Re: Die Legende von Pirineosaurus

von: veloträumer

Re: Die Legende von Pirineosaurus - 16.12.14 23:20

KAPITEL 6 – FRANCE II
Gebirgskessel, Wasserfallparaden, Radleidenschaften und Nebelfahrten: Wetterlotterie in den Regionen Béarn und Hautes-Pyrénées in und um den Parc National de Pyrénées

Mo 7.7. Canfranc-Estación – Puerto Somport (1650m) – Urdos – Etsaut – Lescun (900m) – L'Estanguet – Bedous – Asasp – Eysus – Oloron-Ste-Marie
91 km | 13,7 km/h | 6:36 h | 1160 Hm
W: weiter Regen, mal stärker , mal schwächer, Wolken tief, kalt, 8-18 °C, auch windig
Ü: C Stade municipal 0 €
AE (eine Brasserie in Ste-Marie): Gänseleber-Salat mit Speck & Spargel, Ente in Cidre-Sauce, Westernkart., Apfeltorte, Rw, Cafe 29,90 € (+)

Den Morgen hätte jedes Menschenkind verschlafen, nur Pirineosaurus fühlte sich seinem Trieb so ausgesetzt, dass er die Tür der Pilgerherberge hinter sich ließ. Das reichte für 100 Meter – bis zum nächsten Dach, das mäßigen Schutz für die weiteren Schüttungen, die schon die ganze Nacht über angehalten hatten, bot. Der Wind blies das Spritzwasser noch weiter in jeden Unterstand. Kalter Wind ließ Pirineosaurus zittern – nichts, was ein süßes Lächeln versprach. Vielleicht doch nach Süden? Zaragoza? Mit dem Bus? – Das wäre nicht der Weg von Pirineosaurus gewesen.

Die Geduld zahlte sich mäßig aus, dampften die Wolken doch bald ein wenig höher über der Straße. Nur noch leichter Niesel ließ mich auf den Sattel zurückkehren. Die grandiose Bergwelt aber zeigte sich nur in kleinen Ausschnitten – man musste sich alles ausmalen. In der großen Kehren weiter oben meine ich, dass es einen riesigen Bergkessel gibt, von spitzen Gipfeln umgeben, deren Felsskelett nur am obersten Horizont zum Vorschein kommt, während sie quasi bis zur Halskrause grün bemäntelt sind. Roter Abbruchfels schimmert durch die Wolkengischt vom Straßenrand, nur eine Hand breit ins Nichts. Candanchu ist Skiort – die unschönen Verbauungen zeigen es auch ohne dass man die Lifte erkennen muss. Es zieht sich dann noch eine unerwartet lange Schleife bis der Pass erreicht ist. Dort blickt man vielleicht 20 Meter weiter – es ist ein Nebelmeer – eine feuchte Stille an der Schranke. Mit Wind ist die Kälte unbarmherzig und Pirineosaurus’ Pfoten zeigen leichte violette Erfrierungstöne, sodass ich im Pass-Gasthof (Übernachtung möglich) auf Besserung wartete.

Aber irgendwann ist Kaffeetrinken auch eine endliche Beschäftigung. Als sich ein ebenfalls wartendes Wanderpaar aus dem Tulpenland zum Gehen entschloss, faltete ich auch meine Häute zusammen und versuchte die Nebelabfahrt. Mir staken entgeisterte Pilgergesichter unter breiten Regenhauben entgegen. Immerhin tauchte ich alsbald unter die Wolke ab, sodass sich die Sicht verbesserte und der Niesel auch mal Pause machte. Im Vallée d’Aspe finden sich zahlreiche Relikte der ehemaligen Bahnlinie – Viadukte, Stahlbrücken, verloren ins Nichts führende Gleiskörper in grünen Wiesen, Tunnelruinen. Das ganze ist auch mit Infotafeln dokumentiert und illustriert. In Bedous ist die Baugeschichte der Bahn in den Arkadenbögen nachgezeichnet. Die Bahnlinie nach Spanien wurde 1970 eingestellt, nachdem eine Brücke eingestürzt war. Der tragische Unfall wurde als Vorwand verwendet, um die immer weniger bedeutende Bahn ganz vom Netz zu nehmen. Und die letzten Wiederbelebungsversuche dürften denn auch mit dem Bau des 2003 eröffneten Somport-Straßentunnels gänzlich erloschen sein. Pirineosaurus weiß, dass die Menschenkinder im Zeitalter der Asphalt-Bleckkisten lebten und nicht mehr davon los lassen wollen.

Das Vallée d’Aspe ist landschaftlich ein ziemlicher Kontrast zur Südseite. Engste Talführung um Felskanten gewunden, überhangen von laubgrünem Blattwerk, Manchmal fällt es schwer, den Blick nach oben zu richten, ohne die Halswirbel zu verbiegen. So ist das Fort du Portalet oben so in den Fels hineingeschweißt, dass es für Freund und Feind nahezu unsichtbar ist. Die Dörfer hier haben den leicht tristen Charme von idyllischer Bergromantik, in der die weite Welt unwirklich weit weg scheint. Das Häusergrau ist immer wieder liebevoll mit Rosen und Rankpflanzen aufgehübscht. Es sind pirineosaurische Landschaftsbilder, der in dem ganzen Grün das freundliche Leuchten der Ahnen sieht, selbst wenn es die Regentropfen bescheiden. Die Bergkultur, die Flora und Fauna kann man sich komprimiert im Nationalparkhaus ausgangs Etsaut anschauen.

Pirineosaurus, der sich um seine Höhenflüge beraubt sieht, wagt dann doch den Aufstieg nach Lescun. In engen Kehren wendet sich die Südvariante steil durch Wald, welcher den leichten Regen noch etwas abhält. Lescun soll ein großes Panorama in einen Bergkessel (Cirque de Lescun) erlauben. Doch frisst sich der Blick über die grünen Berghänge in den Wolken fest. Es ist der Blick ins Nichts, das nur die Fantasie zu füllen vermag. Der Anstrengung scheint es fast umsonst, den Bergort erklommen zu haben. Doch sind auch hier Momente zu erleben, die den Ort selbst vor unsichtbarem Fels zum a-STONE-ishing thing machen. Es sei mit den Worten von Mercé Rodoreda (orig. aus dem Roman „Auf der Plaça del Diamant“) beschrieben, wie dieser Atem des Ortes wirkt: „Obwohl früher Nachtmittag, konnte man kaum noch sehen. Die Regentropfen hingen an Wäscheleinen und spielten Fangen miteinander. Manchmal fiel ein Tropfen von der Leine, auf die Erde, aber bevor er hinunterfiel, dehnte und streckte er sich, weil es ihm schwer fiel, sich von den anderen loszureißen… Ein Nieselregen, die Wolken waren so schwer, das ihre Fülle sich an den Dächer entlang schleifte.“

Nach der Klause der Defilé d’Espot im unteren Vallée d’Aspe öffnet sich das Tal mit weiten, satten Grünhügeln. Die Gave d’Aspe hat ihr wildes Wasser gezähmt und treibt spiegelglatt gen Oloron-Ste-Marie. Das Städtchen selbst ist eigentlich ein Doppelort. Schlösschen, brunnenverzierte Stadtmauer und Uferhäuser schaffen eine Idylle, die durch die Geranien hindurch vom Wasserglanz als impressionistisches Bild zurückgeworfen wird. Es ist ein sehr träumerischer Ort, gleichwohl er die Betriebigkeit eines kleinen Subzentrums hat. Ein leises a-STONE-ishing wiederum, begleitet von dem Staunen über den Regenbogen, den der abtropfende Himmel Pirineosaurus spendiert.

Di 8.7. Oloron-Ste-Marie – Belair – Rébenacq – Lys – Bruges-Capbis-Mifraget – Col de Tisne (496m) – Arthez-D'Asson – Etchartes – Col de Spandelles (1378m) – Argèles-Gazost – Baucens – Argèles – Beaucens – Arbouix
109 km | 11,4 km/h | 9:35 h | 2265 Hm
W: morgens heiter, später giftiger Nieselregen, windig, 22-12 °C
Ü: C Hautacam 7,83 €
AE (Brasserie Argèles): Quiche Lorraine, Spaghetti Bolognese, Rw, Cafe ~ 15 € (––)

Dem Frühstück gefolgt, eine Passage über eine verkehrsreiche Ausfallachse, schwingt man sich alsbald durch die grünen Vorhügel der Gebirgswelt – der Aussichtspunkt nennt sich treffend „Balcon des Pyrénées“. Das Panorama ist – wenngleich im Wolkenmeer stark getrübt – schlicht a-STONE-ishing.

Anm. von veloträumer: Das Béarn ist sicherlich recht gut von Hautes-Pyrénées zu unterscheiden. Demnach ist das Béarn ausgesprochen Grün, weniger felsig, ein Übergang zum Pays Basque, wo allerdings die spitzen Gipfel fast gänzlich entfallen, es nur fast nur noch Kuppenberge gibt. Die Täler des Béarn sind wild wuchernde Halburwälder, Wasserfälle sind von feinstrahliger Zierde und Feuchte kann hier nur schwer entweichen. In Hautes-Pyrénées hingegen schießt das Wasser donnernd aus hohem, schwerem Fels – majestätische Granitfelsen, schroff und höher als im Béarn. Die Gebirgskessel sind alpiner, und die grünen Wiesenmäntel verenden früher als dass sie den Horizont erreichen können. Des Weges von Pirineosaurus, hin und zurück durchs Béarn machte aber eine sinnvolle Trennung schwierig, dass hier beides zusammengewürfelt erscheint. Die Grenze, das sei hier der Orientierung wegen genannt, bildet im Vallée d’Ouzum ziemlich genau der Abzweig zum Col de Spandelles einerseits und eine Querlinie zur Höhenpassstraße zwischen Soulor- und Aubisque-Pass anderseits bei der Rückfahrt. Das übergreifende Element über beide Regionen ist der Parc National des Pyrénées, der in einem mal dünneren, mal breiterem Streifen entlang der spanischen Grenze verläuft – vom Pic Lariste und dem nördlichen Massiv jenseits des Quellgebietes des Rio Arágon im Westen des Somport-Passes bis zum bergseenreichen Massif de Néovielle und dem Cirque de Troumouse im Osten.

Es sind einsame Hügelweiden, Weiler und kleine Dorfperlen, die man auf den Nebenwegen zum Ouzom-Tal passiert. Mag man oft dem Wind attestieren, dass er die Wolken vertreibt, so obliegt es in diesem Sommer dem Wind, Wolken heranzuschaffen. Kaum hatte sich das Sonnenlicht eingeschmeichelt, wird es auch wieder dunkelgrau davongejagt. Es dauert aber noch bis zur Auffahrt zum Col de Spandelles, bis Pirineosaurus wieder spüren muss, wie sich seine Häute gefährlich durchweichen. Aus seinen unsaurischen Hilfsmitteln greift er mal wieder zum wichtigsten Accessoire dieser Tour – der Regenjacke, deren zwingend einer Kapuze bedarf, da allein der Wind so in die Halskrause hintreibt, dass Pirineosaurus an einer Halsstarre versteinern könnte.

Die Wasserfallenensembles des Ouzom-Tales verlangen aber Pirineosaurus ein jauchzendes a-STONE-ishing ab, obgleich er selbiges schon mal Jahre zuvor bewundern durfte. Einige sprießen wie Spinnfäden über Moose, Gräser und Felsvorsprünge, andere werfen breite, silbrig glänzende Lamettabänder über hängendes Urwaldgrün aus Liliengras, das sich im stäubenden Getöse still behaupten kann. Das Tal ist manchmal so eng, dass die Fahrbahn für bergauf und bergab getrennt geführt werden muss; dass auch mal ein Haus im Fels über der Straße Platz findet.

Was des tiefen Tales recht, ist den Aufstieg zum Col de Spandelles billig. Ein Meer des Grüns überwinde ich über eindrucksvolle Schleifen, derweil die Wolkennässe immer dichter und garstiger wird. Die Kühe an der Straße erkennen Pirineosaurus als wahre Sauriergestalt und sind so erstaunt, dass sie wie versteinert Pirineosaurus anstarren. Ein paar ängstliche rennen davon, wahrscheinlich haben sie mit anderen Sauriern schlechte Erfahrung gemacht. Trotz der Sichtbeschränkung reicht das straßennahe Grün, um das Auge zu blenden und leuchtet gar ganz ohne Sonnenstrahl. Nochmehr leuchten Blumen überall, in Gelb, in Blau, in Rosa – nicht selten sind es Glocken, die Jubel läuten. Fast kein Fels und doch stockt Pirineosaurus der Atem, als wollte er ein a-STONE-ishing ausstoßen.

Nicht unweit unterhalb der Passhöhe findet sich ein Abzweig, der auf Schotter über den Col de Couradeque zur Soulor/Aubisque-Straße führt. Wenngleich nur ca. 200 Hm bis zur Passhöhe schottrig sind, mag es Pirineosaurus bei solchem Wetter nicht angehen. Die Piste ist reichlich weich und eine erneute Qual durch Wolkennässe verleidet Pirineosaurus dieses Experiment, das bei Trockenheit mit ähnlicher Ausrüstung durchaus erwägenswert wäre. So fegt das saurische Rad hinunter durch das Tal der Bergons. Es gibt nicht viele Ausblicke, stark bewaldet – Tannen oben, Laubhölzer unten. Sofern ein Ausblick, entstehen am gegenüberliegenden Hang wunderbare Farbmuster von verschiedenen Grüntönen, die die kräftig ziehenden Wolken erzeugen. Nur muss Pirineosaurus die ganze Abfahrt lang frieren als wäre schon Winterzeit oder gar Eiszeit.

Es war wohl ein Fehler, nicht gleich den Camping vor den Toren Argelès’ in der Talsohle zu wählen. Pirineosaurus quert die Talsohle, um einen günstigen Basisstandort für die Auffahrt nach Hautacam zu beziehen. Der Camping liegt aber mal wieder in ungünstiger Distanz zu den Speisenäpfen, die nun mal eine saurischer Nimmersatt wie Pirineosaurus braucht. So weist ihm die Campingfrau zu einem Restaurant in eine bergige Sackgasse. Dort angekommen – das Ambiente recht ansprechend, die Weingläser bereit, eröffnet ihm der Gastwirt, dass es ihm nicht beliebe, noch zu kochen, obwohl draußen nicht mal die Helligkeit voll verblichen. Als Pirineosaurus von dem Angebot erfuhr, dass es noch ein paar abgenagte, abgestandene Confit de Canard gäbe, packte diesen die Wut über das faule Gastwirtgesindel in dem Land, das sich erdreistet, die Landesküche zum UN-Welterbe erhoben zu haben. „Immer das gleiche Knochengeflecht, keine Einfälle mehr, und nur noch von der Aufwärmplatte!“, schnaubte Pirineosaurus in sich hinein. Sein Feuerschleim errötet sein Gesicht. Er nahm Jacke wie Mütze, knallte das Türgebälk, im Abgang mit grollend drohlichen Gebärden. Ein offenbar der saurischen Sprache mächtiger Gast versuchte im Nachgang noch zu retten, was nicht mehr zu retten war. Pirineosaurus war fest entschlossen, diesem selbstgenügsamen, selbstherrlichen Gourmetverräter die rote Karte zu zeigen. Sollen er doch bankrott gehen, wenn er seine Gäste einfallslos zu Sandmännchenzeiten abfüttern möchte! Und überhaupt – nicht nur er, alle diese Franzosen – diese Gallier, dass einem Galle überkocht!!

Des Pirineosaurus’ Wut war dabei so überschäumend, dass er bei rasendem Schuss zu Tale irgendwo seinen Schutzmantel verlor. Vergeblich auch zum anderen Berg hinauf – auch dort nur geschlossene Kochgruben – suchte ich meine letzte Hoffung in Argelès. Dort war aber der Zeiger auch schon kurz vor Zehne – eine Zeit, zu der die Franzosen wie auf Generalsbefehl sämtliche Kochfeuer ausblasen. Pirineosaurus bekommt schließlich in einer Bistro-Bar aufgewärmte Tiefkühlkost zu schmecken, deren Konsistenz und Aromen im Gaumen von Pirineosaurus knurrende Turbulenzen auslösten. Nur mit Mühe konnte Pirineosaurus die Speicheldrüsen überlisten, wenigsten grundlegende Kalorien aufzunehmen. Dazu musste er auch noch dem schon bekannten Ballspiel um den schwarzen Mann rum mit den ausgedienten Fischernetzen zuschauen. Es spielten germanische Läufer gegen braungebrannte Urwald- und Strandbewohner, daselbst wo spielend auch wohnend und entsprechend von vielen solcher Fahnen jubelnd begleiten. Indes erstockte der Dschungel-Jubel in koketten Tränen, als die Germanentruppe die Fischernetze der Urwäldler förmlich durch-siebten (sic!).

Mitten in diese Ballerei im Backblechkino schoss der Gedanke von Pirineosaurus, dass der Stuhl ihm gegenüber auffallend leer war, wie auch der Gepäckträger. Erst jetzt bemerkte er den Verlust der Regenjacke. Nachdem er die abscheulichen Geschmacksspuren mit einem braunen Koffeinsaft weitgehend heruntergespült hatte, suchte ich nochmal alle Streckenteile ab, bis in die Straßengräben hinein. Doch alle Mühe ward umsonst, wie auch der Anruf bei besagtem faulen Gastwirt erbrachte, dass ich die Jacke auch nicht dort auf der Fensterbank im Wutanfall vergessen hatte. Jetzt hatte der Verursacher des ganzen Dramas auch noch hämisch lachen – oh Pirineosaurus, wie wirst du nur von Menschenkindern geschlagen?!

Mi 9.7. Arbouix – Argèles – Luz-St-Saveur – Gèdre – Gavarnie (1375m)
50 km | 10,0 km/h | 4:54 h | 1130 Hm
W: nachts, morgens bis Mittag starker Regen, danach teils regnerisch, teils bewölkt, kühl bis kalt
Ü: C La Bergerie 9,70 €
AE (Le Gourmet Bistro): Forelle in Karottensauce, Entenschenkel in Rw-Sauce, Kart.puffer, Rw, Cafe Gourmand 26,50 € (+)

Man könnte sagen, dass selbst solch leidliches Schicksal noch eine vorsehende Glücksleitung für Pirineosaurus hatte. Der Trüffelkäse aus Ayerbe hatte offenbar eine sehr nachhaltige Wirkung und Pirineosaurus dankte in Gedanken seinem Speicheldoktor. Zunächst stand fest, dass es ohne einen Ersatz des Regenschutzes für die Saurierhäute nicht weitergehen konnte. Die Einkaufstour in Argelès war – so abgegriffen das Wort im politischen Leben – schlicht alternativlos. Denn der Berg hinauf nach Hautacam verschwand in einer riesigen Wolke, derer sich viele durchs gesamte Tal legten und es nicht lange warten ließen, die Dächer und Straßen zu wässern. Neben Croissants und Beerenbonbons zur Stimmungsaufheiterung verkauften sich nun Regenschirme bestens. Ich fand gleich drei Läden, die geeignete Schutzkleidung anboten. Am südlichen Ortsausgag ein Radhändler, der hatte die schickste Jacke, so mit hypermodernen Magneten. Das könnte allerdings die innere Kompassnadel von Pirineosaurus irritieren. In einem Geschäft mit Wanderkleidung passte zwar die Körperlinie, nicht aber das dunkle Schwarz wie schwere Wollsackwolken und gleich noch in einem Talerwert, den Pirineosaurus zu weiteren Genussverzichten gezwungen hätte, von denen er nun gestern Abend genug erlitten hatte. So verblieb in einem Outlet-Store eine budgetfreundliche Jacke, die erfreulicherweise die saurische Farbe hatte. Pirineosaurus wollte die Verkäuferin nicht fragen, ob man hier früher Saurier eingekleidet häbe – das hätte Pirineosaurus zu leicht enttarnen können. Die Jacke ist sicherlich für einen so kleinen Pirineosaurus etwas groß geschnitten, doch hat das auch seine Vorteile. Bereits wenige Schritte entfernt vom Laden konnte ich die Wirkung der Schutzkleidung testen.

(Anm. von veloträumer: Statt in Argelès lohnt ggf. Outdoor-Kleidung in Luz-St-Sauveur zu kaufen. Der Basisort zum Tourmalet ist mittlerweile zu einem Kaufhauszentrum für Sportwaren inmitten der Bergwelt geworden – vor allem Skisport, aber auch Lauf- und Wandersachen, Intersport hat auch Radspezifisches und Räder, weiterer Radladen vorhanden. Die größere Auswahl bedeutet aber auch mehr teure Ware.)

So verging ein ganzer halber Tag, zumal touristische Attraktionen in Argelès bescheiden sind. In der Touristinfo erwarb ich noch ein Leibchen als Regionalsouvenir mit einem von Pirineosaurus abgewandelten Schriftzug „Pyrénissime!“, woraus man ersehen kann, dass hier die Erinnerung an Pirineosaurus noch lebendig ist, obwohl niemand vermuten konnte, dass er sogar noch unter ihnen weilte. Gut hätten die saurischen Häute natürlich ein Wellnessbad vertragen. Doch dortige Thermenpreise messen sich an den Goldbeuteln der feinen Pariser Gesellschaft, soweit sie sich hier in die Berge verirrt. (Anm. von veloträumer: Es gibt Radler, die für die öffentliche Lourdes-Hautacam-Tagestour aus Paris anreisen und nächstentags schon wieder abreisen, so erlebt im Nachtzug, wo zahlreiche unangemeldete Rennräder über einander gestapelt wurden.)

Die einzige sinnvolle Strategie war es, sich langsam nach Gavarnie durchzukämpfen und dort auf den Wetterwechsel am nächsten Tag zu hoffen. So fuhr ich auf bekannten Pfaden und konnte mich über fortan weitgehende Trockenheit freuen, wenngleich es trüb blieb. In Pierrefitte-Nestalas befragte ich zwei germanische Reiseradler nach dem Empfinden, dass sie vom Tourmalet mitbrachten. „Kein Regen, aber frisch – sehr frisch!“ meinten sie. Nun, wenn das harte Germanen sagen, was würde dann Pirineosaurus drohen – doch eine Erfrierung? Die Hoffnung lag nun darin, dass Gavarnie in einem besser geschütztes Südtal liegt und es heute doch deutlich unter Tourmalet-Höhe bleiben würde.

Obwohl Pirineosaurus die Strecke nun schon gut kannte, konnte er sich doch erneut an der Schlucht erfreuen. Sie bleibt ein wenig abweisend und dunkel – der Fels ist Dunkelrostfarben bis Eisenbahntunnelgrau. Den mächtigen Kaskaden fehlt etwas die Eleganz von denen aus dem Ouzom-Tal und sie haben noch nicht den freien Schleierfall derer weiter oben. So nimmt auch die Faszination der Bergwelt nach oben zu, besonders ab Gèdre. Der Ort Gavarnie erscheint dann spät mit seiner Kulisse, die noch nicht voll entfaltet ist. Dazu muss man den Ortsknick fahren, bis sich der Traumblick auf den Cirque de Gavarnie öffnet.

Pirineosaurus findet die saurische Schlaflagerstätte ganz am Ende des Dorfes, schon an den Wanderwegen gelegen. Es ist unsaurisch kalt, wie in der Eiszeit. Die Nacht bringt ihn sogar nahe dem Kältetod und die Pfoten sind morgens noch aus festem Stein. Doch das alles zählt hier nicht. Es zählt der Blick in den Felskessel, eine Arena des Steins, der Wasserstrahle, der Schneehauben auf dem Tafelbergrund. Es ist ein einziger Atem voller Schönheit. Das machtvolle Gestein ist voller Anmut als hätte es Kreide gefressen. Pirineosaurus jubelt und spürt sein Herz pochen, wie es tanzt, wie es juchzt. Und die Forelle in Karottensauce zaubert nochmal die Frische des Bergbachs auf einen farbenfrohen Teller – eine kulinarische Metamorphose dieses Lebensquells an einem Weltenende, dass nur ein Ausruf kennt: a-STONE-ishing! Wie schnell doch die Wut gegenüber den französischen Kochgesellen sich ändern kann, obwohl hier auch nicht gerade länger gearbeitet wird als am Abend zuvor – wundert sich Pirineosaurus.

Do 10.7. Gavarnie – (exc. Wanderung Cirque de Gavarnie, ca.4 h) – Col de Tentes (2208m) – Gavarnie – Gèdre – Cirque de Troumouse (2138m) – Gèdre
66 km | 10,8 km/h | 5:54 h | 1935 Hm
W: morgens teils bewölkt, danach sonnig, Troumouse in Wolke, 3-24 °C
Ü: C Le Mousca 0 €
AE (Pizzeria Gèdre): Gabure, Schafsteaks, Westerkart., Deserts ab Buffet, Rw, Cafe 26,30 € (–)
B: Cirque de Gavarnie 0 €

Die Wanderung (auch dies eine Wiederholung, damals in Mittagshitze mit vielen Touristen), war am frühen Tage noch recht einsam, erst auf dem Rückweg begegnete ich den größeren Familiengruppen, den laufmüden Verwöhnkindern, die auf Eseln den Weg hochgeschaukelt werden und den erschöpften Alten, die es noch einmal mit Gehstock schaffen wollen, ein großartigen Ort erleben zu dürfen, bevor sich über ihnen die Lichter endgültig abstellen.

Mit jedem Schritt rückt eine andere Perspektive ins Bild, immer wieder durch andere Blumenbünde hindurch, die Horizontkanten mal in, mal aus den Wolken. Der Weg zum großen Wasserfall vom Refuge hinauf über das Steingeröllfeld ist beschwerlich – mehr noch, jetzt heikel, da einige Gehpfade von Schneeresten oder Wasserflutungen versperrt sind. Es ist nicht unbedingt ein großer Gewinn, nahe an die Felsen zu gelangen, außer dass sich über einem mehr und mehr der Himmel dreht, als würde er in einem Felsstrudel hinabgezogen und in einen Höllenschlund verschluckt. Die Wasserstrahlen sehen dann aus wie Rettungsseile, nach denen man greifen und sich hochziehen möchte zu den blauen Himmelstoren. Wenn ein Saurier einen Glückstod sterben sollte, dann müsste es hier geschehen. Es bleibt dann der Blick zurück, der Seufzer des Abschieds, das Panorama nun auch entwölkt, die Menschenkinder gar als Farbtupfer mit ihren bunten Pullis als wären es Alpenrosen oder Glockenblumen. Es bleibt auch am zweiten Tag ein Festtag fürs Auge, ein Jubel, eine Ode an die Schönheit. Ein a-STONE-ishing thing in Poesie gebettet!

Um mein getrocknetes Zelt einzuwickeln hatte ich es stehen lassen bis zur Rückkehr auf den Wanderfüßen. Nun ging es wieder sackgepackt radelnd in die höchsten Höhen. Der Col de Tentes ist eine Sackgasse, die Fortführung der Straße von Gavarnie aus, aber über weithin offene Berghänge, mit Kaskaden über kräftige Steinblöcke, mit Kühen und Schafen auf dem Grün, einer Mittelstation für den Skibetrieb im Winter und himmelwärtiger schließlich zur Passhöhe, bei der sich kleine Bergseen taubenblau auftun und die Granitfelsen mit Schneeresten als gewaltige Kulisse warten. A-STONE-ishing! Der Milan gleitet hoch, das Murmeltier muss vorsichtig sein – es weiß, von Pirineosaurus geht keine Gefahr aus, denn sie sind alte Freunde vom gleichen Geiste getragen.

Früher zu Zeiten von Pirineosaurus gab es wohl noch einen durchfahrbaren Weg bis zum Boucharo-Pass. Heute ist der Asphalt noch ein Stück weiter über den Tentes-Pass (Parkplatz) hinaus gelegt, gar leicht abwärts, aber bereits verboten zu fahren (Pyrenäen-Nationalpark). Am Asphaltende sind die Steinbrocken fast unüberwindlich und der steil ansteigende Weg danach ist übersäht von Felsblöcken, der Untergrund zudem nicht sehr fest. Wohl scheint manche Barriere bewusst angelegt, um unbefugte Radler an der Weiterfahrt zu hindern. In der aktuellen Situation ist der Boucharo-Pass, der nur wenig weiter liegt, auch nicht unerlaubt mit einem Reiserad erreichbar.

Pirineosaurus möchte den Sonnentag noch nutzen – wer weiß, welche Sintflut noch drohen könnte. Dem Talsturz nach Gèdre lasse ich also noch die Auffahrt zum Cirque de Troumouse folgen. Das Tal ist zunächst durch eine Engstelle abgeschnitten, weitet sich dann für Bergweiden immer mehr bis zu dem Weiler Héas, wo eine kleine Herberge besteht. Noch dramatischer ist das Panorama am letzten Verpflegungspunkt, dem Berggasthof Le Maillet. Er befindet sich bereits im westlichen Teil des Gebirgskessels an der Mautstraße. Im Gegensatz zu Gavarnie entwickelt sich Troumouse bereits beim Radeln. Pirineosaurus blickt in ein grünes Amphitheater, Wasserstrahl-durchsetzte Felswände bilden den südlichen Horizont. Selbstverständlich wird auch hier Pirineosaurus von den Murmeltieren gegrüßt.

Jenseits von Le Maillet frisst sich die Straßenschleife in den Felskessel hinein, wendet sich aber dann überraschend nach Norden. Ein Knüpfteppich von Alpenrosen leuchtet vom Hang her. Aus der Froschperspektive wandelt das Auge über das rosarote Blütenmeer mehr und mehr in die Vogelperspektive. – Doch was ist das? Während Gavarnie alle Wolken diesen Tags abstreifen konnte, sind sie hier am Berg hängen geblieben. Knapp unter 2000 m tauche ich in eine Nebelwand – nicht weniger aussichtslos wie am Somport-Pass. Der Höhepunkt ist weiß, dunkel, still, rauchend, Nirwana – nichts! Es sind wieder die Geheimnisse, deren die Pyrenäen nie alle herzeigen möchten. Pirineosaurus stößt auf der Abfahrt durch den Vorkessel noch ein lautes a-STONE-ishing aus. Die Kälte bei Le Maillet ist so schauerlich, dass es Pirineosaurus vorzieht, gleich ganz ins Tal runterzustürzen. Fast hätte er dabei die violette Eissteinpfotenkrankheit bekommen. Es dauerte Stunden es Auftauens – mehr als die Menülänge, wo er sich auch noch an abgestandener Gabure, einer regionalen Suppenspezialität, vergiftete. Das kostete ihn nochmal fast einen ganzen Tag, bis sich die saurischen Darmwerte normalisierten.

Pirineosaurus schüttelte sich immer noch, als er die Gaststube mit dem schändlich schlecht zubereiteten Speisen verließ. Ich hatte überlegt, ein Zimmer zu nehmen, doch das einzige geöffnete Hotel (ein Betrieb mit Logis-de-France-Siegel) hätte nicht weniger als 80 oder 90 Taler berechnet. Da schwitzt Pirineosaurus schon vom Ablesen. Die Konkurrenz mit Zimmervermietung im Nebenerwerb macht es sich hingegen sehr bequem. Laut dem Gastwirt wäre das Haus nunmehr geschlossen (ab 20-21 Uhr) und der Betreiber auch nicht mehr erreichbar. Für dieses Zimmer hätte er auch noch 50-60 Taler verlangt. Da staunt Pirineosaurus nicht schlecht. Goldgräberpreise, aber ohne den Willen, die Geschäfte auch machen zu wollen. Ein kreatives Geschäftsmodell fürs Nichtstun? Ist der Franzose faul geworden – oder war er es schon immer? Krise in Frankreich – oder allgemeine Selbstgenügsamkeit? Die schwachen Gästezahlen in Gavarnie, abends in allen Hotels und Lokalen abzuzählen, werfen ein fragwürdiges Licht auf eine unbemühte, schlicht gleichgültige Gastgeberkultur.

Fr 11.7. Gèdre – St-Saveur – Soulom – Cauterets – Pont d'Espagne (1496m) – Cauterets – Soulom – Arcizans-Avant
71 km | 12,7 km/h | 5:32 h | 1325 Hm
W: meist sonnig, einige Gipfel in Wolken, abends auch Niesel, 7-22 °C
Ü: C Chataignieres 15,40 €
AE (Chez Michele): Salat mit Entenbrust, Schinken, Spargel, Lammkotelett, Pf, Gemüse, Crêpe Chocolat, Rw, Cafe 24,30 €

Des Glücks kaum zu fassen: Noch ein Tag im Sonnenschein. Der Kälte wollte aber vorgesorgt sein und ich beschaffte mir in Luz-St-Sauveur Langfingerüberzieher mit Windschutzbeuteln gegen die saurische Eispfotenkrankheit. – Luz Ardiden oder Pont d’Espagne? – beides passt nicht mehr. Luz Ardiden sieht nach Panoramaauffahrt aus, Pont d’Espagne bedeutet Wasserfall-Schönheiten. Die Entscheidung war nicht schwer für Pirineosaurus, der vermutlich im Sternzeichen des Wassermanns auf die Welt kam. 2008 hatte ich aus Verlegenheitslösung bei Krankheit und verursacht durch Straßensperrung zwecks Tour de France einen kurzen Abstecher in die Schlucht Richtung Cauterets gemacht, den Ort selbst aber nicht mehr erreicht. Das Tal wirkte damals so ansprechend, dass ich eine Komplettberadlung nachholen wollte.

Da Cauterets einst Bahnstation war, die bessere Kurgäste in die reinigende Bergluft brachte, ist heute ein Bahntrassenweg übrig geblieben, der als Rad- und Wanderweg dient. Von diesem Radweg ist mehrfach abzuraten. Einerseits führt er über einen sehr schlechten Wiesenschotterweg, andererseits werden immer wieder Teile davon wegen Steinschlaggefahr gesperrt – auch bringt er keine landschaftliche Bereicherung, da straßennah gelegen. Schon der untere Schluchtteil ist ein Eldorado aus sprießendem Wasser, Tropfmoose am Fels, donnernde Kaskaden in der Gave unten, formschöne Schweife aus dem Fels da und dort. Das Licht bricht in den Prismen der zerstäubten Wasserfalltropfen, die Blumen delektieren sich am feuchten Überfluss, das Gras leckt den Tau. Bei den neu gebauten Serpentinen wartet schon das Bergpanorama um die Zwischenhochebene von Cauterets. Schon der untere Teil mit Cauterets: a-STONE-ishing!

Während im Ort noch alte Kurpavillons restauriert sind, finden sich außerorts auch verfallene Thermenhäuser. Cauterets scheint immer noch begehrt, des Wandervolks wegen, im Winter der Skibetrieb. Trotzdem war das einstige Kurvolk freigebiger. Die Preise für feine Schokoladen und Nougats schrecken mittlerweile französische Familien und selbst die Bonbontöpfe bleiben meist unangetastet. Es braucht schon einen Pirineosaurus, damit die Geschäfte in Gang kommen. Dem Gaumenkitzeln kann sein saurischer Leckermaul-Urtrieb nicht widerstehen – koste es, was es wolle.

Es mag schwer zu glauben sein, aber die großen Sensationen folgen nun erst. Dabei wird eine ausgebuffte Dramaturgie eingehalten, die das freudige Herzklopfen gefährlich nahe ans Infarktrisiko heranführt. Fast alle großen Wasserfälle sind unmittelbar von der Straße aus sichtbar – noch mehr hörbar. Es lohnt aber auch mal einen Seitenpfad durch den Wald mitzunehmen. Die Fülle der Wasserfallformen ist unerschöpflich, das Licht bricht, die Augen sind geblendet, die Seele betört, die Ohren betäubt. Man muss allerdings mit den vielen Ausflugsautos nebenher leben, manchmal nicht einfach, wenn man versucht die gerade Linie zu halten. Denn von den Steigungen hier werden wahrliche Urkräfte verlangt, um sie zu bewältigen.

Das letzte Wasserfallensemble – als Höhepunkt inszeniert – ist dann nicht mehr per Auto erreichbar, offiziell auch nicht mehr per Rad. Beim Parkplatz Kabinenlift ist Schluss für Rollengefährte. Doch geht die Straße asphaltiert weiter und mit Sondererlaubnis fahren da noch erstaunlich viele her. Das sind nicht nur Ranger, sondern auch etwa Übernachtungsgäste von Gasthöfen. Pirineosaurus, der Verbotsschilder nur schlecht lesen kann und noch weniger gut zu befolgen weiß, fährt also weiter bis zum finalen Wasserfall. Das ist sogar einfacher als zuvor. Selbst dort, mit einem Gastronomiebetrieb, führt die Straße noch weiter. Ich wäre auch noch weiter geradelt bis zum Ende, ein Ranger stellte mich aber und wies mich auf das Verbot hin. Da ich angesichts der doch recht vielen Autos den Naturschaden meines saurischen Radelns in Frage stellte, wurde er unwirsch und drohte, dass es im Zweifel 135 Taler Strafe kosten würde. So was kannte Pirineosaurus aus seinen Zeiten nicht. Nun ja, der Ranger ließ ihn immerhin ungestraft zurückrollen, wohl hat er den saurischen Charakter unbewusst gespürt.

Lohnt nun der Weg in diese Sackgasse von Pont d’Espagne, auch ggf. mit Fußmarsch am Ende (evtl. weiter zum Lac de Gaube)? Es ist sicherlich schwer in Worte zu fassen, nehmen wir einmal eine der Paradiesbeschreibungen von Francis Jammes, die er wohl nur so formulieren konnte, da er so seine heimatnahen Bergwelten erlebt haben muss: „Am Horizont dieses Paradieses erklang ein unbestimmter Ton wie der unendliche Ozean, wie das stockende Seufzen von Flöten und Klarinetten, wie das Echo von Rufen aus den Abgründen, wie das Gebell ungeduldiger Hunde, wie der Fall eines bemoosten Steines in die Leere. Es war der Schwall von Wasserfällen, die über die tosenden Wildbäche herabstürzten.“ Sicherlich spielen hier nebst Flöten und Klarinetten wohl ebenso Basshörner und Tubas deutlich mit, während die benetzten Moosen mit der an den Felskanten aufgestäubten Gischt einen Geigenhimmel evozieren können. Ich will hier aber nicht übertreiben und andere dazu anstiften es mir gleich zutun, sie zwanghaft an diesen Ort zu locken. Allein für Pirineosaurus ein unzweifelhaftes a-STONE-ishing thing! Aber mit Pauken und Trompeten und noch fünf Sterne auf jede Pfotentatze!

Sa 12.7. Arcizans-Avant – Estaing – Lac d'Estaing (1163m) (+) – Estaing – Col des Bordères (1156m) – Arrens-Marsous – 10 – Porte d'Arrens (1470m) – Arrens-Marsous – Col du Soulour (1474m) – Col d'Aubisque (1709m) – Laruns
88 km | 10,3 km/h | 8:35 h | 2365 Hm
W: regnerisch, windig, Niesel, mittags heiter, später Wolken, regnerisch, sehr kühl
Ü: C Laruns 0 €
AE (H/R L'Ossau): Salat mit Entenleber, Entenschenkel, Pf, Gateau basque, Rw, Cafe 21,20 € (+)

Die Dörfer oberhalb von Argelès wie St-Savin oder Arcizans-Avant sind Orte der Entschleunigung. Ein wenig unscheinbar, an der Wurzel der Ruhe geboren. Pirineosaurus trieb an diesem Morgen wieder anderes um: Die Rückkehr der tiefen Wolken. Er musste wiederum riskieren, dass sein Häute aufgeschwemmt würden. Schon ohne den Niesel sind die Auf und Abs hier von feuchten Tälern geprägt. Nach anfänglich steilen Rampen, geht es zum Lac de Estaing danach eher sanft ansteigend voran. So hat man zur Straßenseite eher nur kleine Kaskadenstrudel, dafür mystische Fluss- und Wiesenstimmungen. Der Lac d’Estaing selbst macht noch keinen Sommer – okay das stimmt ja wortwörtlich. Doch ist auch seine Erscheinung eher bescheiden. Eigentlich sind es die Berge umher – fast wieder wie ein Gebirgskessel angeordnet –, die die Faszination des Platzes ausmachen. Man kann nach dem Ausflugslokal mit spartanischem Campingplatz anbei weiterradeln, über Piste, die sich irgendwann zu einem Wanderpfad verwandeln müsste. Wo dieser Umkehrpunkt kommt, habe ich nicht ausgereizt, da ich es bei ein paar stimmungsvollen Eindrücken inmitten der Bergwiesen beließ. Es reicht hier doch für ein leises a-STONE-ishing, nicht ganz der große Silberglanz, doch ein Ende Welt, das Schweigen gelernt hat.

Es ist nur ein kleiner Übergang, kurz kräftig, aber durchaus mit eindrucksvollen Panoramablicken oben, einem Birken-Heide-Hain und Weidevieh – der Col des Bordères. Um nach der Abfahrt weiter ins Vallée d’Arrens zu gelangen, nimmt man eine Spitzkehre, ohne in einen Ort ganz reinzufahren. Auch dieses Tal ist eine scheinbar ziellose Stichstraße, die an einem Parkplatz mit Nationalparkhaus endet, wo es nur noch zu Fuß weitergeht. Es gibt eigentlich nur ein Bild, doch wandeln sich die Perspektiven mit jedem Meter, entwickelt sich eine Dramaturgie des scheinbar immer Gleichen, wie man sie in der Musik aus Ravels Bolero kennt. Die Gipfel stehen mal im schmalen Dekolletee des Talschnittes, dann wachsen sie aus einer Kuhweide raus, es folgt die glitzernde Kulisse über dem Wasserspiegel des Stausees und schließlich verschmelzen die Gipfelspitzen mit Bergblumen und Wiesenpilzen zu verträumten Bodenperspektive im Bergbachgrund, während sich der Radler kräftig in die Steigungen hineindrücken muss. Verzückend, atemberaubend – einfach a-STONE-ishing!

Man mag die pyrenäische Wetterküche als gegeben hinnehmen müssen, aber muss es wirklich gleich zweimal am selben Ort sich zutragen, dass einem der Ausblick vorenthalten wird? Die Ecke, so denkt Pirineosaurus, ist mir suspekt. Schon um das Vallée d’Ouzom und den Col de Spandelles trug sich Ähnliches zu wie eine Dekade zuvor. Und nun erwischte es Pirineosaurus erneut am identischen Fleck. Kaum blieben die Häuser von Arrens-Marsous im Tal zurück und waren einige der schweren Kehren bewältigt, schob sich eine dichte Wolke über den Col de Soulor und nahm die Sicht fast ganz. So galt es wieder, auf Nasenradeln umzustellen, die bekannte Nebelradisziplin, die nun mal Pirineosaurus gar nicht liebt. Der Versuch, einen Eindruck vom Col d’Aubisque zu bekommen, der nur als Nebelwolke in meinem Gedächtnis schwebt, blieb erneut eine ziemlich undurchsichtige Angelegenheit. Zwar konnte Pirineosaurus schwindelerregende Felskanten am Straßenrand dumpf erkennen, die trotz der widrigen Umstände ein Schmunzeln auf sein Gesicht zauberten. Dennoch verweigerte sich Pirineosaurus einer Wertung – wahrscheinlich auch, um seinen energischen Protest bei den Wetterhexen zu hinterlegen.

So fürchtete Pirineosaurus auch, erneut als Zitteraal in Laruns zu landen – eine nahezu identische Kopie eines schon mal durchträumten Films. Nun waren im schon bekannten Hotel/Restaurant die Übernachtungspreise nicht im saurischen Budgetrahmen und erst nach dem Essen entdeckte Gîte mit Preisen sogar unter 20 Taler hatte fest verschlossene Tore, weder Klingel nach Urlautenkommunikation war möglich. Man mag es nicht glauben, halb Frankreich verschläft sein Geschäft. So zumindest denkt Pirineosaurus.

Es sollte erwähnt werden, dass Pirineosaurus auf dem Col d’Aubisque auf Fahrwerke seiner großen Verwandten traf. Es wäre ihm unmöglich gewesen auf einen dieser Räder den zu erreichen – geschweige damit zu fahren. Diese großsaurischen Archäologiefunde sind zwar recht überraschend, jedoch konnte Pirineosaurus keinerlei lebendige Spuren erkennen. Es würde auch allen paläontologischen Befunden widersprechen, wenn es neben Pirineosaurus noch andere überlebenden Saurier geben sollte.

So 13.7. Laruns – Bielle – Col de Marie-Blanque (1035m) – Escot – Pont-Suzon – Col d'Ichère (680m) – Lourdios-Ichère – Col de Labays (1351m) – Pas de Guilhers (1436m) – Col de Soudet (1540m) – Col de la Pierre St-Martin (1760m) – Portillo de Eraice (1578m) – Asolaze Isaba
92 km | 10,2 km/h | 9:01 h | 2525 Hm
W: morgens heiter, später bewölkt, teils in Wolke, kühl
Ü: C Asolaze Isaba ~14 €
AE (C): Gemüseteller, Hähnchenschenkel, Pf, Joghurt, Rw ~12 €

Was gestern Abend undenkbar war, ist nun heute Morgen eingetreten: Die Berge um den Col d’Aubisque stehen im glasklaren Sonnenlicht – nicht ein Wölkchen trübt. Doch Aubisque liegt nun hinten. Pirineosaurus hat nicht weniger Anspruchvolles vor sich, wenngleich der Col de Marie-Blanque von der Westseite eine noch größere Herausforderung wäre. An diesem Sonntag ist er dann auch Pilgerziel zahlreicher Rennradler, die sich mit Bestzeiten beweisen wollen.

Das offene Panorama bleibt auch erhalten auf der Zwischenebene, dem Plateau de Bénou, wo die Pferdekoppeln das liebliche Bild ergänzen. Danach tauche ich in dichten Wald, ein tiefes Grün, vom Blattwerk oft hinunter über die Stämme auf den Boden, die alten Buchen ganz in Moos gedeckt. Waldreich ebenso die Westseite, ergänzt mit Felswänden und Bergbach – ein enges Tal. In Escot erfüllt Pirineosaurus ein besonders angenehmes Kribbeln, als sei er an einem besonderen Ort. Ihm fallen ein paar bunte Flachskulpturen auf, die einstige Freunde von Pirineosaurus abbilden. Obwohl sie eine endliche Lebenszeit hatten, leben sie heute noch in vielen Kinderbüchern fort. Ohne Rücksicht auf fehlenden Stein zieht Pirineosaurus die höchste a-STONE-ishing-Wertung! Das ist sicherlich ein wenig übertrieben, wir sollten aber hier besonderes Verständnis für die Gefühlslage von Pirineosaurus haben. (Anm. von veloträumer: Die Parade von Fabelwesen mit Nachbildungen der Illustrationen von Adolf Born, die einige Fabeln von Jean de la Fontaine nachbilden und auch als französische Text dort nachzulesen sind, waren bereits Inhalt des Bilderrätsels Bilderrätsel 858.)

Kurz zurück im Vallée d’Aspe (vgl. 1. Tag dieses Kapitels), folgt gleich der nächste Berg. Der Col d’Ichère ist ein Nischenpass, den nicht mal die einheimischen Sonntagsrennradler zu kennen scheinen. Zwei steile Passagen, nicht so lang wie der Marie-Blanque, schöne Ausblicke in der Mitteldistanz, mehr Weidehügel zur Westseite, ein paar Weiler, unten Mühlenromantik. In Lourdios-Ichère ein kleiner Laden mit wenigen regionalen Spezialitäten – Seifen, Bonbons u. ä., wohl im ersten Stock auch ein kleines Kunstmuseum. Es folgt die größte Herausforderung für Pirineosaurus an diesem Tag. Ein langer Anstieg, immer wieder auch schwierige Steigungen. Dicht überwuchert sind manche Passagen, fast Urwald, manchmal markante Felsskulpturen. Es wechselt auf Moose, Farne – Mystik, noch urtümlicher. Ein Revier wie für Pirineosaurus geschaffen. Irgendwo Ferienwohnungen, versteckt, Waldwiesen wie aus englischen Parkanlagen. Nach einer lichten Waldpassage dann wieder Flechten und Moose an allen Bäumen.

Die Nebelwolken lassen sich nieder – fast unheimlich. Pirineosaurus wittert ein Tier – eines von besonderer Bösartigkeit, dass ihm sehr vertraut in der Nase scheint. Im dichten Nebel taucht dann ein bräunlicher Vierbeiner auf, nimmt im feuchten Gras ein Silberkleid an. Ein Fabeltier? – Nein, eindeutig ein Fuchs, ein pyrenäischer, größer als seine Kollegen etwa in schwäbischen Wäldern. Pirineosaurus ist hoch erregt. Diese Tiere haben ihm einst schwer zugesetzt mit ihrer Bauernschläue, mit ihrer hinterlistigen Art, aus dem rechtmäßigen Besitz der Saurier Diebesgut zu erschleichen und den saurischen Schlaf auf unverschämte Weise zu stören. Pirineosaurus packt sein Trillerhorn aus, um den Tier den Schreck seines Lebens einzujagen. Der Fuchs jedoch scheint recht unbeeindruckt, erst als Pirineosaurus mit Tempo und zu Bärenstärke aufgeplustert auf den Fuchs heranrollt, treibt es ihn in die Büsche.

So ungemütlich hier die Witterung, so abweisend die Atmosphäre, so beeindruckend entwickelt sich der obere Teil als mondähnliche Steinlandschaft, wo nur noch wenige dunkle Nadelbäume Farbkontraste schaffen. Der Fels wirkt aufgequollen als könnte er wie Moospolster nachwachsen. Der Skiort Arette-Pierre-St-Martin liegt abseits der Straße und unterhalb der Passhöhe, mit Extrahöhenmetern zu erklimmen und macht keinen einladenden Eindruck, wenngleich es ein oder mehrere Hotels geben müsste, die auch im Sommer geöffnet haben. Pirineosaurus aber wendet sich ab und versucht noch die Passquerung durch den Fels, der hell aus der Dämmerung heraus fluoresziert. Sogar zur weniger steilen Südseite setzt sich die Steinlandschaft fort, wenngleich der Fels dort weniger fest, mehr gewürfelt erscheint. Zweifellos, der Col de la Pierre-St-Martin ist ein a-STONE-ishing thing im besten Wortsinne. Spät erreiche ich den Camping, wo man meinem saurischen Verlangen nach dringend benötigter Magenfüllung freundlich bedient – es ist ja Spanien und nicht Frankreich.

In Oloron-Ste-Marie wollte Pirineosaurus das Abschlusskonzert des dortigen Jazzfestivals besuchen, um sich der zeitgenössischen Kulturentwicklung zu widmen. Wie aus den zahlreichen prekären bis lebensgefährlichen Erlebnissen zu entnehmen ist, konnte Pirineosaurus seinen Zeitplan nicht einhalten und traf in besagtem Oloron erst einen Tag später ein. Aus diesem Grunde scheint es angebracht, den versäumten Act hier mit einem passendem Song nachzuholen. Kenny Garrett, der u. a. über die späten Elektrogruppen von Miles Davis berühmt wurde und auch mit mehreren Pop-Größen kooperiert hat, gilt als einer der bedeutendsten Altsaxophonisten – manche sagen, der gewichtigste nach Charlie Parker. Wie schon der französische Komponisten Hector Berlioz einmal erwähnte, besitzt das Saxophon genau jene Eigenschaften, die es zu einem pirineosaurischen Instrument machen: „Das Saxophon besitzt eine unvergleichliche Ausdruckskraft: die Exaktheit und die Schönheit seines Tons kann in langsamen Sätzen mit den besten Sängern konkurrieren. Das Saxophon schluchzt und trauert und träumt.“ (Zitat aus Frank Lunte/Claudia Müller-Elschner „Saxophon(e) – Ein Instrument und seine Erfinder“, Nicolai Verlag, Berlin). Es ist zu vermuten, dass das Saxophon wesentlich älter ist als bisher angenommen und möglicherweise schon aus den Urzeiten des Pirineosaurus stammt. Andere Wissenschaftler behaupten, dass Pirineosaurus einst Adolphe Sax den Auftrag gegeben habe, ein Instrument zu bauen, dass dem Klang seiner Urzeiten möglichst nahe kommt. Kenny Garrett Quartet „Song for DiFang“ (5:26 min.)

Bildergalerie zu Kapitel 6 (235 Fotos):



Verantwortlich gezeichnet
Pirineosaurus Rex

Fortsetzung folgt