen oder balkanesken Einflüssen, die weit über folkloristische Redundanz hinausreichen. Vergleichbares findet sich im südwestlichen Balkan indes nicht. Einer der wenigen, aber kaum über die Landesgrenzen hinaus bekannten Komponisten, der Folklore in eine abstrahierte Form klassischer Musik transformierte, ist der Kroate Ivan Matetic Ronjgov. Seine herausragende Leistung war es, die istrische Tonskala zu definieren. In der Praxis schuf er vor allem sakrale Chorwerke. (Leider konnte ich kein Tonbeispiel im Web finden, dass über eine erträgliche Tonqualität verfügt.)


Büste zu Ehren Ivan Matetic Ronjgov an seinem Geburtsort beim Restaurant Ronjgi in Viskovo

Auch die puristische oder modernisierte Folklore des westlichen Balkans blieb in der internationalen Musikgemeinde weitgehend unbeachtet, obgleich die des östlichen Balkans es z. B. mit dem Frauenchor aus Sofia „Le Mystère des Voix Bulgares“ im Rahmen des Weltmusik-Hypes der späten 1980er Jahre sogar in die englischen Popcharts schafften. Andere Musiker des östlichen Balkans wie der Bulgare Ivo Papasov oder die Fanfare Ciocarlia oder Taraf De Haidouks aus Rumänien erlangten ebenfalls internationale Beachtung. Nicht zuletzt liegt eine Ursache in den musikalischen Volksgruppen der Sinti und Roma, die stark den östlichen Balkan (und Ungarn) bevölkern – weniger aber den südwestlichen. Legendär ist deren Einfluss auf die Entwicklung der Swing- &-Jazz-Gitarrenmusik, wenngleich die meisten gewichtigen Vertreter dieser Richtung aus dem frankophonen Raum stamm(t)en (z.B. Django Reinhardt, Biréli Lagrène). Ebenso legendär wurde der Zigeuner-Swing auf der Geige, nicht zuletzt auch ein Kernelement der Wiener Operettenzeit.


Links: Die Sopile ist ein volkstümliches Instrument der Kvarnerbucht. Das Doppelrohrblattinstrument ist mit der Schalmei und Oboe verwandt. Meistens werden eine kleine und ein große Sopile zusammen gespielt. Zur Herstellung verwendet man Ahornholz
Rechts: Die Gusla gilt als das wichtigste traditionelle Musikinstrument Montenegros. Vorwiegend im Hinterland spielt man es, um meist pathetische Heldengeschichten zu begleiten. In „Der weiße Berg“ des Fürstbischofs und Nationaldichters Petar II Petrovic Njegos heißt es: „In einem Haus, wo man nicht die Gusla spielen hört, in diesem Haus sind die Menschen tot.“


Ich hatte auch das Glück – sagen wir eher, das Unglück – auch zweimal längere Passagen von Musiksendungen im montenegrinischen Fernsehen zu verfolgen (Liveauftritte, Videoclips). Dagegen ist des Deutschen Musikantenstadel schon wieder fast Hochkultur. unsicher Das Reservoir an Möchtegern-Sternchen scheint aber schier unbegrenzt. Künstlich verwässerte und geglättete orientalisch nicht verortbare, redundante Klischeeklänge mischen sich mit schlagertypischer, retortenhafter Hintergrundmusik, zu der meist pathetisch angehauchte Stimmen mehr oder weniger virtuos bis gestelzt in einen lerchenhaften Schlagerhimmel empor zu steigen suchen. Vielleicht gibt es sogar einen balkanischen Ralph Siegel, der alle Schlagerlieder zwischen Athen und Rijeka im Hintergrund für eine fiktive Wettkampfbühne mit Einheitsgesäusel schreibt. Einen gewissen Massengeschmack scheinen die Interpreten jedenfalls zu befriedigen. Aber wir kennen das ja auch aus unseren Landen – so richtig gemessen hat diese Masse noch keiner, nicht selten bestätigt sich populäre Volkskultur durch ihre eigene, übermäßige, in Castings (nicht Karstings! schmunzel ) zuvor linientreu abgeglichene Präsenz, der das Volk mangels angebotener Alternativen kaum ausweichen kann, zumal dazu meist begehrte Volksgetränke gereicht werden. bier Das betäubt dann gut und lässt alles ertragen, sodass sich die Endlosschleife über Jahr(zehnt)e wiederholt.

Auch in der Entwicklung der zeitgenössischen Musik unter den sozialistischer Diktaturen im Ostblock konnte der Ostbalkan seine musikalische Vorherrschaft behaupten. Musiker wie György Ligeti, George Enescu, Eugen Cicero, Michael Cretu (Enigma), Gheorge Zamfir, János Körössy, Johnny Raducanu, Nicolas Simion oder Theodosii Spassov stehen für anerkannte Größen, deren Klangkonzepte sich weit jenseits schlichter Traditionsmusiken bewegen. Erst mit der jüngsten Musikergeneration kristallisieren sich einige Musiker aus dem westlichen Balkan heraus, deren Potenzial von internationalem Rang zeugt. (Ich werde am Anfang der jeweiligen Regionalkapitel das eine oder andere und mehr oder weniger passende Klangbeispiel verlinken – deswegen hier keine Namen.)


Flöten spielen in der Hirtenmusik des Balkans immer wieder eine herausragende Rolle: Hier Flötensouvenirs aus Pocitelj, Herzegowina

Damit stellt sich auch die wohl musikwissenschaftlich noch recht ungelöste Frage, ob denn das – etwa im Vergleich zu Ceausescu harmlose – Regime von Tito vielleicht einen gleichmachenden, besonders lähmenden Einfluss auf die Kultur hatte, was nicht zuletzt aufgrund der nach seinem Tod konfliktreich ausbrechenden, selbstbewusst wachsenden Ethnien im ehemaligen Jugoslawien zu vermuten ist. Im östlichen Balkan scheint die Entwicklung fast umgekehrt, wo Roma und Sinti zunehmend gesellschaftlich an den Rand einer schnell wachsenden kapitalistischen, aber antikulturellen Gesellschaft gedrängt werden. Gleichermaßen brechen die ureigenen ländlichen wie urbanen Kulturformen zusammen, allenfalls aufgehalten durch internationale, identitätsarme Kulturimporte mit Event- und Geschäftscharakter.

Damit könnte ich auch im Anschluss an das Krieg-&-Frieden-Thema im westlichen Balkan die gewagte These formulieren, dass die Balkankriege auch ein Gutes hatten, indem sie die langfristige kulturelle Identität der Ethnien und Völker gefördert haben und die Entwicklung der Staaten nicht nur eine ökonomische nehmen wird. Ansätze gibt es ja auch bereits jenseits des engeren Kulturbegriffs – wie etwa die Absicht in Montenegro, nachhaltigen Tourismus zu fördern – etwa im Gegensatz etwa zu dem Natur-ruinösem Skitourismus in Rumänien. (Ökologie hat in Montenegro Verfassungsrang, was sich aber in der Praxis eher als Leerfloskel erweist.) Der Widersinn, dass aus abscheulichen Verbrechen lichtbringende Kulturen hervorgegangen sind, findet sich weit häufiger als man wünschen möchte. So wären etwa die zahlreichen, die Welt bereichernden Musikkulturen auf den beiden amerikanischen Kontinenten nie entstanden, hätte es nicht eine Zeit imperialistischen Sklaventums gegeben. So weint in jedem der tausend Freudenklänge der Schwarzen Musik auch heute noch eine entfernte Träne einer misshandelten afrikanischen Seele mit. Vielleicht wird es in 100 Jahren oder noch viel später so sein, dass man in den unterschiedlichen und vielfältigen Formen authentischer balkanesker Musik die Tränen aus Srbrenica oder Vukovar noch hören wird?

Fortsetzung folgt