Re: MA: Ausstellung & Jubiläum 200 Jahre Fahrrad

von: veloträumer

Re: MA: Ausstellung & Jubiläum 200 Jahre Fahrrad - 06.12.16 23:47

So, meine Geschichte zur Geschichte des Rades. Immerhin, Bettina hatten eine recht weite Anreise auf sich genommen und war trotz Bahnturbulenzen zur rechten Zeit da, wenngleich ohne Rad. Ich selbst hatte eine Miniradreise daraus gemacht. Beide Tagen waren sonnig, allerdings recht kalt. Samstag -1 bis +4 °C, am Sonntag -2 bis 0 °C. Am Sonntag habe ich die Tour nach knapp 30 km vorzeitig abgebrochen und bin ab Rülzheim per Bahn nach Mannheim. Der Gegenwind aus Nordost war so heftig, dass ich nur sehr langsam vorankam und die Kälte nicht mehr aus den Fingern rauszuhalten war. Einmal Handschuhe aus und schon werden sie nicht mehr warm. Fühltemperatur dürfte bei -8/-10 °C gelegen haben. Eine weitere kritische Situation war an beiden Tage trotz eher trockener Straßen, dass es vereiste Stellen bzw. dünne, kaum sichtbare Reifglätte zu beachten galt. Am ersten Tag, insgesamt noch gut auszuhalten, hatte ich auch noch ein Reifenpanne (Scherben im Mantel).



Die Anreise erfolgte also samstags über bekannte Strecken im Heckengäu via Pforzheim und Keltern, Ettlingen in die Rheinebene, per Fähre (Neuburgweier) in die Pfalz und über die grenznahe Route via Bienwaldmühle nach Bad Bergzabern, für die Jahreszeit mit 125 km recht üppig, auch mit einem Teil Fahrt durch Dunkelheit. Ziel war es, eine weitere Therme kennzulernen, die Südpfalz-Therme:



Bevor ich in die Therme durfte, musste ich noch ein Zimmer suchen. Das wäre keiner besonderen Erwähnung wert, wenn sich die Pfalz als eher touristenfeindliche Gegend mir entgegen stellte. Das ist allerdings mittlerweile ein breites Phänomen und nicht nur in Deutschland. Die Jugendherberge der Premium-Kategorie lockt mit Bed&Bike-Logo des ADFC. Wer diese Prädikate vergibt, mag sie am besten wieder abreißen. Wenn Jugendherbergen nicht geschlossen sind, sind sie ausgebucht. Nicht mal Platz für einen einzelnen Radler, weil Familienevents bzw. Gruppenveranstaltungen schon fast exklusiv in den JH abgehalten werden - der einzelnde (Rad)Wanderer ist da nicht mehr erwünscht. Advents-Halli-Galli, ich solle doch demnächst rechtzeitig vorbuchen.

Tatsächlich? Die Suche bei Pensionen und Gästezimmern endete mit der Erkenntnis, dass hier gar keine Betriebe geöffnet sind - von wegen Hochsaison. Offensichtlich sieht man einen Bett-suchenden Radler als unzumutbare Belästigung und Bedrohung an, obwohl nirgends ausgewiesen wird, ob geöffnet oder nicht. Manche halten nicht mal eine Klingel für nötig. Die angeblichen Gastgeber verstecken sich hinter Türen, einige unterließen es sogar bis zur Tür zu kommen. Der Höhepunkt war, obwohl mich die Anbieter von Gästezimmern durch Fenster gesehen haben, dass niemand hervorkam, aber der Hund rausgeschickt wurde. böse



Selbst das Hotel Rössel im Ortskern hatte nur die Gaststube zum Essen geöffnet, Hotelbetrieb eingefroren. Blieben zuletzt noch einige größere Hotels im Kurviertel am Ortsende nebst See. Okay, kostete mit Kurtaxe gut 50 € mFr. Die 2,50 € Ermäßigung gibt es dann in der Therme für 1,30 € Kurtaxe wiederum retour (15 €, lange Saunancht bis 1 Uhr). Die Therme samt Saunanlage ist jedenfalls recht einladend gestaltet, Personal bringt immer Kleinigkeiten nach jedem Aufguss (Tee, Lebkuchen etc.), die Gastronmie besser als die Technoseumskantine. Zu allem Überfluss hätte das Hotel (Seeblick) auch noch ein Hallenbad gehabt. Soviel Wasser wollte ich auch wieder nicht. Die bilder zeigen den See, aber mit einem anderen Hotel (Nacht/Tag).





Mannheim ist bekannt für übersichtliche Straßenzüge und entsprechend leicht findet sich der Weihnachtsmarkt - zur Mittagszeit lässt sich das Rad noch gut durchschieben. Besonderheiten sind im deutschen Weihnachtsmarktland allerdings selten geworden. Am meisten unterscheiden sich die Märkte noch mit einigen regionalen Imbissvarianten - Pfälzer Dampfnudeln etc. Die Augustenanlage wird als Innovationsmeile inszeniert und auf knapp 2 km erfährt der Tourist, dass ohne die Erfindungen aus Mannheim die Welt eigentlich gar nicht existieren würde. An der Spitze steht natürlich Carl Benz.







Das Technoseum ist ein mehrstöckiges technisches Museum, unten angefangen mit Loks und Wagen aus der Eisenbahngeschichte. Zahlreiche Mitmachmöglichkeiten sind für Kinder eingerichtet, sodass nahezu ein ganzer Tag im Museum mit Familie verbracht werden kann. Die Wechselausstellung - so auch "2 Räder - 200 Jahre" - finden auf der Ebene des Foyers statt, worauf sich Bettinas und mein Besuch beschränkten.



Die Führung leitete keine Kuratorin, sondern eine Angestellte des Museums, für einzelne Technikteile wie Fahrradlampen, Bremssysteme und Probefahrten mit nachgebauten historischen Modellen standen zusätzliche Herren zur Verfügung. Die Ausstellung beginnt zwangsläufig mit der Laufmaschine von Karl Drais - eine Mannheimer Erfindung eines Karlsruhers, der aber in Mannheim wenig beliebt war und nach seiner technischen Revolution die Stadt wieder zurück nach Karlsruhe verließ. Für Karl Drais blieb die Erfindung des Fahrrads ein Flop. Auch schaffte es bis heute Mannheim nicht, ihm ein Denkmal zu setzen.







Der Laufmaschine stand ein Rad aus dem Heute gegenüber - eigentümlicherweise ein Singlespeeder. Die Geschichte wird historisch aufgearbeitet, bei der zwischen der Laufmaschine und dem pedalbetriebenen Rad mit erfolgreicher Resonanz annähernd weitere 50 Jahre liegen - also der eigentliche Start des Fahrradlebens eher 1867 ist. Noch in der Phase der gefährlichen Hochräder, von denen die Fahrer reihenweise herunterpurzelten, entstand bereits das erste Radrennen, wenn auch eher in Metern als in Kilometern zu messen. Radfahren und Radsport lagen also von Anfang an eng beieinander, wie auch später Ende des 19. Jahrhunderts Dopingmittel schon im gängigen Gebrauch standen, etwa um das mehrtägige Radrennen Paris-Brest-Paris über 1200 km zu überstehen (das sich ja gewissermaßen bis heute gehalten hat).



Ein besonderer Fokus von Führung und Ausstellung liegt auf dem sozialen und kulturellen Kontext des Radfahrens. So begannen auch recht früh Frauen Gefallen am Radfahren zu finden, was die Herren dazu veranlasste, gesundheitliche Bedenken zu äußern, außerdem dies ins unsittliche Licht zu stellen. Es waren aber auch und besonders Frauen, die Rad fahren wollten, die den wirtschaftlichen Erfolg des Gewerbes vorantrieben. Tatsächlich war das erste Radland aber nicht Deutschland sondern England. Das lag u.a. auch an einer freizügigeren Bürgergesetzgebung, denn in Deutschland war das sich freie Bewegen über den Wohnort hinaus längst nicht allen erlaubt. Fahrräder waren in ihrer Pionierzeit im 19. Jahrhundert allerdings auch nahezu unerschwinglich teuer - also eine Sache der Aristokraten.





Die Luxusstellung des Radfahrens führte nicht zuletzt zu vielen humoristischen Verballhornungen des Radlers, zu Karikaturen. Der Radler war suspekt. Ob sich das komplett gewandelt hat, wie in der Führung gewertet, vermag ich kaum zu bejahen. Irgendwie ist der Radler heute immer noch suspekt - nicht zuletzt bestärkt durch Erlebnisse bei der Zimmeruche (nicht nur in der Pfalz). Entsprechend vielfältig wurde das Radfahren in der Presse reflektiert. Kaum erreichte das Radfahren auch andere Schichten, kam es zu sozialschichtspezifischen Verhaltensweisen. Das Bürgertum raste mit den Rädern, während die Arbeiterschaft das Langsamfahren predigte - sogar Wettbewerbe zum langsamsten Fahren ausrief. Wer rast hat Geld, wer genießt, ist arm. Slow cycling - eine ebenso historische wie postmoderne Bewegung. Erstaunlich. Und heute?



Erstaunlich sind im technischen Bereich auch immer wieder Nuancen, die bereits früh berücksichtigt wurden. Höhenverstellbarer Lenker, Sattel, Armaufstützer (wie beim Triathlon heute), Federung gab es schon in den Anängen des Laufrades. Früher wie heute baute man Dreiräder als Sicherheitsvarianten. Auf Holzräder und folgten bald Vollgummi und bald auch luftgefüllte Reifen - das führte zu einem enormen Komfortfortschritt. Lagertechnik und Luftreifen waren gleichwohl Entwicklungen in der Fahrradfertigung, die von der zeitgleichen Entwicklung der Autoindustrie willkommen aufgegriffen wurden. Das Fahrrad war also mal die Leittechnologie im individuellen Verkehrswesen!





Das Fahrrad, auch noch heute als Schweizer Armeerad bekannt, zog bereits Ende des 19. Jahrhunderts auch seine Kreise beim Militär. Waffen hatte aber auch der Zivilradler: Hunde und Radler sind bis heute ein Spannungsverhältnis. So führte man recht früh zur Abwehr auch eine Hundepeitsche als Accessoires mit.





Anfangs waren Fahrräder Schreinersache. Mit Stahlrohren änderte sich das natürlich. Auch mussten immer mehr Handwerkstechniken ineinander greifen, wie etwa die Beleuchtung mit ausgefeilten Karbidlampen. Dabie zeigte sich, das nicht jede neue Erfindung besser wahr. Das Elektrolicht hatte viele Nachteile gegenüber Karbid, wurde aber der Bequemlichkeit vorgezogen. Die Lichtfarbe vom heutigen LED ist immer noch nachteilig genüber den alten Lampen. Auch Holzrahmen waren lange Zeit dem Stahl in puncto zuverlässigem Leichtbau für Rennräder überlegen, hinein in die 1930er Jahre. Bei den ersten Rädern mit zwei Zahnkränzen mussten die Kette noch mit der Hand umgelegt werden.











So wie Radrennen früh beliebt waren, waren auch Steherrennen mit Motorrädern als Windschutz bereits um 1930 sehr angesagt. Das E-Bike von Heute - manchmal schon vergessen - hat schließlich einen Vorläufer mit Hilfsmotor. Das Fahrrad in Verkehr und Gesellschaft erlebte schließlich in den späten Wirtschaftswunderjahren der 1960er Jahre den Tiefpunkt, denn das Auto dominierte, Räder gab es mehrheitlich als Klapprad, das im Kofferraum verkümmerte. Auch Jugendräder wie etwa das Bonanza-Rad waren mehr als Motorrad-Ersatz gedacht als für eine pedalierende Alternative. Die Ausstellung führt die Ölkrise 1973 als Wendepunkt, gleich mit dem Aufkommen der Grünen in einem Atemzug genannt, was allerdings historisch ein wenig verzerrt ist. Nach meiner Kenntnis gab es eine erste größere Radsportwelle mit Didi Thurau, die Ökobewegung war eine spätere Erscheinung der 1980er Jahre, eher noch später, weil anfangs die Grünen vornehmlich sich mit Atomkraft und der Nato-Nachrüstung beschäftigten.









Abschließend folgt das Rad im Kontext der Natur - zuvorderst das Mountainbike vor Alpenkulisse gesetzt. Das Reiserad erscheint auch, wenngleich etwas stiefmütterlich berücksichtigt. Das Rad wird schließlich zum individuell gestaltetem Lifestyle-Produkt, beschreibt Formen der Zukunftsmobilität - dargestellt am Beispiel der Stadt Kopenhagen - und ermöglicht neue Wirtschaftsentwicklungen in Ländern Afrikas (dort produziert wie auch auf dortige Lastentransporte ausgerichtet).



Ein Besuch der Ausstellung ist sowohl unter technischen Aspekten wie auch dem gesellschaftlichen Kontext des Radfahrens sehr empfehlenswert. Für 25 € gibt es vor Ort einen gut gearbeiten Ausstellungskatalog, der die beiden Aspekte vertiefend darstellt - also nicht nur Exponate abbildet. Zu jedem Kapitel gibt es ausführliche Quellenangaben. Der Katalog ist auch im Buchhandel erhätlich, kostet dort aber 5 € mehr (leider habe ich aufgrund beschränkter Transportkapazität versäumt den Katalog gleich vor Ort zu kaufen).

Danke nochmal an Bettina für das Kommen und das Gespräch.

Im Sinne des slow cycling: Immer Kette Links!