Re: Die Legende von Pirineosaurus

von: veloträumer

Re: Die Legende von Pirineosaurus - 17.12.14 19:29

KAPITEL 7 – NAVARRA II/FRANCE III (a)
Buchenwälder, Steilrampen, Schattenschluchten, Schafshügel und Engelwatte: Eine Grüne Sinfonie in Basque-Dur – die große Iraty-Runde

Iraty (span.: Irati) – der Name klingt schon geheimnisvoll, ein Stück Mythos. Hier wie im benachbarten Labourde lag ein Schwerpunkt der Hexen, schrecklicher: ein Schwerpunkt der Hexenverfolgung. Verbrechen und okkulte Rituale kann der Reisende auf verschiedenen Hexenrouten nachvollziehen. Die Hexerei beginnt im Osten bereits mit dem Valle del Roncal, im Süden mit der Gegend um den Yesa-Stausee und endet weit im Westen in den tiefgrünen Tälern in Euskadi. Das Hexengebiet Navarras ist also wesentlich größer als das Irati-Gebiet. Anderseits liegt das Iraty-Gebiet in Frankreich außerhalb dieser Hexen-Routen, wenngleich die Mystik der Landschaft grenzüberschreitend, vielleicht im französischen Teil sogar greifbarer ist. (Mehr zu den Hexen in Kap. 8.)

Im Norden verläuft mein Bogen auch aus dem Iraty-Gebiet heraus – allerdings nur, um den Kreis wieder an anderer Stelle zu schließen. Meine Route verlief auch auf Strecken der grenzüberschreitenden Route Irati Extrem, die offenbar auch einmal im Jahr als öffentliche Tour gefahren wird. Jedoch bin ich nicht Irati Extrem komplett gefahren – ich weiß auch nicht, ob die komplett für Straßenradler gedacht ist. Iraty/Irati ist auf den ersten Blick wenig spektakulär, seine Geheimnisse liegen tiefer. Als ich erstmals 2008 über den Col d’Iraty radelte, wurde diese Fahrt zu einem Höllenritt. Verhext ist die Gegend also heute noch.

Wer Iraty schnell durchfährt, wird nichts spüren. Es braucht eine Zeit, bis einen die Mystik mit ihrer gesamten Faszination erfasst. Die Uhr ist dabei ein fast unerlaubtes Utensil. Man horcht, träumt, macht es den Pferden und Schafen gleich und wartet, bis die Sonne auf- oder untergeht. Die Wolken ziehen wie Gedanken, bergen als Nebel tiefe Geheimnisse. Viele Höhenzüge und Steilrampen ist Pirineosaurus nackt gefahren, und die Pilger auf dem El Camino, die mir oberhalb von St-Jean-Pied-Port entgegen kamen, machte ihre Kreuze mit offenem Mund, im Glauben, eine asketische Erscheinung des Heiligen Geistes an ihnen vorbeifliegen gesehen zu haben. Allein Jakobus kann es nicht gewesen sein, denn der ging erwiesen zu Fuß, von Jesus weiß man es jedoch nicht so genau. Der ist ja bekanntlich auch über Wasser gelaufen, also warum sollte der nicht auch schon Fahrrad gefahren sein? Auf jeden Fall war es ein Spaß für Pirineosaurus – der Pilgerschreck aus Iraty.

Überhaupt ist die Gegend eher asketisch und ein hartes Brot – manchmal wortwörtlich, wenn die Vorräte ausgehen sollten. Es mag sogar sein, dass ich den ersten, spanischen Teil weniger intensiv, weniger aufregend empfunden habe als den weiteren Teil in Frankreich. Ich war noch nicht drin im Mythos, noch zu sehr von Eile und Tourplänen getrieben. Im Nachbetracht sei aber doch so gewertet, dass das französische Iraty alle Mystik dieser Landschaft besser verkörpert und mehr zu bieten hat als die spanische Seite. Insbesondere die Pistenfahrt am spanischen Irati-Stausee erfüllte die Erwartungen nicht so sehr. Iraty ist aber auch eine Gegend für den Herbst. Das Rotbraun der Buchen wird dann mit mehr Licht erfüllt, im Sommer sind einige Teile nur dunkler Schatten – zu dicht das Grün. Herbst in Irati würde Pirineosaurus auch mal gerne erleben.

Iraty bedeutet also weite freie Koppeln, aber vor allem Wald aus Buchenholz. Es ist vielleicht kein Zufall, dass im baskischen Navarra, wie auch im sonst noch waldreichen Euskadi, ein Instrument gespielt wird, das den Klang des Holzes transportiert. Txalaparta ist eine Art Xylophon, das nicht mit Schlegeln, sondern ziemlich kraftraubend mit Holzkeilen auf die tonhöhenabgestuften Holzbohlen geschlagen wird. Selbst diese Spielweise (auch von oft von Frauen geklöppelt) ist wiederum passend für die bekannte baskische Härte, die sich nicht zuletzt ebenso im Nationalsport Pelota wiederfindet wie im allseits beliebten Radrennsport. So sei hier zur atmosphärischen Einstimmung ein Beispiel für diese Holzmusik geliefert: Oreka TX „Txalaparta Danza“ (2:40 min.).

Mo 14.7. Asolaze Isaba – Isaba – Portillo de Lazar (1129m) – Ochagavía – Paso Tapia (1340m) – Casas de Irati – Embalse de Irabia(ko) – Orion – Arrazola – Orbeitzeta – Aribe – Abaurrea Alta
96 km | 11,2 km/h | 8:37 h | 1660 Hm
W: morgens Regen, danach teils sonnig, später bewölkt, teils Sturmböen, sehr kühl
Ü: C wild 0 €
AE (H/R Aribe): Salat, Schinkenplatte, Rw 15 € (–)

Vom Camping bis zur Ortschaft Isaba rollt es sich noch ein Stück – doch recht hübsch. Mehrere römische Brücken finden sich über dem Fluss, manche recht gut erhalten. Isaba wirkt schon wie eine baskische Trutzburg, Spanien ist hier weit weg. Der Ort ist klein und kompakt, dabei sehr pittoresk. Eine Mädchenradsportgruppe mit Begleitauto rast durch den Ort. Sie kommen aus einem Alpenland, dass Pirineosaurus wohl bekannt ist gleichwohl über Nockenberge verfügt wie Irati selbst. Dieses Tempo – kein Blick ist ihnen Ort und Land würdig. Später holen sie mich ein – nur warum? – Ja, sie sind in der Eile falsch abgebogen, ins falsche Tal. Pirineosaurus kann kaum lachen, mehr Kopfschütteln. Wozu hierhin zum Rasen reisen, wo die Zeit noch Zeit hat? Heißt es nicht in ihrem Heimatland, sie seien gemütliche Landsleute? Menschenkinder sind einfach nicht aus der Zeit von Pirineosaurus, das ist sicher.

Wieder Brücklein und erster Buchenwald mit den typischen Bächen, die über breite, flache Treppensteine die Rostfarben des gefallenen Buchenlaubes unter den grünen Blattdächern hervorheben. Manchmal kaum mehr als Rinnsale. Die Lazar-Passhöhe unspektakulär. Von hier geht auch eine Piste nach Süden (noch weiter bergauf), als Radroute auf Tafeln zu finden, aber doch eher weniger gut fürs Reiserad. Noch unauffälliger die Abfahrt zur anderen Seite, aber wieder mehr freie Blicke.

Ochagavia ist so etwas wie das südliche Zentrum für Irati-Exkursionen. Der Ort zeigt sich mit einer Flusspromenade, hat mehr Platz als etwa Isaba. Zum Paso Tapia geht es zunächst durch einen kleinen sumpfigen Urwald, reich an Pilzen. Dann öffnet sich eine weite Hügellandschaft, die Grüntöne wechseln stetig ihre Farben, je nach Licht und Wolkenfilter. Nur ein kleiner Hain unterbricht die offene Landschaft, Farnteppiche, dann Buntblumenwiesen mit Löwenzahn und die Krönung ist immer das geschorene satte Grün der sanften Bergkuppen. Ganz unsanft stehe ich im strammen Wind, sagen wir besser: Sturm. Kaum kann man das Rad abstellen, als das es nicht umgerissen werden könnte. Der Blick kennt hier oben nur eines: Weite. Zwei Schäfer ziehen mit ihren Hirtenhunden fast wie die Wolken vorbei – nicht umsonst kennt man „Schäfchenwolken“ im Sprachgebrauch. Die Schäfer hier sind markant, fast unwirklich, harte Burschen, in Winterpelz gewickelt. Pirineosaurus spürt die bissige Kälte, die der Wind in sich trägt. Kein Ort für lange Pausen – so atemberaubend der Blick sein mag.

Ein Auto hält an, aus der eine Frau mit rosa Sommerpulli steigt. Dieses Rosa mit hellem Jeansblau und den blonden Haaren wirkt hier oben wie eine unkeusche Farborgie, wie ein leuchtendes Licht der Hoffnung, wie eine Feengestalt in einer garstigen abweisenden Naturgewalt, die sich in den kantigen Schäfergesichtern widerspiegelt. Doch das kurze verwehte Wort zwischen Rosa-Pulli-Frau und Pelz-gewandetem Schäfer zaubert ein verzagtes Lachen auf das scheinbar versteinerte Gesicht des Schäfers, das schon kurz danach wieder grimmig auf den Vortrieb der Herde blickt. Es liegt ein Hauch von Erotik in diesem Bild pastellfarbener Dämpffarben, in die die Landschaft geheimnisvoll getaucht ist.

Der kalte Sturm fegt Pirineosaurus vom Berg, ohne dass er seine Fantasien weiter entwickeln kann. Auf der kurvigen Nordseite taucht die Straße bald in dichten Buchenwald – Irati tipico. Irati ist Radlerparadies. Ein Radreisepaar kommt mir entgegen, tut sich schwer an der doch ordentlichen Steigung. In den Wald führen Trails, die mit „Irati BTT“ gekennzeichnet sind. Unten in der Talmulde am großräumigen Picknickplatz mit mächtigen Holzblocktischen und -bänken, gibt es Infotafeln zu den Velorouten, jeweils mit Schwierigkeitsgraden bewertet. Für die einfache Querung mit Reiserad sind diese Tafeln aber eher verwirrend, die meisten Routen sind nur Mountainbikern zu empfehlen. Von denen sind nunmehr zu späterer Stunde immer noch welche unterwegs. Direkt eine Straßenschleife über dem Picknick- und Parkplatz befindet sich auch eine Unterkunfts- und Verpflegungsmöglichkeit. Von den Casas de Irati führt auch eine MTB-Route direkt zu den Iraty-Chalets auf der französischen Seite.

Nebst Picknickplatz (trotz geschützter Lage immer noch kalt windig) gibt es neben der Schranke auch noch ein besetztes Info- und Wachhäuschen. Der Mann macht gerade Feierabend. So versichere ich mich nochmal der richtigen Route. Die Piste zum Irati-See ist quasi eine Forststraße, die per Auto nur mit Berechtigung befahren werden darf. Der Ranger wohnt offenbar zur anderen Seite und fuhr daher über die Piste nach Hause. Der Pistenzustand ist meist gut und einfach zu radeln, auch Steigungen sind offroad nur kleine und wenige zu bewältigen. Allerdings gräbt der Regen schnell mal tiefe Pfützen in die Spur und durch den schattigen Wald bleibt es dann stellenweise auch ausdauernd morastig. So musste ich zweimal absteigen und kurz schieben.

Der See ist langweilig, weil eigentlich fast nirgendwo zu sehen. Nur ein kleines Spalier zur Westseite erlaubt einen Blick auf die Wasserfläche, die komplett von Buchenwald umgeben ist. An der spitzen Kehre der nördlichen Bucht befindet sich ein Pistenabzweig nach Norden, der möglicherweise eine passable Überfahrt nach Frankreich erlaubt. Ob die Pistenqualität von unten allerdings durchgehend noch oben erhalten bleibt, kann ich nicht verifizieren. Zu Ende des Sees ist selbst das Stauwerk etwas versteckt gelegen. Ab hier gibt es Betonpiste, sicherlich von spanischem Flüsterasphalt weit entfernt. Fürs Auffahren dieser etwas längeren und steileren Steigung allerdings unerheblich. Pirineosaurus meint, dass diese seine eingeschlagene Fahrtrichtung der Paso-Tapia/Irati-See-Runde die bessere sei.

Arrazola ist nochmal ein Infopunkt, bereits nach dem Hochpunkt in der Abwärtsbewegung, mit einer Hütte, in der sich wohl übernachten lässt und eine Waschmöglichkeit besteht. In dieser Richtung lohnt es aber, bis Orbaitzeta weiter zu rollen, denn dort befindet sich schon weit oberhalb des Ortes eine einfache Herberge mit Gastwirtschaft. Von Orbaitzeta gibt es die wohl die komfortabelste Piste zur französischen Iraty-Grenzroute. (Anm. von veloträumer: Nach meiner Recherche soll durchgehend Betonpiste bestehen. Zumindest ist zur anderen Seite in Frankreich Orbaitzeta mit einem offiziellen Straßenschild ausgewiesen. Auf der spanischen Seite hier findet sich aber kein Hinweis, nur die alte Munitionsfabrik ist ausgeschildert, bis dorthin besteht Asphaltstraße.)

Auch in Orbara gibt es noch mindestens eine wandererfreundliche Herberge, wenngleich es kaum nach Essen dort riecht. Tief im Tal zu Beginn einer kleinen Schlucht lädt ein allein stehendes Restaurant ein, das mit Pilz- und Fischgerichten wirbt. Doch Pirineosaurus hat Irati noch nicht genügend im Blut. Er rast zu Tale und glaubt in Aribe, dem Straßenknoten, pralles Leben zu finden. Dieser Ort ist aber noch stiller als die höher gelegenen zuvor. In einem Hotel/Restaurant sind die Tische schon hochgeklappt. Für Pirineosaurus gibt es nur (überteuerte) kalte Küche. Pirineosaurus ist heuer mondsüchtig und zieht noch im Dunklen ganze Berge hoch, bis er in einer saurischen Grube am Straßenrand das Nachtlager findet. Noch einmal zieht das erotische Motiv vom Paso Tapia in seinem Traum auf.

Di 15.7. Abaurrea Alta – Alto de Remendia (1040m) – Jaurrieta – Alto de Jaurrieta (990m) – Ochagavia – Bar Abodi – Puerto de Larrau (1573m) – Col d'Erroymendi (1362m) – Larrau – D26/D113 – La Caserne – (exc. Wanderung Gorges de Kakouetta ca. 2,5 h) – Ste-Engrace (+)
71 km | 12,0 km/h | 6:01 h | 1540 Hm
W: sehr sonnig, max ~25 °C, abends bewölkt
Ü: C wild 0 €
AE (Elichat): Wurst, Salat, Rw 7,50 € (––), (SV)
B: Gorges de Kakouetta 5 €

Solche verwegenen, einsamen Randplätze schützen nicht vor großen Momenten. Die Wolken lösen sich langsam auf, ein weißer Teppich behütet das Tal als wollte jemand verbotene Geheimnisse verdecken. Wie sagte es der Schäfer bei Víctor Català: „… mir gefällt er, mich bringt er auf alle möglichen Gedanken, der Nebel… Ich geh gern mit der Herde über den sonnigen Grat, wenn unter mir die ganze Welt im Dunst liegt… An manchen Stellen höre ich Stimmen, sehe aber niemanden, und dann stelle ich mir die Bergfeen vor, wie sie sich ausziehen und im See ihre Sachen waschen. Der Nebel ist wunderschön…“ Auch hier ist Irati dieser Hauch von Erotik, der wie das Geräusch der Stille mit der Fantasie wächst, bis er im Schrei der Erregung jubiliert.

Solch klare Sonne – und eine ganzen Tag lang – war auf der Tour selten. Die Kontraste sind scharf, die Blicke weit von der Anhöhe des ersten Ortes. Immer noch sind Spinnennetze mit Morgentau in Kristallglanz gefasst. Jaurrieta ist ein Ort mit einer speziellen Geschichte, die mit Musik verbunden ist. Zum einen stammt ein beliebter baskischer Volkstanz (Volkslied), aus Jaurrieta. Der Tanz ist nur Damen vorbehalten und läuft nach einem strengen Muster ab: Axuri Beltza – Danza de Jaurrieta (7:44 min.) Auch der ist Irati pur: Ein fröhliches Aufflackern inmitten einer zeitvergessener Gemessenheit. Pirineosaurus beginnt Irati zu verstehen. Zwei Orte weiter nimmt er einen gemütlichen Kaffee im Ochagavia ein, obwohl ihm die Planzeiten unter dem Sattel wegrutschen.

Die andere Musikgeschichte des Ortes ist ein Zeichen für nachbarschaftliche Solidarität aus der Region. Jaurrieta wurde 1880 ein Opfer der Flammen. Nur wenige Monate später organisierte der Julián Gayarre, ein weltberühmter Tenor im 19. Jahrhundert, der aus dem benachbarten Roncal stammt, zusammen mit Pablo Sarasate (vgl. Kap. 5), ein großes Benefizkonzert in San Sebastián (Donostia). Der Ort konnte in seiner architektonischen Schönheit wieder komplett aufgebaut werden und ist ein so was wie ein sehr bescheiden wirkender Modellort für die regionale Baukultur.

Der Puerto de Larrau gibt sich auf der Südseite fast komplett offen, weite Grünflächen, weites Panorama zu fernen Gipfeln. Nur ein bewirtetes Haus gibt es an der gesamten Strecke zwischen Izalzu und Larrau – die Bar Abodi etwa in der Mitte des Aufstiegs. Verkauft werden aber nur Dosengetränke, vielleicht ein Kaffee – kein Snack und nicht mal ein Eis, das ich an einem dieser heißen Tage so begehrt hätte. Es wird aber dort gebaut, vielleicht wird die Kaschemme aufgepimpt. Direkt anbei führt übrigens eine ordentliche Piste hinunter, über die man direkt zur Paso-Tapia-Straße und zu den Casa Irati gelangen kann, ohne den Weg über Ochagavia zu nehmen.

Schon vor der Passhöhe lerne ich Eduardo aus Logroño kennen, mit einem zum Reiserad umgebauten Rennrad und nicht unbedingt stabil wirkend. Seine Pyrenäen-Tour ähnelte der meinigen, stets mit Wechseln über die Grenzkammpässe. Sein ehrgeiziger Plan, noch am selben Tag nach der Abfahrt vom Larrau-Pass und ziemlich langwierigen Querverbindungen schließlich noch den Portalet-Pass zurück nach Spanien und von dort bis Torla zu gelangen, um dort einen Freund zu treffen, mit dem er eine Wanderung im Ordesa-Nationalpark durchführen wollte, löste sich allerdings wortwörtlich in Luft auf. Auf der Abfahrt erwischte ihn alsbald eine Reifenpanne und sein Ersatzschlauch erwies sich als ungeprüfter Lochkuchen. Leider hatte er eine andere Reifengröße, sodass ich nicht helfen konnte. Die Lage soweit abseits der Zivilisation dürfte recht prekär sein, wenn es ihm nicht gelungen sein sollte, von einem Autofahrer aufgegriffen worden zu sein. Ich hatte auf der Passhöhe schon meine Bedenken geäußert, dass das Rad für solch Touren nicht unbedingt geeignet ist. Auch dürfte er von den spanischen Straßen etwas verwöhnt gewesen sein – auf den französischen Pyrenäensträßchen ist man mit Rennradreifen und hohem Gewicht schlecht beraten. Zur anderen Seite tauchten auf der Passhöhe auch noch Tina und Reto auf – ein Paar vom Walensee (Schweiz). Sie waren nun eher das Gegenteil von Eduardo, indem sie zeitlich stark gepufferte Etappen gefahren sind und gar die Unterkünfte vorreserviert hatten. Sie wollten heute nur noch nach Isaba, was eine leichte Übung geworden sein sollte.

Die Nordseite des Puerto de Larrau ist erheblich steiler als die Südseite, was für die meisten Grenzkammpässe gilt, zumindest in den westlichen Pyrenäen. Dass Tina trotz Helm keinerlei Schweißtropfen auf der Stirn hatte, beunruhigte mich doch sehr, aber die Lösung war dann doch einfach: Reto musste das Gepäck mitschleppen, Tina blieb die Handtaschenvariante. Kein Wunder, dass Männer früher sterben als Frauen. Auch das war bei Sauriern anders. Es gab nur geteilte Lasten. Übrigens machte Casco Nuevo leichte Strampelbewegungen, als er bemerkte, dass er außerhalb der Tasche andere Cascos hätte kennen lernen können. Ich erklärte ihm, dass diese Cascos keine Zeit für ausgedehnte Kaffeekränzchen gehabt hätten. Darauf döste er weiter vor sich hin.

Larrau kannte ich aus Regenzeiten, diesmal sah ich fröhliche Leute, ein überraschend lebendiges Treiben in dem kleinen Bergort. Der Tag war ein Ausflugstag, was sich dann auch in der Gorges de Kakouetta zeigte. Ich war nun etwas spät dran für insgesamt drei geplante Schluchtexkursionen und ließ schon mal die Crevasses d'Holcarte mit einer atemberaubenden Hängebrücke sowie die Gorges d'Ehujarre aus dem Programm fallen. Die Kakouetta-Schlucht ist wohl die touristischste von allen, auch die einzige, bei der man Eintritt zahlen muss. Sogar Tucholsky musste das schon.

Kakouetta ist ein kleines Stück Urwald. Überall wuchern Farne und Moose. Der enge Schluchtaustritt ist zu Fuß nicht passierbar. Deswegen führt ein Weg über einen unscheinbaren, aber steilen Hügel, nachdem man den kleinen blauen See passiert hat. Anfangs ragt mitten aus dem Bergfluss ein steiler Fels heraus. Dann beginnt ein glitschiger Holzbohlensteg durch die Klamm. Es ist wie in den Urgestaden des Pirineosaurus. Fels hängt über dem Kopf, der nackte Stein ist meist von tropfnassem Grün überzogen, der Himmel nur ein kleiner Spalt zwischen kühn gestapeltem Stein und breit geschirmten Buchenästen. Einige Bäume wachsen gar über dem Fluss, der immer wieder mit seinen Kaskaden berauscht. Grüne Moosstümpfe verrenken sich als archaisches Moderwerk in surrealen Formen, wie sie selbst Salvador Dalí nicht ersonnen haben könnte. Von den Seiten sprießen Wasserfälle, deren mächtigster aus einer runden Höhle hervor schießt. Am Ende des Weges liegt eine kleine Höhle, in der die Fledermäuse aber wohl der vielen Touristen wegen sich schämen zu zeigen. Im so grünen Iraty ein echtes a-STONE-ishing thing in Pirineosaurus’ Wundersammlung! (Anm. von veloträumer: Mehr zum Kakouetta-Erlebnis und der Anekdote über einen verirrten Geier sowie die blauen Freunde von Casco Nuevo findet ihr in dem bereits gestellten Bilderrästel 853.)

Es gibt in der Umgebung nur einen Camping in La Caserne, sonst erst wieder in Larrau, und wenige Gîtes. Während tagsüber noch die Lokalität direkt an der Kakouetta-Schlucht (plus Straßenstand oben bei den Parkplätzen) gibt, findet sich zum Essen abends weiträumig nahezu nichts (La Caserne auch nicht). In Ste-Engrace liegt eine Gîte/Auberge, die für Übernachtungen voll belegt war. Dort gab es etwas rustikales Brot mit Wurst – Käse habe ich ja selber dabei. Der Salat war an Lieblosigkeit kaum zu übertreffen – von wegen französische Kochkunst in der Provinz. Oberhalb des Ortes folgt zwar noch ein Restaurant an der Straße, war aber auch geschlossen. Kaum hier ein Lagerplatz – Biwak in einer Straßenkehre, da es nur unwegsames oder abgezäuntes Gelände gab. Pirineosaurus hätte vom Steinschlag getroffen werden können – ganz in der Tradition des Vulkan-veranlassten Sauriersterbens, wie es in manchen Schulbüchern steht. Aber Pirineosaurus ist anders und stirbt nicht so schnell. Es heißt sogar, sein Geist währe ewig.

Mi 16.7. Ste-Engrace (+) – Col de Suscousse (1216m) – Col de Ste-Gracie (1325m) – Col de la Taillade (1425m) – Col d'Issarbe (1445m) – Lanne-en-Barétous – Col de Sustary (444m) – Tardets-Sorholus – Mauléon-Licharre – Col d'Osquich (500m) – St-Just-Ibarre – Larceveau – Bunus
88 km | 12,0 km/h | 7:21 h | 1595 Hm
W: sonnig, bis ca. 30 °C, abends kühl
Ü: C Bunus 9,15 €
ME (Bistro Barretous): Blätterteig, Putenschitzel, Reis, Eis, Cafe 12 € (+)
AE (H/R in Larcevau): Salat, Entrecôte, Pf, Fruchtsalat, Rw, Cafe 24,20 € (–)

Während es bis zu Kakouetta noch leicht zu radeln ist, beginnen spätestens bei Ste-Engrace die gehobenen Steigungswerte. Bis zum Col d’Issarbe fährt man nach oben, die anderen Pässe sind Querpässe, die nur formal zu nennen sind. Beim Col de Suscousse besteht zur Wahl auch ein Anschluss zum Col de la Pierre St-Martin über den Col de Soudet (vgl. Ausgang Kap. 6). An der Strecke begleiten eher kleinere Stufenwasserfälle, kurze Waldstücke, aber meistens weite Panoramablicke – oben auf der Höhe zu beiden Seiten nach Süden und Norden.

Gemäß der mageren Kost der Vortage nehme ich Lanne-en-Barétous ausnahmsweise einen warmen Mittagstisch in Anspruch. Typischerweise steigen hier keine Touristen ab, sondern ein paar Arbeitende wie die Friseuse vom Geschäft nebenan oder mal ein Transit-Trucker. Die Speise ist durchaus mit Liebe fein gemacht, und für Frankreich zudem preiswert. Mein folgender Umweg lohnt, wenn man den Schweiß nicht verschmäht. Über einen kleinen Hügel gelangt man in eine agrarische Talebene, von der es einen ganz verlassenen kleinen Pass durch urigen Kastanienwald hinauf geht, so steil, dass es Pirineosaurus Urlaute entlockt, die niemand hören dürfte.

Zurück im Tal in Tardets finde ich ein belebtes Städtchen vor. Es geht nun auf einer stärker befahrenen Achse recht flott leicht abwärts. Noch flotter als Pirineosaurus sind allerdings die einheimischen Kids. Mit Affenzahn jagen Betreuer oder Väter ihre Zöglinge, die kaum die Unterkante meines Rahmenrohres erreichen könnten, auf blitzblank geputzten Rädern. In Mauléon-Licharre wartet schon Mutti auf die Sportsmänner der Familie und Sohnemann ist mächtig stolz im Trikot des Baskenlandes, farblich mit Rahmenfarbe abgestimmt. Tempohärte wird hier mit der Muttermilch weitergegeben. (Anm. von veloträumer: Hoffen wir mal, dass sie nicht mit der in der Bildergalerie festgehalten Tubennahrung gefüttert werden. bäh)

Muttermilch braucht es allerdings hier kaum, denn auf der Strecke liegt Käserei an Käserei. Mauléon hat Burg und Schloss – sie oben, es unten. Ein großer Platz zum Verlaufen trennt die Häuserzeilen scheinbar nutzlos. Die Funktion des Platzes ist mal wieder echt baskisch: Pelota. Spielen gesehen habe ich aber nur einmal welche. Das war noch an diesem Tage abends in Larceveaux. Mädchen und Jungens, im Alter etwa zwischen Schulzeit und Studentenbude. Auf jeden Fall schwitzen die mehr als Pirineosaurus am Pedaltrieb. Das will was heißen. Basken sind eben harte Kerle – egal ob Mann, ob Frau.

Ein offener grüner Hügel liegt noch zwischen Mauléon und Nachtquartier. Der Col d’Osquich ist so etwas wie ein harmloser Klischeepass der Westpyrenäen, von einem Geometriker scheint der Bogenhügel exakt mit Zirkel gezogen. Mal wieder schlage ich unverantwortlich die beiden Essstuben auf Passhöhe und darunter aus. Im Tal rächt sich das. Das beim Camping Bunus nächst gelegene Restaurant hat geschlossen. Was sonst, wenn Krise ist? Auch hier zur Hochsaison eher bescheiden die Gästezahl auf dem Camping. Im Hotel/Restaurant in Larceveaux das Bild noch deutlicher – einsam muss ich speisen – nur die Pelota-Spieler leisten sich ein paar Erfrischungsdrinks. Das Ambiente ist etwas steif und edel, die Qualität des Essens läuft dem Image hinterher. Offenbar macht man sich auch nicht viel aus Gästen. Mal wieder das verkümmerte Frankreich. Alles wirkt wie nebenbei und unbemüht.

Do 17.7. Bunus – Hosta – Col des Palombières (614m) – Lecumberry – Col de Landerre (1072m) – Col d'Aphanize (1055m) – Col Inharpu (1029m) – Col Burdin Olatze (892m) – 3 – Col d'Arhansus (928m) – Col Bagargui (1327m) – Col Heguichouri (1284m) – Lac d'Iraty (Iraty-Cize)
58 km | 8,5 km/h | 6:42 h | 1905 Hm
W: weitgehend sonnig, > 30 °C, nachmittags Sturmböen
Ü: C wild/Hütte 0 €
AE (Chalet d'Iraty Cize): Käse-/Schinkenplatte, kalter Nudelsalat, Crêpe Chocolat, Eis, Rw 23,30 € (–)

Ein kleiner Lichtblick hier, gibt es doch eine bescheidene Bäckerei, Kaffee und ein paar Kleinigkeiten wie Joghurt am Fuße der Palombières-Route. Wer nicht leiden möchte, sollte hier nicht fahren. Harmlos ist es bis Hosta, wenn man mal von dem Omen absieht, wo eine Skulptur zu Ehren Jimi Hendrix leicht saurische Skelettzüge trägt. Nach Hosta folgt eine Todesrampe, so muss es gesagt werden. Pirineosaurus glaubt auch nicht auf den Karteneintrag mit 15 %. Die Österreicher hätten bestimmt 25 % reingeschrieben. Wahrscheinlich werden Steigungswerte in Abhängigkeit vom Härtegrad der lokalen Bewohner gemessen. Was ist ein österreichischer eitler Pascha schon gegen einen sturmgestählten asketischen Urbasken? Österreichs Mozart ist die Inkarnation des Molls. Basken sind Durissimo!

(Anm. von veloträumer: Wieviel Wasser Pirineosaurus an diesem hardest of the hardest days verloren hat, ist nicht überliefert. Zu einem guten Teil dürften aber die Bergbäche des Iraty-Gebietes seitdem aus den Adern des Pirineosaurus gespeist werden, wie neueste und unabhängige paläontologische Forschungen ergeben haben.)

Auch hier taucht man in urigen Kastanien- wie Buchenwald ein, Pilze, Farne und Moose schaffen kurz eine abkühlende Mystik. In Lecumberry ist man wieder im Tale wie zuvor, ein Pass also fürs reine Vergnügen. Zum Col Babargui, sprich Col d’’Iraty gibt es nun gleich drei Wege, keiner ist einfach, über den Burdincurutcheta (selbst Pirineosaurus vermag diesen Namen nicht ohne Gestotter auszusprechen) bin ich auf der Vuelta Verde schon rüber – mitten durch eine Wasserwand. Durch den unaussprechlichen Zwischenpass braucht es mehr Höhenmeter als erwartet. Die mittlere Alternative würde meine Route am Col Inharpu treffen und den Höhenmeterverlust beim Übergang zum Col d’Iraty gleichwohl beinhalten. Die Route dürfte aber etwas gleichmäßiger sein, der Col Inharpu ist dort der höchste Punkt.

Auf meiner, sicherlich einsamsten unter den einsamen Routen ist der Col Inharpu hingegen nicht der höchste Punkt. Um den Col d’Aphanize hat man einige entspannte Passagen von leicht abwärts über flach bis leicht ansteigend. Umso mehr erwartet Pirineosaurus zwischen Behorleguy und dem Col de Landerre eine Fortsetzung des Palombières-Erlebnisses, diesmal nicht alleine durch die Steigungen verursacht, sondern durch Sturmböen, deren Kraft aus riesigen urtümlichen Windmühlen stammen müssen. Diese Passage wäre eigentlich ideal für Casco Nuevo gewesen, denn der Schweiß wird noch beim Aufsteigen in der Drüse bereits vom Wind herausgepresst und fortgerissen. So musste auch Pirineosaurus seine so beliebte Mütze in die Tasche zu Casco Nuevo zur Sicherheitsverwahrung legen. Sie hätte sonst in Windeseile den Talboden erreicht und Pirineosaurus ohne Schutz für seine Gehirndecke zurückgelassen. Schließlich ist Pirineosaurus am Kopfe recht wenig behaart, eine Folge frühgeschichtlicher Feuerstürme.

In jedem Fall ist der Weg über den Landerre-Pass weitgehend von offenen Flächen geprägt, der typische Typus der grünen Hügel, weicher als die Nockberge, und nahezu immer von Pferden, Kühen oder Schafen besetzt. Pyrénées Basque tipico tipico sozusagen. Man weiß gar nicht, ob diese Schafe & Co. sogar schon vor dem frühgeschichtlichen Pirineosaurus dort waren. Von weitem sehen sie aus wie weiße Steinfindlinge, die sich auf den Weiden verteilt haben.

Bevor es zum Col Burdin Olatze hinunter geht (man fährt diesen deutlich sichtbaren Sattel nicht als Hochpunkt sondern quer zur Passfurt als Tiefpunkt), gibt es oberhalb der Straße einen Berggasthof. Auch dazu müsste man eine Extra-Rampe auffahren, was ein mir eigentlich zustehendes Eis doch nicht wert ist. Zu den Iraty-Chalets sind es nun unterschiedliche Eindrücke, nebst der benannten Hügellandschaft folgen auch ein paar rötliche Erdabbrüche, Wasserfall, Ginster, Heidekraut bis dann die Buche dominiert. An den Iraty-Chalets herrscht begrenzter Betrieb. Pirineosaurus hofft aber auf weitere Essgelegenheiten im Tal des Iraty-Sees, die ich teils schon kenne. Nebst dem Tagesbistro Chalet de Cize sind es die Restaurants Au Cayolar und Chalet Pedro. Beim Iraty-See scheint alles unverändert wie vor Jahren. Auch die Hütte meines Verderbens steht unschuldig vor mir. Ich prüfe die Lage. Die Luft scheint rein zu sein, kein Alkoholiker, der raucht und schreit – was Menschenkinder alles so tun. Nicht einmal Müll im Hüttenraum, die Duschen auch noch funktionsfähig und sauber, etwas Putz ab – der Zahn der Zeit.

Doch die Essensbasis ist trügerisch. Cayolar verlangt Vorbestellung, möchte mir maximal einen Salat anbieten, obwohl man mir vor Jahren geholfen hatte, durchnässte Kleidung zu trocknen und spontan Lammkoteletts auf den Tisch kamen. Auch ein irischer Wanderer bekam sein Essen, obwohl die Bude voll war. Jetzt ist kaum Betrieb, aber auch kein Herz mehr. Ich könne es ja mal bei Pedro versuchen. Das ist ungefähr ein Kilometer. Pedro’s Gîte ist zwar umlagert von Übernachtungsgästen, doch das Restaurant ist ebenso geschlossen wie niemand vom Betreiber anwesend ist. Wenn das mal Cayolar nicht gewusst hat – diese unfreundlichen Gesellen! Die Franzosen picknicken. Sicherlich hätte ich ein Brotstück abbekommen. Doch Pirineosaurus ist Luxus gewohnt. Er will richtige Keulen zum Abschlecken, wo das Fett raustrieft – wie es im Saurierland üblich war.

Mein Leid teile ich mit einem Angelsachsen, der aber in Toulouse lebt und arbeitet. Das ist nicht das erste Mal, dass ich unterwegs Nicht-Franzosen treffe, die in Toulouse arbeiten. Diese Airbus-City wirft wohl einen Menge international begehrter Jobs ab. Für Pirineosaurus wären diese Jobs aber nicht saurisch genug. Der Engländer ist als Wanderer unterwegs und hat gleichermaßen auf fette Keulen spekuliert. Ein Menschenkind aus saurischem Gepräge. Doch es gibt nichts! Iraty ist eben Askese pur. Ist diese Askese der Natur geschuldet oder doch eher (selbstgemachte) Krise? – Wir diskutieren kurz über die Beobachtungen und die negativen Folgen. Die Leute müssen sparen, haben weniger Geld. Je mehr Gastbetriebe schließen, desto weniger Menschen lockt es in die Regionen. Auch die Verbliebenen machen dann weniger Geschäft und müssen schließen. Einige antworten mit überhöhten Preise, oder mit Trägheit – nur nicht mehr anstrengen, wenn der Dampfer schon am sinken ist. Eine Spirale abwärts, ein Strudel nicht nur in Rezession, auch in Depression? Schon wieder Frankreich am Ende. Wirklich. Hier ist Frankreich zu Ende – zumindest geografisch.

Pirineosaurus kehrt zurück zum See, dort zur dritten Bude. Die Familie bietet mir Nudelsalat aus der Eigenversorgung. Regulär gibt es Schinken und Käse – der wird auch tagsüber an Touristen verkauft. Seltsam aber, dass die Franzosen sich selbst so mit lappigen Nudeln quälen. War nicht Frankreich mal die Kochnation? Für die Gnade müsste ich dankbar sein, der Preis für das Gebotene allerdings ist erschreckend. Ich muss hier undankbar sein: Eine Frechheit schon! So nett die Familie sich gab. Ich fragte noch nach der Vorgängerin und dem Penner, der einst die Hütte beschlagnahmte. Davon wussten sie und waren erstaunt, wie genau sich Pirineosaurus in Iraty schon auskennt. Immerhin ist die Hüttennacht diesmal zahm und still. Es hätte nicht mal der Hütte bedurft, denn die Nacht war ja nicht so wild und kalt wie damals. Am nächsten Tag treffe ich ein Wanderpaar auf den Höhen, die haben auf Gras unter freiem Himmel geschlafen. Erstaunlich, soviel Sommer hatte ich nicht mehr zu hoffen gewagt, wie Iraty bereit hielt.

Fr 18.7. Lac d'Iraty (Iraty-Cize) – Col de Sourzay (1140m) – Col d'Irau (1072m) – Col d'Arthaburu (1160m) – Col d'Arthe (937m) – Artzain Echea – Beherobie/Les Sources de la Nive – Col d'Arnostéguy (1236m) – Col d'Elhursaro (1135m) – Col Héganzo (850m) – Ondarolle – Arnéguy – St-Jean-Pied-de-Port – Bidarray (+)
85 km | 11,5 km/h | 7:29 h | 1615 Hm
W: oben sonnig, teils Sturmböen, im Tal schwül, später bewölkt, weiter windig, bis 28 °C
Ü: C wild 0 €
AE (H/R du Pont d'Enfer, Bidarray): Gabure, Forelle, Hähnchen bask., Pf, Gemüse, Gateau basque, Rw, Cafe 31,20 € (+)

Der Morgen verzaubert Pirineosaurus. Es ist Iraty pur, unverfälscht. Im Morgentau glitzern Bäche, einsame Fischer stellen Forellen nach, ein Esel grüßt den Drahtesel, am Rand locken Heidelbeerbüsche. Aus dem Wald wieder raus, erfüllt das Auge Weite, Weite, Weite! Die Hügel sind längst nicht mehr alle grün, ein gedämpftes Gelbbraun, schon fast wie Gold, zeugt von sonnentrockenen Tagen auf der Höhe wie diesen Tages. Ja, und Pirineosaurus schwebt über der Engelwatte, die die Täler dicht in feuchte Wickel packt. Darunter können nur Bergfeen sein, die nackt um einen Dornenstrauch tanzen. Und was Tucholsky vielleicht mit „schon wieder Schafe und Pferde“ abtun würde, wird nun am letzten Iraty-Tag immer mehr zur Sensation, zum a-STONE-ishing thing erster Güte – wie das Paradies der Schafe, welches wiederum Francis Jammes so verfasst hat:

„Hier, wenn sie das weiße Salz von goldkörnigem Granit geleckt hatten, träumten die Schafe ihren langen Traum, bedeckt von ihrem dichten Wollvlies wie die Blätter der Äste vom Schnee. Die Landschaft war so rein, so traumhaft klar, dass sie die Wimpern der Schafe versilbert hatte und sich widerspiegelte im Gold ihrer Augen. … Eingewebt in die Teppiche der Buchen- und Tannenwälder waren Blüten von Reif, von Himmel und von Blut, und wenn der sanfte Wind sie berührt hatte, zog er noch sanfter, noch duftender, noch eisesklarer weiter…“

Da sind Momente, die schon mal Tränen aus den Augen tropfen lassen, ohne dass es eines konkreten Anlasses bedarf. Es versteht sich von selbst, dass sich hier Pirineosaurus zu guten Teilen im feierlichen Paradies-Kostüm fortbewegen musste. Mehr und mehr stechen Felsen aus dem Wolkenmeer hervor, in das man dann zwischenzeitlich abtauchen muss. Denn die grenznahe Iraty-Höhenroute wird durch einen tiefen Talschnitt unterbrochen, keine Straße führt über den durchgehenden Grat zu dem zweiten Teil der Höhenroute. Die ach so lieblichen Wolken werden dann zur garstigen Nebelwand. Einmal durchbrochen, hat man bald die Wolkendecke über sich. Im schmalen, feuchten Tal der Nive rauscht es feucht fast wie im Urwald, ein dramatischer Landschaftswechsel. Und keine Bergfeen.

Bei den Quellen der Nive befindet sich entsprechend benanntes Hotel – quasi am Ende der Talsohle, aus der anschließend die Straße heftiger durch den Wald wieder ansteigt. Das Hotel mit Restaurant sollte eigentlich mein Nachtquartier gewesen sein, doch Pirineosaurus hatte bekanntlich gestern solche herben Berge zu bewältigen, dass er weit entfernt sein Ziel verfehlen musste. In der Tat ist dieses Hotel ganz nach dem Geschmack von Pirineosaurus, gottverlassene Gastlichkeit an wildem Wasser mit einem Hauch Luxus und sogar noch aus seinem Talerbeutel bezahlbar (60-65 € HP als Solo-Saurier). Zur Iraty-Askese gehört es, dass bis zu dieser frühen Mittagsstunde nirgendwo ein Brocken Brot aufzutreiben war (auch die Bar Cize am Iraty-See versagte Pirineosaurus ein Stück Brot für den Morgen mitnehmen zu dürfen). Neben dem Sandwich lag Pirineosaurus bei der Talschwüle an einem köstlichen Eisbecher, um sein saurisches Gedärm abzukühlen.

Nach der Auffahrt unter erneuten typisch baskischen Qualen der Selbstdisziplin erreiche ich erneut die Höhenhügel, nicht ganz unähnlich zu zuvor, wenngleich die Weiden mehr von Steinen durchsetzt sind. Mehr und mehr a-STONE-ishing – etwa bis zum Col d’Arnostéguy. Der Pass liegt wenige Meter abseits der Straße, von wo aus man erstmals auch weit in den Süden nach Navarra schauen kann. Zahlreiche Wanderwege führen in alle Himmelsrichtungen. Auch hier ist der Jakobsweg ausgewiesen, die Hauptspur des El Camino führt aber nach dem Ende des Straßenbogens und etwas weiter unterhalb von der Asphaltstraße über einen Wiesenweg. Die Straße ist so steil, wie es für leidende Büßer sein muss. Ich fühle mich der Schwerelosigkeit des freien Falls nahe. Die Wanderpilger, die mir entgegen kommen, machten nicht gerade glückliche Gesichter, ihnen war Christi-Leid ins Gesicht geschrieben. Nicht umsonst gibt es einen Jakobswegweiser mit Totenkopf. Einige hatten nicht mal die Kraft, auf meine außerirdische Erscheinung angemessen zu reagieren.

Pirineosaurus wählt die südlichste Route hinunter nach Ondarolle, die wiederum von der Pilgerwegstraße abzweigt, aber nicht weniger steil ist, obwohl sie in Kehren zu Tal rauscht. Einige Passagen haben sicherlich das Gefälle des vortägigen Palombières-Passes. Lange blickt man auf Valcarlos zur anderen Uferseite der Petite Nive, aber es gibt lange keine Brücke zur anderen Uferseite. Erst beim Grenzort Arnéguy werden die parallelen Straßen zusammengeführt. Dabei ist die diese französische Nebenstraße ziemlich wellig angelegt, während auf der spanischen Seite die Ibañeta-Passstraße einen gleichmäßigeren Verlauf mit wenig Steigung nimmt.

Ich lasse St-Jean-Pied-de-Port aus, weil ich auf meiner Vuelta Verde bereits ausreichend Besichtungszeit bei Regen hatte, auch die Nacht dort verbrachte. Sicherlich hat es entlang der Nive viel Verkehr, denn hier ist schon tiefe Ebene erreicht. Noch aber schnürt die Nive immer wieder enge Talschnitte und es ist doch ein recht idyllischer Fluss, der gemäß des wasserreichen Sommers schon gewaltige Kräfte in sich trug. Neben der Straße verläuft die Bahntrasse, auf der aber keine Züge zu sehen sind.

Immer bedrohlicher werden die Wolken, je näher ich dem Atlantik komme. Es ist finster ohne Nacht. Pirineosaurus denkt erneut an längst überlebte Vulkanausbrüche in der Frühzeit zurück. An der Klause bei Bidarray ist dann Zeit für das Abendmahl – die asketischen Iraty-Menüs müssen endlich kompensiert werden. Diesmal ist die Gabure sogar von tauglicher Qualität. Pirineosaurus kann zulangen, direkt an der pittoresken Bogenbrücke liegt das Hotel mit Restaurant. Die Pont d’Enfer soll von baskischen Heinzelmännchen erbaut worden sein. Eine Ansicht, die wiederum Pirineosaurus sehr behagt. Ohnehin glaubt er, dass Heinzelmännchen die besseren Architekten sind als die Menschenkinder. Man sieht es an den alten Brücken.

Da ich mich nicht zur Hotelübernachtung durchringen kann, muss Pirineosaurus wieder seine Nachtleuchten ausrichten und fährt suchend die Strecke weiter. Es ist wohl saurischer Instinkt, dass Pirineosaurus fast genau auf der Grenze zwischen Basse-Navarre und Labourde sein Nachtlager aufschlägt. Morgens erweist sich dieser Notplatz vor einer verschlossenen Garage als geruchsintensiv – offenbar werden dort Lösungsmittel gelagert. (Anm. von veloträumer: Es gibt Gerüchte, dass hier veloträumer seine Sinne und das Gedächtnis verloren haben könnte, und folgend auf die Schriften seines Alter Egos Pirineosaurus zurückgreifen musste, um die ausgeblendete Zeit zu rekonstruieren. Für Pirineosaurus und die Paläontologen ist das allerdings ziemlich unerheblich, liegt doch seine Zeit weit vor der des veloträumers.)

Das Akkordeon gehört zu den Instrumenten, die ganz nach der Art des Pirineosaurus sich entwickelt haben. Weit verbreitet über die Welt, sind sie an ihren angelandeten Orten immer wieder zu anderen Formen mutiert, haben neue Spielarten begründet und eine unermessliche Artenvielfalt als Instrument und als Musikcharakter entwickelt. Auch wurde es in der Seefahrt als „Schifferklavier“ zum Inbegriff des Reisens in ferne Länder, wie es die Matrosen besungen haben. Gleichwohl hat es in vielen Kulturen die kulturelle Identität lokal geprägt, so auch bei den Basken. Das Trikitixa ist eine spezifische baskische Abart eines diatonischen Akkordeons (Knopfakkordeon), welches vielfach traditionelle Tänze begleitet. Einige Musiker haben es geschafft, die Musik aus ihrer traditionellen Schale zu befreien und neue Akzente einzubringen, wie ja das Baskentum neben Tradition auch immer wieder für Avantgarde und Erfindungsreichtum steht: Kepa Junkera „Bok Espok” (3:54 min., gutes Video, auch das Txalaparta taucht wieder auf).

Bildergalerie zu Kapitel 7 (176 Fotos):



Verantwortlich gezeichnet
Pirineosaurus Rex

Fortsetzung folgt