Werte Gemeinde,

in einer Art Aufbruchstimmung gegen Ende meines Studiums hatte ich mir ein Reiserad aufgebaut gehabt. Alter Standard: Stahlrahmen, Gewindegabel, Randonneurlenker, 28"-Laufräder, 25-mm-Reifen, Cantileverbremsen, 3x-Kettenradgarnitur, 6x-Schraubkranz, nicht rastende Vorbauschalthebel, Pedale mit Haken und Riemen, "Geierschnabel"-Sattel, ...

Das Ganze ist nun 34 Jahre her. Vieles habe ich seither umgebaut, außer dem Rahmen und den Bremsen sind kaum noch Originalteile vorhanden. In diesem Dritteljahrhundert hat mich der Bock 65.000 km durch viele Länder Europas getragen, er sah einige Fähren, noch mehr Züge, sowie hie und da mal ein Flugzeug von innen. Ich hatte meistens einen Riesenspaß mit ihm, die ernsthaften Pannen hielten sich in Grenzen.

Doch nun möchte ich ein Neues. Warum? Der Rahmen hat mittlerweile doch ein paar Schwächen, die sich nicht ausweiten sollten. Dazu alte Normen (hinten 126 mm Nabenbreite!) mit der damit zusammenhängenden Ersatzteilproblematik, insbesondere in dünn besiedelten Regionen. Dann die mangelnde Geländetauglichkeit; schon bessere Schotterwege werden mit Gepäck arg mühsam. Nicht zuletzt möchte ich ein wenig von dem seither erreichten technischen Fortschritt, insbesondere bei Schaltung und Bremsen, profitieren. Der Oldtimer bekommt seinen verdienten Ruhestand, einen Ehrenplatz an der Garagenwand und wird aus nostalgischen Gründen bei besonderen Anlässen hier in der Gegend nochmals ausgeritten.

Daher nun dieser Thread. In den vergangenen Wochen habe ich dieses Forum (und viele andere Webseiten) rauf- und runtergelesen, immer mit Blick auf das Datum der Beiträge und die Einsatzgebiete der jeweiligen Verfasser, dabei viele wertvolle Informationen mitgenommen, da mein Halbwissen über Fahrradtechnik doch arg veraltet ist. Einiges hat sich dadurch geklärt, diverse Fragen sind für mich jedoch noch offen, hier erhoffe ich mir von den Antworten auf meinen Beitrag weitere Erkenntnisse, damit ich nicht allzu ahnunglos den Händlern gegenüberstehe. Selbst aufbauen möchte ich nicht mehr. Meine Augen werden immer schlechter, ich bin sowieso eher grobmotorisch veranlagt und wundere mich daher immer mehr, dass mein altes Rad jahrzehntelang so gut funktioniert hat grins

Mein Plan ist es, im Herbst dieses Jahres das neue Rad zu bestellen (= dann, wenn niemand mehr ans Radfahren denkt und die Händler Zeit haben), es dann irgendwann im Winter zu bekommen, im Frühjahr 2024 eine erste kleinere Tour zu machen, um vor der nächsten größeren Tour Erfahrungen gesammelt zu haben und ggfs. am Rad oder der Ausrüstung nochmals nachjustieren zu können.

(Der Beitrag ist lang, da ich mich bemüht habe, viele Rückfragen, die typischerweise in solchen Threads auftauchen, gleich zu beantworten.)

Los geht's:


Einsatzbereiche:

  • Mehrwöchige Radreisen, typischerweise 1-2 pro Jahr à 2-4 Wochen, vielleicht auch mal etwas länger. Das wären dann ca. 2000-4000 km/Jahr.
  • Ausschließlich für Radreisen und genau dafür optimiert. Insbesondere nicht als Alltags- oder Einkaufsrad, dafür habe ich ein anderes Gefährt.
  • Reiseländer: Nur innerhalb Europas, dort allerdings auch entlegenere Regionen (auf meiner Wunschliste stehen z.B. noch Mittelnorwegen incl. Lofoten, die finnische Seenplatte, die Toskana, vielleicht mal Masuren oder ins Baltikum, evtl. sogar Island). Nichts wirklich Extremes also, die nächste gut sortierte Fahrradwerkstatt kann jedoch auch schon mal etwas weiter weg sein.
  • Teilweise (aber nicht immer) mit Zelt, allerdings eher packmaß- und gewichtsoptimiert, ohne in Ultraleicht-Extreme zu verfallen. Motto: Lieber öfters waschen als Unmengen Klamotten mitnehmen, der Stiel der Zahnbürste bleibt jedoch dran.
  • Mitgeführtes Gepäck: Ca. 17-20 kg, bei Touren ohne das Zeltgeraffel ca. 10-12 kg. Systemgewicht wäre also ca. 110 kg, ein wenig Reserve für Unterwegseinkäufe, Wasser etc. dabei natürlich sinnvoll.
  • Untergrund: Insgesamt deutlich über 90% Asphalt, der Rest unbefestigte Straßen/Waldwege/Schotter. Auch hier nichts Extremes, ein paar 100 Meter kann ich auch mal schieben, in der Vergangenheit kam das eher selten vor. Am liebsten fahre ich auf kleinen asphaltierten Sträßchen/Wegen mitten durch die Pampa mit kaum Autoverkehr, allerdings lassen sich eben Schotter- und Waldwege je nach Region eben nicht immer sinnvoll vermeiden.
  • Mein Tourenaufbau incl. Fahrweise ist eindeutig "genussorientiert". Ich bin weder Kilometerfresser noch Radmasochist. Fahrstrecke ist typischerweise 80 km am Tag, es können auch mal 40 oder 120 sein, je nach Gelände, Wetter, Windrichtung, Zufallsunterwegsbekanntschaften, Orten zum Angucken/Verweilen, Übernachtungsmöglichkeiten, Lust und Laune.
  • Meine Daten: 181 cm, 72 kg, männlich, Schuhgröße 43, beim Alter winken die 60 fröhlich am Horizont. Ich habe das Glück, körperlich ein ziemlicher Durchschnittsmensch zu sein. Ein Sitzriese bin ich definitiv nicht, eher sind meine Beine etwas länger, aber weit von irgendwelchen Extremen entfernt. Es sollte daher nicht so schwer sein, ein passendes Rad aus Standardteilen mit Standardmaßen zu finden.


Was möchte ich?

  • Das Rad sollte robust sein, auch Transporte in rauheren Umgebungen wie Flugzeugen oder (vollen) Zügen wegstecken.
  • Ich möchte keine Diva mit eher zickigen Teilen, die gehätschelt werden wollen. Der Wartungsaufwand sollte so gering wie (sinnvoll) möglich sein, insbesondere unterwegs.
  • Ausschließlich Technik, die sich in der Praxis schon bewährt hat. Ich bin definitiv das Gegenteil eines "Early Adopters" und hier auch nicht sonderlich experimentierfreudig. Der Kram sollte einfach nur zuverlässig funktionieren.
  • Die unterwegs typischerweise ausfallenden und damit möglicherweise zu ersetzenden Teile sollten in den genannten Regionen einigermaßen gut zu beschaffen sein. Daher keine Exotenteile und erst recht keine Sonderlocken irgendwelcher Hersteller.
  • Montage einer Lenkertasche ist Pflicht, ebenfalls diejenige eines Rückspiegels. Solche Kleinteile montiere ich selbst, es sollte eben der Lenker nicht so gebaut sein, dass beides nicht ranpasst. (Rennlenker möchte ich an diesem Rad nicht mehr.)
  • Beleuchtung ist unwichtig, ich fahre nicht nachts. Für die wenigen Kilometer in der Dämmerung oder in Tunneln reicht mein vorhandenes Akku-Stecklicht (50 Lux) plus das Batterie-Rücklicht, letzteres auch gerne wie bisher am Gepäckträger fest verschraubt. Sollte sich diese Anforderung jemals ändern, kann ich ja immer noch ein neues Vorderrad mit Nabendynamo kaufen.
  • Bislang bin ich problemlos ohne Vorderradtaschen ausgekommen, auch wenn Zelt, Schlafsack, Isomatte und Kochkram dabei waren. Das möchte ich auch so beibehalten.
  • Ich möchte keinesfalls ohne ausführlichen Test (Ausmessung, Probefahrt) kaufen, sondern ein Rad, das bestmöglich meinem Körper und sonstigen Anforderungen entspricht. Daher scheiden Versender ebenso aus wie Anbieter, die weit weg sind (ich wohne in der Mitte Baden-Württembergs).
  • Standard-Verschleißteile tauschen (Reifen, Kette, Bremsbeläge, ...) sowie einfache Montage/-Reparaturarbeiten (Schaltung etwas nachjustieren, einfache Seitenschläge am Laufrad rauszentrieren, diverses Zubehör anbauen, ...) mache ich selbst. Spezialkram würde ich der Werkstatt überlassen.
  • Völlig irrelevant sind für mich Markennamen, Modeaspekte, Designerkram, Schickimicki, Statussymbole, Coolnessfaktor, "Lifestyle" etc.
  • Budget ist ca. 2500 Euro, bei guter Begründung soll es an ein paar 100 Euro mehr nicht scheitern.



Hier endlich die Punkte, bei denen ich mir noch unschlüssig bin und bei denen ich mir Eure Gedanken dazu gerne anhöre:

  • Rahmen: Beim Material bin ich völlig offen. Mein gut abgehangenes Halbwissen "Carbon = empfindlich, Stahl = schwer, Alu = bockhart" stimmt in dieser Allgemeinheit wohl nicht mehr. Ist Stahl immer noch das Sinnvollste unter dem Aspekt der Robustheit/Ausfallsicherheit, auch beim Transport?
  • Gabel: Vom Thema "Federgabel" habe ich mich verabschiedet, es sei denn, jemand kommt mit einem richtig guten Argument für eine ebensolche für mein Einsatzgebiet. Also Starrgabel. Wäre auch die Kombination Alurahmen/Stahlgabel sinnvoll?
  • Größe der Laufräder/Reifen: Zuletzt fuhr ich vorne und hinten 622-28 (Schwalbe Marathon) auf Felgen Mavic MA40. Auf Asphalt klasse, auf feinem Schotter noch okay, auf gröberem Untergrund wie z.B. in Mittelschweden sehr mühsam. 28" gibt es ja noch, 26" scheint zugunsten von 27,5" immer mehr auf dem Rückzug zu sein, doch wie sieht es mit der Verfügbarkeit von Ersatzlaufrädern/-felgen bei 27,5" in oben genanntem Ausland aus? Problemlos oder mancherorts schwer zu bekommen? Statt der derzeitigen 28-mm-Reifen will ich schon was Geländetauglicheres, auch wenn ich größtenteils Asphalt fahre. Was wäre ein sinnvoller Kompromiss? 40 mm? 55 mm? Eine Felge, die beides kann und einfach ausprobieren oder gar Reifen je nach Zielregion montieren?
  • Schaltung: Standard-Kettenschaltung ist gesetzt. Im Gegensatz zu Rennrädern und MTBs scheint 3x10 bei Reiserädern noch nicht ausgestorben zu sein, doch 2x11 sehe ich auch dort immer öfters, sowohl auf den Hersteller-Webseiten als auch in freier Wildbahn. Mir sind die Berggänge viel wichtiger als noch bei 35 km/h mittreten zu können. Was ist am robustesten? Wie sieht es mit der Ersatzteilversorgung unterwegs aus, sollte doch mal das Schaltwerk kaputtgehen (durch Sturz o.ä.)? 3x10 ist seit 20 Jahren bewährt, doch 2x11 mit der oft genannten Philosophie "vorne meist auf demselben Kettenblatt fahren und dort nur bei Geländewechsel schalten" (funktioniert das in der Praxis wirklich?) würde mich schon reizen, bei 3x rührt man ja viel häufiger im Getriebe herum. (Die letzten 20 Jahre fuhr ich 3x7-fach, vorne 22-42, hinten 13-32, Entfaltung 1,58-6,95 m. Vom Übersetzungsbereich und der Abstufung war das gut passend, schneller brauche ich nicht, leichter dürfte es gerne sein. Ich werde nicht jünger und die Berge nicht flacher.)
  • Bremsen: Meine Tendenz geht zu hydraulischen Scheibenbremsen. Am MTB habe ich die Shimano XT, mit denen ich bislang sehr zufrieden bin. Doch wie sieht es z.B. mit den Bremsleitungen beim Transport in Zug/Flieger aus? Besteht da eine reelle Gefahr, dass da was kaputtgeht und ich dann ohne Bremsen dastehe oder sind die Dinger robust genug? Wie sind die Chancen, da unterwegs was notzureparieren, falls z.B. eine Leitung undicht wird, aus welchem Grund auch immer (Rad fällt ungünstig um o.ä.)?
  • Achstyp: Nun habe ich viel über "Schnellspanner vs. Steckachse" gelesen, aber ein Thema nirgends gefunden: Wie sieht es mit der Verfügbarkeit von Ersatzlaufrädern unterwegs aus? Wenn man aus irgendeinem Grund (Sturz, Unfall, Transportschaden o.ä.) baldmöglichst ein neues Laufrad bräuchte: Bei welchem Typ ist es am wahrscheinlichsten, in den wenigen Fahrradläden in den schottischen Highlands, im französischen Zentralmassiv oder im kroatischen Nirgendwo zumindest irgendwas Passendes zu finden?


Unschlüssig bin ich mir auch noch, ob ich für mein mutmaßlich letztes Reiserad gleich ins oberste Regal greifen sollte (Patria, Velotraum usw; letztere wären nicht so weit weg von mir und ich könnte dort direkt statt über einen Zwischenhändler kaufen) oder ob es die solide Mittelklasse à la Cube oder Stevens für meine Bedürfnisse nicht auch täte. (Wo verstecken sich eigentlich die 500-1000 Euro Mehrpreis der Oberliga? Nur im Baukastensystem oder ist die Qualität des Gesamtpakets doch nochmals deutlich höher?)

Gibt es noch etwas, worauf ich unbedingt achten sollte? Irgendwas, was ich den Händler explizit fragen sollte?

Danke an all diejenigen, die bis hierhin ausgehalten haben und vielleicht den einen oder anderen Kommentar zu meinen Überlegungen posten. (Mir geht es weniger um konkrete Kaufempfehlungen für bestimmte Radmodelle als um Argumente für oder gegen genannte Komponenten sowie allgemeine Hinweise.) schmunzel

Der Radkater

(P.S.: Ich habe versucht, die einzelnen Listenelemente der besseren Lesbarkeit halber etwas auseinanderzuziehen, doch es ist mir nicht gelungen...)