Re: Die Legende von Pirineosaurus

von: veloträumer

Re: Die Legende von Pirineosaurus - 18.12.14 21:07

NACHTRAG

Irgendwo in Südwestfrankreich. Der Nachtzug startete bereits mit einer Stunde Verspätung aufgrund wetterbedingter Schäden auf der Strecke (Bäume auf den Gleisen). Das Wetter des Sommers zeigt seine Wirkung. Tatsächlich schlägt teils tief hängendes Geäst gegen die Wagenfenster.

Paris, ausgeruhte Morgenstunde. Veloträumer erreicht die Seine-Metropole deutlich verspätet und versäumt den Anschluss-Zug nach Strasbourg. Für den nächsten TGV mit Radmitnahme dauert es über zwei Stunden länger. Es scheint fast wie fünf Wochen zuvor, nur diesmal auch ohne Streik ein beschwerliches Vorankommen. Wieder ein Reisetag auf Schienen?

Am Gare de l’Est steht ein Klavier mitten in der Halle unter dem Abfahrtstableau. Reisende huschen hektisch vorbei, andere bleiben stehen, lauschen einem Spieler, der fast lumpige Klamotten trägt. Kein Hut daneben. Spielt der, um in Streikzeiten für Laune und Kurzweil zu sorgen? Aber es ist ja kein Streik mehr. Auf dem Klavier steht, jeder ist frei zu spielen, wenn er möchte. Ein gestimmtes Klavier für Rucksacktouristen und Businessleute, die auch Schwarz/Weiß und Dur/Moll können. Ein kleiner farbiger Junge stolziert immer wieder um das Klavier, traut sich aber nicht zu spielen. Nur kurz ist der Schemel frei. Dann spielt ein hagerer junger Mann – Romantik, wohl Schumann, genau kann ich es nicht mehr zuordnen. Eine Frau bespricht sich mit ihm, würdigt ihn ob seines Talentes, will wohl Tipps für die eigene Leidenschaft erhalten. Ein stämmiger weißbärtiger Holzfällertyp trommelt ein paar Blues-Akkorde, sein Auftritt bleibt noch unter einer Minute. Der Zug ruft. – Ich erfahre später, auf allen Bahnhöfen in Paris steht ein Klavier. Jeder kann sich selbst filmen oder filmen lassen und das Video zu einem Wettbewerb einschicken. Gare du piano, non reservé. Tusch!

Irgendwo zwischen Île de France und Elsass. Der TGV rast durchs Land – ein Land mit einem einzigen Bild. Eine bäuerliche Ebene, in einen tiefen Grauschleier eingetaucht. Veloträumer nickt ab und an ein. In den kurzen Träumen taucht ein mächtiges Tier auf, archaisch, fast versteinert, bewegt sich aber doch sehr langsam fort. Eine Traumstimme flüstert etwas von einem Pirineosaurus. Nie gehört! Wann soll das Tier gelebt haben? Die Fragen bleiben offen, wieder öffnen sich meine Augen. Ich spüre eine Leere, als lägen fünf Wochen hinter mir, die ich geschlafen habe. Ein Nichts, was mag ich getan haben? Sicherlich bin ich Rad gefahren. Nur wo? Weit weg – so weit weg, dass es Nirwana heißen mag. Ein Ballon von unwirklichen Welten kreist durch meine Hirnströme.

Strasbourg, gegen Mittag. Kein Regen, Wolkendecke grau, aber hoffnungsvoll mitteldünn. Ich entschließe mich, den Tag radelnd in der Rheinebene zu verbringen. Zu lange müsste ich auf eine Verbindung warten, fürs günstigere Ticket durch Strasbourg nach Kehl radeln. Das dauert auch. Ich habe schon mal eine Stunde gebraucht. Lauter Irrwege. Also lieber Kurs EU-Palais, Le Wantzenau und irgendwie bis Rastatt. Im Idealfall sogar noch Sonne und Baggersee. Im Wantzenauer Wald stoße ich auf radreisende Dänen im Regen. „Die haben ihr Sommerwetter mitgebracht“, denke ich vorwurfsvoll. Später wird es etwas besser, aber am Baggersee, sonst lauter Badenixen, ist es tot bis auf den Kiesbagger. Riesige Pfützen statt Dünenstrand. Der Sommer war in Deutschland wohl schlecht.

Vor Rastatt, früher Abend, ein Erdbeer- und Himbeerstand. In Baden sind frisch gepflückte Beeren günstiger als in Schwaben. Kein Wunder, dass Schwaben an einem Mangel mit Lebensfreude leiden. Die Glücksbotenstoffe der frischen Früchte sind dort zu teuer. Schwaben essen Maultaschen, keine Vitamine. Ich kaufe zwei Beerenschachteln, ich bin kein Schwabe. Die Verkäuferin sagt, der Sommer sei schlecht gewesen. Keine große Freude, keine Hitze und wenig Sonne. Jetzt hängen die Wolken tief hinunter bis zur Ebene, kein Schwarzwaldhügel zeigt sich frei. Irgendwie scheinen mir die Art Wolken vertraut. Die Frau fragt, wo ich ob meines Gepäcks denn herkomme. Ich will nicht sagen, dass ich es nicht so genau weiß und mein Gedächtnis verloren habe. Irgendwie stand auf meiner Fahrkarte etwas von Frankreich und spanischer Grenze. „In Spanien, auch Frankreich“, antworte ich verunsichert, weil nicht wissend.
„Und, wie war dort das Wetter? Sicher viel Sonne?“ fragt sie überzeugt.
Hätte ich ja gesagt, hätte das nicht professionell geklungen. Sie hätte vielleicht denken können, der will angeben. Reflexartig entgegne ich: „Es war wie hier.“ Dabei tauchte in meinem Kopf ein Traumbild auf, verschwommen sah ich Pirineosaurus, in einem Gewitterregen vor Angst zitternd, sein Gesicht im Hagelschlag nahezu hässlich entstellt. Dann war wieder Leere im Kopf. Woher soll ich wissen, wie das Wetter in den letzten fünf Wochen war? Zum Glück bohrte die Beerenfrau nicht nach.



Deutsche Bahn, zwischen Rastatt und Stuttgart, Abendzeit. Eigentlich unterscheiden sich Deutschland und Frankreich nicht. Überall ist das gleiche Grau. Veloträumer nickt wieder ein, erneut tauchen Traumbilder mit Pirineosaurus auf, ohne dass er sich endlich mal komplett zeigen würde. Als ich aufwachte, dachte ich, dass ich meine Erinnerungslücke einfach mit einer Sammlung von Geschichten um die Traumbilder auffüllen könnte. „Das merkt doch keiner“, kicherte ich in mich hinein. Rafael Chirbes sagt es durch seine Romanfigur Esteban (in: „Am Ufer) so: “Um zu widerstehen – am Leben zu bleiben -, braucht man eine gehörige Portion Idealismus. Die Fähigkeit, sich was vorzumachen. Es überleben nur diejenigen, die es schaffen zu glauben, dass sie sind, was sie nicht sind.“ Diese Lebensweisheit eröffnete mir eine neue Möglichkeit, meine gedächtnisverlorene Unschuld mittels Pirineosaurus zu überwinden. Was ist noch Traum, was ist schon Realität?

So entstand ein Geschichtenbuch aus Träumen. Ob die Geschichten wahr sein könnten, wusste bisher niemand zu bestätigen. Aber wen interessiert das? Die Möwe von Cerbère könnte es wissen, sie soll aber schweigsam geworden sein und weine fast jeden Tag. Ich entwickelte zunächst eine Phantomzeichnung von Pirineosaurus und konstruierte daraus mehrere fotografisch täuschend echte Modelle. Ein genaue Kenntnis der Fortbewegungsart von Pirineosaurus habe ich zwar nicht, glaube jedoch, Ähnlichkeiten zum Radfahren erkannt zu haben. Als ich genügend Traumgeschichten zusammen hatte, begann ich zu überlegen, ob ich Pirineosaurus mal besuchen sollte. Vielleicht finde ich ihn ja. Dann würde ich auch berichten – wahre Geschichten, keine Träume und Legenden mehr – wer weiß?

Stuttgart, im Dezember 2014. Ich hatte soeben die Traumgeschichten von Pirineosaurus fertig übersetzt. Ich erhielt einen weißen Brief mit blauer Briefmarke ohne Länderkennung, Aufdruck „Air Mail Special“, vom Regen stark gewellt, ohne Absender. Ich öffnete den Brief, fand ein weiße Feder darin und folgende Worte:

Botschaft einer Möwe

Die wilde Brandung tosend flucht,
mit Schaum das Ufer sucht,
trifft auf glatten Sand,
wo einst das Land
sah ich gern –
doch so fern.

Die schwere Wolke treibt,
so dunkelgrau im Sturm bereit,
still den Tropfen zu dir weht,
was die Möwe so gefleht –
eine lichte Träne wird es sein,
tief getränkt in Liebe – nur uns gemein!






E N D E unsicher