Re: Ein grüner Alien im Königreich Karantanien

von: veloträumer

Re: Ein grüner Alien im Königreich Karantanien - 08.12.15 20:26

KAPITEL I
Die Gletscher-Barriere im Norden:
Feuchtgebiete zwischen Himmel und Fels in den Hohen Tauern


Sa 13.6. Fusch – Ferleiten – Fuschertörl (2405 m) – Edelweißspitze (2571 m) – Fuschertörl – Hochtor (2505 m) – Golmitzerkaser – Franz-Josefs-Höhe (2362 m) – Golmitzerkaser – Apriach – Döllach
W: 11-22 °C, sehr wechselhaft, sehr windig bis stürmisch, regnerisch, auch Gewitter
Ü: C Zirknitzer 8,20 €
AE (irgendwo im Ort): Pizza Capricciosa, Rotwein, Cafe 12,40 € (*)
74 km | 10,1 km/h | 7:17 h | 2610 Hm

Dem unauffälligen morgen fehlte etwas die Farbe der Sonnenstrahlen. Das sollte ein Zeichen des Wetterwechsels sein. Bis zur Piffkar-Kehre auf gut 1600 m schien es nur schlichte Trübnis zu sein, doch dann zogen Sturmböen auf. Während die Schlechtwetterfront scheinbar von Norden den Berg angriff, setzten die Winde von Süden zum Gegenangriff an. In dem Fallwind türmte sich dann die scheinbar noch bezwingbare Steigung zu einem Teufelswall auf. Dem Genuss an Panoramablicken auf Waserfall-gesäumte Felswände und Talkessel nebst Lärchen-Grün zu den Seiten mochte das zunächst nur bedingt zu schaden. Doch dann dröhnte der Berg, es grollte, als würde sich ein Höllenschlund oberhalb der Baumgrenze öffnen. Doch es war Menschenwerk.

„studi-RAL-verde an speichen-08/15-kracher: Röhrende Hirsche mit Pirelli-Gummi auf der Straße. Hunderte! Meist Marke Ferrari. Cockpits kleiner als Motorenraum dahinter. Kann keine Murmeltiere mehr hören. Was tun?“
„speichen-08/15-kracher an studi-RAL-verde: Straßensperre errichten! Fahrer belehren über Naturschändigung!“
„studi-RAL-verde an speichen-08/15-kracher: Alles klar, werde durchgreifen!“


Ich folgte den Empfehlungen von speichen-08/15-kracher, und warf mich todesmutig den roten, gelben und sonstig gefärbten Asphalttorpedos entgegen. „Das hier ist Nationalpark, keine Rennstrecke!“ mahnte ich nicht ganz ohne grüne Gallenverfärbung. Doch die Wirkung verpuffte in einer lässigen Ignoranz, die von süffisantem Grinsen begleitet wurde. „Ist ja gut,“ entgegneten mir die Piloten, als würden sie mich als einen bedauernswerten Ausgebrochenen aus einer Nervenheilanstalt betrachten. Dann röhrte es weiter. Wahnsinn – hier sind die Irren normal, und die Normalen die Irren! Offensichtlich konnte ich meine unwirksame Realkompetenz als Alien nicht verheimlichen. Die Rallye begleitete mich bis ans Hochtor, wo ein heftiges Gewitter aus Gottesfluchwolken dem Spuk ein Ende bereitete – allerdings auch zu meinen Lasten, nur kompensiert mit einer lauen Kaspresssuppe.

Die Vielfalt des Zylinderrotwildes war umso erstaunlicher, denn zu den anfänglich dominierenden Ferraris gesellten sich weiter Frontspoiler-Panzer unterschiedlicher Fabrikate sowie Trike-Bikes. Einige kamen aus den bekannt barbarisch geltenden Ostgebieten der Awaren wie der heutigen Ukraine oder Polen. Die Mehrheit stellten allerdings die bajuwarisch-preußischen Speerspitzen, die ihre vergoldeten Feldbetten wohl meistens bei Zell am See aufgestellt hatten und so kaum etwas zum Broterwerb der gehobenen Bergvölker am Tauernmassiv beitrugen. Einzig an der Edelweißspitze drängten sich einige um Souvenirbuden – selbst das dorthin führende archaische Straßenpflaster konnte die wilden Horden nicht abhalten. Warum allerdings die Drei-Bundesland-Schutzmacht des Nationalparks Hohe Tauern hier nicht eingreift, bleibt ein schwer erkundbares Geheimnis dieser mysteriösen Großverdien-saug-mehr-Geld-bring-ins-Land-Dekadenzbürgerklasse Österreichs. Man krantelt nicht nur ab und an gerne, man kumpelt und klüngelt auch gerne (gewisse Ähnlichkeiten zum alemannischen Rheinland). Dazu gehört wohl auch die Besonderheit, dass man die Asphaltspur der Glocknerstraße den Schutzstatus der umliegenden Nationalparkfelsen und -wiesen entzogen hat, ohne das den Murmeltieren mitgeteilt zu haben.

Nach dem Gewitter sorgten ein paar Sonnenstrahlen für die Andeutung von Sommer. Das war bereits Kärnten, oder eben Karantanien (Grenze am Scheiteltunnel des Hochtors). Zwischen Lärchen und Alpenrosen, die sich über besonders schöne Bergwiesen auf der Anfahrt zur Franz-Josefs-Höhe zur Rechten auftun, bleibt das Sonnenbad ein kurzes Intermezzo. Ganz im Gegenteil, verfinstert sich der Himmel erneut und treibt den Wind – jetzt aus Nordwest – heran und immer so, dass er die Gegenspur meiner Richtung einnimmt. Ich komme zunehmend an Grenzen, die dem Alienmuskel gegeben sind. Mein Transportvolumen betrug ja immerhin ungefähr 0,2 Saumtierlasten (Anm.: eine alte Handelsvolumeneinheit der Säumer in den Alpen, bei der 1 Saumtierlast etwa 20 Rinderhäuten entspricht, vgl. in: Andreas Moritsch „Alpen-Adria“, S. 192).

„studi-RAL-verde an speichen-08/15-kracher: Windfront nahezu undurchdringlich bei mindestens 12 % Steigung, habe schon galaktische Windbeulenpest! Bitte um Rückzugserlaubnis!“
„speichen-08/15-kracher an studi-RAL-verde: Rückzug nicht genehmigt! Kämpfen! Es winkt eine bunte Visual-Belohnung“


Es ist nicht das einzige Mal auf der Reise, dass mein Commander speichen-08/15-kracher recht haben sollte. Nach den beeindruckenden Wasserfällen und Bergseenszenarien noch unterhalb der Pasterze, hüpfte das Auge auf die Urzeitansichten der riesigen Gletscherzunge, die allerdings schon klimawandlerische Kürzungen im Laufe des letzten Jahrhunderte erfahren hat. Eine Genusswanderung weiter hinein in das Gletschergebilde durch den Stollenweg erübrigte sich ob der scheußlichen Bedingungen, die einem die Gesichtsfront bis zur vollen Hässlichkeit eines Aliens entblößte. Und dann aber die Visual-Belohnung noch vor der bibbernden Abfahrtsbewegung: ein Regenbogen im Hochgebirgstal und ein freundlich gesinntes Murmeltier, das verschämt aus einem Kanaldeckel schaute, ob denn nun die Asphalttorpedos endlich in die Ferne der angesagten Cocktailbars in den Tälern gerückt seien.

Der Schrecken eines weiteren Zwischenanstieges zum Kasereck hatte ich in meinem Gedächtnis überzeichnet abgelegt, sodass ich zwei Radler am Hochtor damit stark verunsichern konnte. Ich selbst wählte die Zwischenhöhe via Apriach, das sich über dem oberen Mölltal hinzieht, und gelegentlich freie Blicke auf Heiligenblut freigibt, wie auch immer wieder mächtige Wasserstrahle zur anderen Bergseite – durch die Entfernung im Auge nur noch schmächtig. Apriach selbst ist für seine Stockmühlen bekannt, die aus dem 18. Jahrhundert stammen. Abgesehen von einem Modell an einem Weiler am Nebentaleingang, fand ich aber die Mühlen nicht, weil sie nur für die gehobenen Intelligenzhirne der Österreicher sinnstiftend (nicht?) ausgeschildert sind. Ich musste diese Nebenstrecke – wiederum von kleineren Regenfäden durchtränkt –, schon deswegen für Commander speichen-08/15-kracher absolvieren, weil hier Gold zutage gefördert wurde und mit Glück immer noch zutage tritt. Inwiefern es sich dabei aber um eine Quelle der bescheidenen Reichtümer des Königreichs Karantanien und seines Königs Arnulf handelt, konnte ich nicht recherchieren. Es handelt sich wohl – nicht anders als die Mühlen –, um eine wesentlich später zu datierende Quelle von letztlich nicht reich machenden Glanzes, von dem die Bergvölker hier nicht viel zeigen.

Nicht zuletzt äußerte der Campingwart-Junior (und nicht nur der) ziemlich verheerende Angaben über die öffentliche Infrastruktur im Mölltal, demnach ein abendlicher Bierumtrunk in einem Nachbardorf zu einer mittelgroßen Herausforderung wird. Busse fahren hier jedenfalls nicht so, wie man es ggf. aus dem Bergland der Eidgenossen kennt. Die Armut Kärntens setzte sich im Döllacher Gastgewerbe fort, wo ich – verhindert durch einen Wolkenbruch – im einzigen noch betriebsam wirkenden Gasthaus um 20:31 Uhr darauf verwiesen wurde, dass die Küche um 20:30 Uhr schließt und alles schon geputzt sei. Ich staune, dass man in einer Minute ein komplette Hotelküche sauber bekommt!? Aber wie ich schon die Intelligenz der Österreicher bei Automaten und Wegweisern unterschätzt hatte, gilt dies wohl auch für ihre Arbeitsgeschwindigkeit – hatte ich doch mal gehört, sie seien eher langsam und gemütlich. Nun, gemütlich, das stimmt ja auch wieder, man sieht sie zumindest abends selten arbeiten.

Eine Notlösung durch weiter strömenden Regen fand sich noch an einer Dorfecke – eine Pizza würde es noch geben. Als die holländischen Stammgäste vom Nachbartisch nach meiner Pizza-Verköstigung allerdings noch ein Eis von der Wirtin einforderten, ließ der Ehegatte verlauten: „Ich mache nix mehr!“ Darauf erbarmte sich die Gastfrau, den in Aussicht gestellten Eisbecher mit einer abgespeckte Variante in Form zweier sonst unbehandelter Kugeln zu entschädigen. Der Gemütlichkeit wegen ist der Getränkeausschank nicht an die Essensausgabezeiten gekoppelt, sodass selbst in abgelegenen Bergtälern Kärntens noch zu späten Stunden Trinklieder vernommen werden können. Da ich mich als Nicht-Stammgast noch weniger befugt fühlte, einen weiteren Wunsch zu äußern, verzichtete ich auf eventuell noch verfügbare Eiskugeln. Ich wollte auch nicht die Armut des karantanischen Nachfolgevolkes über Gebühr strapazieren. Mir stellte sich aber auch die Frage, wie man sich die zurückhaltende Gastgeberhaltung leisten kann – also doch heimliche Reichtümer eines alten Königreiches?

So 14.6. Döllach – Winklern – Außerfragant – (ca. 4 h Regenpause) – via Radweg (Ragga-Schlucht-Eingang, gesperrt) – Obervellach – Mallnitz
W: 13-19 °C, erst bewölkt, dann Dauerregen, abends trocken, kühl
Ü: H Eggerhof 40 € mFr
AE (dito): Knoblauchcrèmesuppe, Rostbraten, Bratkart., Salat, Vanillepudding m. Heidelbeersauce, Rotwein 20,10 € (**)
60 km | 13,1 km/h | 4:36 h | 915 Hm

Nein, es war nicht in den Reiseprospekten der Green Devil geschrieben worden, dass man Sauregen, Winde und Kälte in lichtjahreähnlichen Zeitachsen im Sommer erwarten muss. Das Trockenintervall des frühen Morgens endete nur kurz nach einem Frühstück in einem Café in Winklern, das mit der Gestaltung von Frühstückswünschen etwas überfordert war. Das lief dann so ab, dass der Motorbiker (ein Bajuware aus Rosenheim gesellte sich hinzu, der sich auch als MTBer zu erkennen gab) seinen Hörnchen-Wunsch äußerte, daraufhin die Dame des Cafés die Straße zu einer Bäckerei überquerte, dort ein Hörnchen kaufte und es mit Gewinnaufschlag an den Motorbiker weiterverkaufte – natürlich mit einer gepflegten Tellerunterlage. Beim nächsten Gast wiederholte sich dann das Spiel. Ich selbst hatte allerdings die heimliche Einkaufsquelle der Bäckerei schon etwas früher entdeckt. Man soll nicht munkeln, dass ein Alien grundsätzlich nicht mit der Intelligenz der Österreicher Bergmenschen mithalten kann.

Als ich die Ortsteilgrenze „Jenseits“ überschritt, trommelte es immer mehr Wasser aus den Wolkensäcken – es war untrüglich das Wasser, was man im Jenseits erwartet, welches über Stiefelhöhe steigt, bis es einem in den Mund läuft. Der Versuch, mit den Sonderausstattungen des survival kits aus der Outdoor-Kammer der Green Devil für extreme Wasserexpeditionen weiter die vorgegebenen Distanzringe abzuarbeiten, scheiterte dann doch alsbald an der subsidiären Feuchtigkeitssensibilität der Metadermitozytenschicht. Wieder musste ich einen Ratschlag von der Green Devil einholen.

„studi-RAL-verde an speichen-08/15-kracher: Wassereinbruch in den Transkanülen des interstellaren Humidenanzuges. Beginn der einfachen uranischen Hautschrumpelung. Was tun?“
„speichen-08/15-kracher an studi-RAL-verde: Basis-Trockenintervall vorbereiten! Café auf Krisen-Radar erkannt!“


Ich hielt durch bis zur Station Außerfragant – fast eine galaktische Ortsbezeichnung – und konnte dort eine bedingte Semitrocknung sämtlicher Oberhäute vornehmen. Ich begann mit meiner gastronomischen Genusssucht zu geizen, war doch immer noch kein signifikanter Kalorienverbrauch an dem Tage aufgetreten. Ich ersuchte um Auskunft für die Gasthöfe in Innerfragant und zur Höhe des Weißsees. Doch hier weiß der Nachbar nichts vom anderen. Selbst moderne Mobilfunkgeräte konnten die Informationslücken nicht schließen. Die Vermutung lag nahe, dass alles im Bergtal und samt paralleler Kabinenbahn noch in der Betriebspause verweilte bis sich Hochsommertüren öffnen. Ich strich das Programm mit Oschenik- und Weißsee radikal zusammen, war doch schon gleich am Morgen der Großsee ab Döllach ein weiteres Opfer der Umstände, nachdem mir die Campingfrau gar größere Schneepassagen in Aussicht gestellt hatte.

Nach der mehrstündigen Pause zeigten sich die Täler nach Norden bis in die untersten Etagen wolkenverhüllt. Radlziele sind da schwer zu bestimmen. So dachte ich schlau, einfacher sei eine Schlucht zu laufen. Doch sowohl Ragga- wie auch Groppensteinklamm zeigten verwaiste Eintrittshäuschen. Gesperrt wegen Gefahrenabwehr. Das leuchtete mir recht feuchtig ein. Trotzdem blieb es trocken inmitten tief hängenden Wolkenflöckchen. Ich steuerte so die einzig noch verbleibende Verlegenheitsposition Mallnitz an – soweit es ein Berg sein sollte. Wieder hinein in den Nationalpark Hohe Tauern – hier mit Bahnverlad für pedalmüde Kraftfahrer ebenso wie für höhenmeterschonende CAAR-Radler, der Tunnel aus dem Gasteiner Tal macht’s möglich. Radler kommen, wenn, immer von Norden auf dem CAAR. Alle wollen nach Süden, dem Sommertraum der Hochglanzprospekte. Doch Pech, heuer ist Norden und Süden gleich gestraft.

Die Auffahrt ist von mittlerer Schönheit, an Sonnentagen leuchten die heute mattgrauen Bergwiesen in RAL-gelbgrün. Mallnitz ist entgegen mancher Reiseführer-Anmerkungen recht wuselig auch jenseits der Skisaison, denn Wandern ist hier recht einfach möglich. Trotzdem ist das Übernachtungsangebot ziemlich unübersichtlich, viele Privatvermieter öffneten nicht. Den Camping verschmähte ich natürlich, nachdem mir Commander speichen-08/15-kracher ein Erweiterung der begrenzten Bankomatenlizenz gewährt hatte – den besonderen Umständen des Tages Rechnung tragend. Mühsam musste ich im größeren 3-Sterne-Gasthof 5 Euro auf mein 40er-Limit herunterhandeln. Dafür wurde mir der ursprünglich zugedachte Zimmerschlüssel wieder entzogen und ich erhielt nach langem Prozedere die Besenkammer des Hauses (ohne Besenfrau), in der sich selbst ein Alien kaum bewegen kann. Der Spiegelkasten über dem Waschbecken zeigte markante Zerfallstrukturen, sodass ich von dezenten Berührungsversuchen Abstand nahm. Die Schränke waren auf ihren Oberflächen von Wollmäusen bevölkert – eine weitgehend stumme, wenn auch nicht ganz stille Tierart. Die Sauna-Werbung entpuppte sich als eine Papierillusion. Immerhin fand ich einen großen Sonnenbalkon – welche Verschwendung in dieser Wolkengegend! – wo ich meine im noch feuchtes Nomadenhaus trocknen konnte. Die Hauskost war bemüht, aber etwas unter den wohl eigenen Ansprüchen des Hauses. So auch bestätigt von einem Radlerpaar aus Nürnberg, dass ich am nächsten Morgen beim Frühstück vorfand. „Wo lang?“ – „Zum Gardasee“, sagen sie. Wie geht das? – aus der Tauernschleuse kommend ab ins Drautal, ab via Toblach ins Eisacktal, ab nach Süden dann. Interessante Idee.

Mo 15.6. Mallnitz – Seebachtal/Stappitzer See – Mallnitz – Obervellach – Groppensteinklamm (Wanderung, ca. 1,5 h) – Ragga-Schlucht (Wanderung, ca. 1 h) – Obervellach – Penk – Höhe am Danielsberg (?m) – Preisdorf/Reißeck – Kolbnitz – via R8 (Glocknerradweg) – Lurnfeld
W: 13-21 °C, morgens Dauerregen, danach weiter regnerisch m. kurzen Trockenphasen
Ü: C An der Möll 0 € (k. P.)
AE (Kreinerhof): Kürbiscrèmesuppe, Hirschgulasch, Knödel, Bohnen, Rotwein 20,80 € (***)
B: Groppensteinklamm 6 €
B: Ragga-Schlucht 6 €
54 km | 13,6 km/h | 3:58 h | 570 Hm

Es gibt Morgenregen. Fast wie in Indien mit den Ragas – für alle Tageszeiten gibt es spezifische Ragas. In Karantanien eben Regen für jede Tageszeit. Das Seebachtal könnte traumhaft sein. Ist es auch, trotz mancher verhinderter Panoramen, die in den Wolken stecken bleiben. Es gibt nur wenig anspruchsvolle Hürden, die meisten Teile sind fast flach. Die Straße endet bei einem Gasthof nebst Kabinenbahnstation. Beides wirkt verlassen. Parkplatz für Wanderer, Wanderweg für Radler. Es könnte hier paradiesisch sein. Das Paradies endet am Stappitzer See. Zwar lockt ein großer Gebirgskessel, weiterhin mit flachem Tal und breiter Fahrspur. Noch eine lange Strecke zur Schwußnerhütte. Aber es heißt „Radfahren verboten“. Autos kommen, die Fahrer heben die Schranke und fahren weiter. Sicherlich, es sind besonders Berechtigte. Doch welche Last sollte der Radfahrer hier darstellen? Fürchtet man Rowdys auf zwei Rädern – auf solch übersichtlichen Wegen, für Genusstempo einladend? Fürchtet man Staubwolken von Stollenreifen, die Bäume und Wanderer in Aschestaub verhüllen? Wie erklärt sich dann die großzügige Ausnahmeregelung für die Blechkisten?

Ich vermerke zunächst mal ein Verbotsschild, das die Sinnfrage stellt. Doch das ist erst der Anfang. Kärnten stellt überall die Sinnfrage. Es gibt kein Land, wo es mehr Verbotsschilder gibt. Sogar das Sonnenbaden auf Badestegen ist verboten. Die Radverbote haben – vordergründig zumindest – den Sinn, dass die privaten Grundstückseigner der Weiden und Forste nicht in die Haftungsfalle geraten. Es heißt, dass ein Radler über einen Stein gefahren ist, der ihn zu Fall brachte – Schadenfreude, bitte! – und diesen Stein hat er vor Gericht eingeklagt, bzw. den Schaden, den er dadurch erlitt. Aha, ein Stein kann Böses in sich tragen und sein Besitzer muss ihm daher sein Aggressionspotenzial entziehen! Und das alles soll ein Richter so entschieden haben? Und so machten die Förster und Almbauern den Aufstand gegen die eigene Hüttenvesperklientel. Sie sperren die Wege für pedalierende Zweiräder. Und weil auch Wanderer über Steine stolpern können, gibt es bereits erste Forststraße in Kärnten, auf denen das Gehen verboten ist! Nur das Auto stolpert nicht. Ob man im alten Karantanien auch schon so verrückt war, konnte ich nicht herausfinden. Der moderne Kärntner scheint seine Krankheit aber nicht in Griff zu kriegen – zu inflationär sind die Verbotsschilder.

Für die Abfahrt zurück nach Obervellach bekomme ich ein paar Trockenluftzonen zugeschoben. Die Luft ist milder als vortags. Das lässt hoffen – zumindest sehen das auch die Schluchtengeldeintreiber. Die Groppensteinschlucht hat auf, auch die weit gefährlichere Ragga-Schlucht – sogar trotz immer wieder aufkeimenden Regens. Wo sind hier die Verbotsschilder? Keine Schilder, wohl aber erhobene Zeigefinger. Nach meiner Rückkehr von der Groppensteinschlucht erzähle ich der Wärterin, dass ich auf dem selben Wege zurück gewandert wäre wie aufwärts um Zeit zu sparen, da es wieder anfing zu regnen. Die Frau begann zu grollen und meinte, das dürfe ich nicht. Ich müsse den Rundweg laufen, weil der Aufstiegsweg zum zurücklaufen zu gefährlich wäre. Ach? Ich als Sandalen-bekleideter Schwachfußwander-Alien soll gefährdet gewesen sein? Später in der Ragga-Schlucht erfahre ich bei Regen, was gefährlich sein kann. Die dortige Wärterin zuckt aber mit den Schultern – „alles nicht so schlimm“. Ich erfahre, die Kärntner nehmen es mit ihren Regeln nicht so genau. Jeder macht, was er will und hält das dann für geboten. Die Gemeinsamkeiten überbrücken manchmal kaum zwei Flussuferseiten. Der Kärntner ist im Kern doch ein toleranter Mensch. Aufs Kranteln möchte er aber nicht verzichten – da helfen ein paar kleinkarierte Vorschriften, um Streitkultur zu üben.

Ich möchte mich dennoch bei der Wärterin der Groppensteinschlucht bedanken – schließlich durfte ich bei ihr meine Alien-Spezialschuhe trocken in dem ehemaligen Mautturm gebührenfrei (!) unterstellen. Für den Gang durch die Schlucht ist ein anderes Schuhwerk als das für Pedaleure dringend empfohlen. Entweder nutz man wasserdichte Wanderschuhe oder man lässt das Wasser gleich durch luftige Sandalen fließen. Es ist zwar nicht fortwährend nass und klitschig, aber man muss damit rechnen, unverhofft eine Pfütze zu erwischen. Schließlich sprießt das Wasser hier nicht nur aus dichten Wolken, sondern von allen Seiten. Die Stege halten zwar Abstand zum Wasser, Sprühnebel treibt aber durch die Luft, wie auch aus den Felsen überall Wasser quillt.

Die Groppensteinschlucht beschreibt ein Ensemble mehrerer Wasserfälle, die sich mächtig und in gelungenen Fließlinien hinabstürzen. Es erinnert an eine offene Galerie mit mehreren Naturbildtheaterbühnen, die der Maler in Genießerrahmen lebendig werden ließ. Weniger felsenge Klamm, als ein wasserreicher Gebirgsstieg, eher leicht zu begehen. Zum Überfluss des Wasserschwalle gesellt sich viel Bergwaldgrün, Glockenblumen sorgen für violette Farbtupfer. Die Ragga-Klamm hingegen ist ein berauschender Wasserkessel, wo die Strudel zu ohrenbetäubendem Lärm aufheulen. Man kann kaum ruhen oder ausweichen – es sind fast nur Leitern und Stege. Die Sinne werden betäubt und oben raus meint man, die Hölle wars jetzt gewesen – aus und vorbei. So unterschiedlich im Charakter, so bezaubernd sind beide Schluchten gleichermaßen.

Das Mölltal ist mangels einer großzügigeren Talentfaltung zwischen Winklern und Obervellach von eher bescheidener Ausstrahlung. Ganz anders weitet sich das Tal unterhalb von Obervellach. Die Bahnlinie ist steter Begleiter über dem Kopf am Berg geführt, mehrere Bogenbrücken sind mehr Zier als Last für die Landschaft. Ich benutze verschiedene Wege, der Radweg mal schön über dem Tal gelegen, später führt er mir zu plan im Tal. So baue ich noch eine kurze Steilrampe am Danielsberg ein, die Route überschneidet sich nun mit dem Alpe-Adria-Trail. Ein einsamer Wanderer quert das nächste Dorf – er erweckt den Eindruck eines typischen Langstrecken-Wanderers. Sie haben einen festen Schritt, aber immer den Blick in die Umgebung gewandt, nicht aber rennen sie sportlich wie der moderne Hochleistungswanderer, der sich mir in Slowenien zeigte.

Zurück im Tal, unterhalb der Reißeckgruppe, legt die Möll als dunkelgrüner Halbspiegel vor mir. Mehr ist nicht drin bei der mageren Himmelsbeleuchtung. Der Glockner-Radweg zieht hier ein paar Spuren durch schon fast sandige Piste – man muss also immer mit ein paar Hürden rechnen, auch wenn insgesamt von guter Qualität. So besinnlich die Möll dahinfließt, so betriebig dringt die Hektik von der anderen Flussseite mit der Transitstraße, der nun zu Tal geführten Bahn und der Wasserkraftpipelines herüber.

In Lurnfeld, dem Dreh- und Angelkreuz zahlreicher Radwege, treffe ich erstmals ein Radlerpaar mit Zelt auf der Tour. Der Eindruck bleibt auch später, dass weniger Zeltradler auch auf den Hauptrouten unterwegs sind, als ich erwartet hatte. Das Wetter kann der Langzeitradler ja auch nicht geahnt haben? Manches scheint wieder geschlossen im bescheidenen Lurnfeld, es verbleibt nur ein Gasthof, an den auch das Dorfcafé angeschlossen ist. Hier ist die Speise mit Liebe zubereitet, wenngleich man sich als Gast etwas wie ein Störfaktor vorkommt. Jedenfalls ist Eile geboten, um dem frühen Schlafdrang des Österreichers nicht in die Quere zu kommen.

Di 16.6. Lurnfeld – Pusarnitz – Lendorf – Lieserhofen – Trebesing – Gmünd (Besichtigung Pankratium, ca. 1 h) – Brandstatt – via Malta-Hochalmstraße – Gmünder Hütte (1186 m)
W: 13-19 °C, bereits nachts Regen, morgens alsbald Dauerregen, mittags Trockenpause, gegen Spätnachmittag Dauerregen bis nächsten Morgen
Ü: H Gmünder Hütte 33 € mFr
AE (dito): Schweinebraten, Knödel, Sauerkraut, Apfelstrudel, Most, Bier ? € (*)
B: Pankratium Gmünd 8,90 €
42 km | 11,1 km/h | 3:46 h | 910 Hm

Nach Abendregen, und Nachtregen, gab es auch wieder Morgenregen. So konnte ich das Café studieren. Kaffeetrinken ist in Österreich eine hohe Kunst, entsprechend fantasiereiche Namen haben die Getränkederivate aus der braunen Bohne. Wieder ist jedoch Essbares nur wenig vorhanden. Fürs Frühstück hätte ich zum Buffet ins Hotel gehen müssen, obwohl auch die Karte des Cafés mehr versprach. Der Schein spielt in Kärnten eine große Rolle gegenüber dem Sein. Die Wirtin fand noch ein süßes Energietörtchen – doch hübsch und fein.

Flache Felder leuchten in Beige-Gelb trotz des zunächst leichten Dauerregens, ja sogar ein goldenes Schimmern ist zu sehen. Es folgt eine Allee, ein paar Dörfer, ein Tante-Emma-Laden. Dann wird es zunehmend hügelig, ab Lieserhofen teils heftige, wenn auch kurze Rampen. Die Straße liegt deutlich über dem Talgrund des Liesertals mit der Autobahn, die ihrerseits sich auf Stelzen luftig abhebt und das Tal dominiert. Der Blick ist aber selten frei ins ganze Tal, eher mal zur Linken die Berghänge hinauf. Trebesing wirbt als Babydorf, auf das bald Radl folgt, was allerdings kaum auf eine velophile Bevölkerung hinweist. Dennoch lockt das Radlbachtal zu einer Rad-Exkursion – wenn es denn trocken wäre. Doch mir droht mehr die Stunde der jüngeren Sintflut.

„studi-RAL-verde an speichen-08/15-kracher: Wassereinbruch in den Transkanülen des interstellaren Humidenanzuges. Beginn der doppelten uranischen Hautschrumpelung. Was tun?“
„speichen-08/15-kracher an studi-RAL-verde: Segmentelles Trockenintervall vorbereiten! Hochfrequenz-Museum mit Schwingungswärmemodulatoren gesichtet!“


Auf Commander speichen-08/15-krachers Prognosen darf man hoffen. Noch vor den Toren Gmünds verebben die Regentropfen fast ganz und mit dem pankratium erwartet mich ein Haus des Staunens. Staunen? – über was? – Es sind die weitreichenden Welten der Schwingungen und Töne, die hier veranschaulicht werden. Auf der Green Devil stieß diese Exkursion auf besonders großes Interesse, sind doch Wellen und Schwingungen eine All-tägliche Erscheinung in der Galaxienwelt. Das Museum ist nur mit Führung möglich und es besteht die Pflicht zum Mitmachen. „Schon wieder Wasser!“ klage ich der Museumsführerin entgegen, als sich eine riesige Schale voll Wasser vor meinen Augen auftut. Ich erhalte ein paar Mitleidsbekundungen, da man meine Lage als geträufelter Pedaleur erkannt hatte – muss aber doch diesem Wasser kniefällig huldigen.

Und immer mehr Wasser noch. Das Wasser beginnt hier zu springen und zu hüpfen, wenn man den Trog in den Resonanzzustand reibt, dann poltern aus scheinbar undichten Kupferrohren musische Wassertropfen auf Bleche und Töpfe, die man drunter halten kann und ergeben Rhythmen und Melodien – wie man will – meditativ oder mit swing. Instant water composing. Das Wunder nimmt viele Formen an, ein Quallenmobile erfordert Geschick, einer erneuten Regenschauer auszuweichen, eine Glasharfe auf schwingenden Stelen nimmt seine Wellenbewegungen auf, Brummtöne der Besucher erzeugen seltsame Resonanzmuster, die überraschende Ähnlichkeiten mit Schildkrötenpanzern annehmen können. Natürlich dürfen hier nicht grüne Frösche (auch rote) fehlen, die man anspritzen kann und unterschiedliche Töne zurückquaken – eine Froschsinfonie in leuchtender Dunkelheit. Als ich hiervon auf der Green Devil erzählte, war die Begeisterung nochmal euphorischer, sind das doch deutliche Hinweise auf eine Ahnenverbindung zwischen Karantanien und der Galaxie der Siebentausend Grünen Froschlöcher.

Trotzdem geht das Staunen noch weiter, etwa bei Obertongesang, dem gemeinsamen Musizieren von musikalisch völlig Unbegabten, die sich alsbald im gemeinsamen Rhythmusklang wiederfinden oder dann als technischer Höhepunkt im rosengeschmückten Klanggarten, wo eine Schwingungsinstallation von großen Pendelkugeln die Beziehung zwischen Chaos und Ordnung demonstriert – minutiös von Mathematikern berechnet. Ich hatte in der Wartezeit zur Museumsführung die Burganlage besucht, die ihren Charme als Ruine mit einem zerbrochenen Krug prägt oder einem Tisch, aus dem Gras und Blumen wachsen. Gmünd ist aber nicht nur durch das pankratium ein Ort des Staunens, sondern auch durch sein Ansammlung von Galerien und der Kunst im öffentlichen Raum. In den Cafés treffen sich Künstler wie Lebenskünstler, die Touristen sollen das Geld bringen.

Der Hauch an Sonne endet bereits am Ausgangstor von Gmünd, wo die Stühle größer sind als die Menschen dort. Noch trocken bis zum Fallbach-Wasserfall in Brandstatt, beginnt dort namentlich fordernd mit dem Eintritt ins Tal des stürzenden Wassers die erneute Flut von oben. Peter Rosegger dichtete hier z. B. „Hoch oben springt er aus dem Rinnsal der Zinne etwa 50 Meter in einer geschlossen weißen Mass nieder, schwer und dick, als ob Schnee herabflute ...“ Nicht jeder Dichter ist sich der Bedeutung seiner Worte bewusst – vor allem in der Wirkung auf die Cabrio-Fahrer auf zwei Rädern. Noch berate ich mit der Dame des Abenteuerparks, der sich beim Wasserfall befindet, welche Gasthäuser wie gut noch zu erreichen sind. Es soll die schon in der Vorbereitung als beliebt und empfehlenswert ausgesuchte Gmünder Hütte werden. Nur noch ein Stündchen. Ein Stündchen – aber welches! Aufgeweicht erreiche ich schon die Mautstation – ich kokettiere mit dem Mautwart: „Eigentlich müsste ich noch bezahlt werden, wenn ich mit Rad bei dem Sauwetter daher fahre!“ Er hat Schwierigkeiten, mir nicht zustimmen zu wollen, rückt aber dennoch keine Goldtaler raus. Immerhin ist es ohne Motor kostenlos – das wäre bei Sonne aber auch so. Dann saugt und trieft es, die Steigung dazu prominent, ich falle in eine meditative Apathie. Dass es in Karantanien viel Wasser geben soll, war mir bekannt – doch dachte ich mehr an Seen, Flüsse und Wasserfälle – nicht an Sintflut, die zweite – oder war es schon die dritte?

„studi-RAL-verde an speichen-08/15-kracher: Wassereinbruch in den Transkanülen des interstellaren Humidenanzuges. Beginn der dreifachen uranischen Hautschrumpelung. Was tun?“
„speichen-08/15-kracher an studi-RAL-verde: Durchhalten! Bipolare Ablaufritze in der Hautfalte öffnen!“


Es versteht sich von selbst, dass mein Commander die beschränkte Bankomatenlizenz geringfügig aufweichte – im wahrsten Sinne des Wortes. Alpenvereinsmitglieder bekommen Rabattpreise in der Gmünder Hütte – Aliens müssen mehr blechen. Es bleibt aber alles im Rahmen, wenn auch die sehr beengte Etagendusche keine Luxusgefühle frei setzt. Für die feucht-satten Überhäute gibt es einen Trockenraum, der für mich als einziger Gast angeworfen wird. Nur ein paar örtliche Gäste nehmen ihren Umtrunk, verschwinden aber zur Nachtruhe hinunter ins Tal. Die Frischegarantie der Speisekarte ist nicht so ganz überzeugend – der Schweinebraten mehr Trockenfleisch. Man spürt, man müht sich, man spürt aber auch eine Ärmlichkeit.

Am nächsten Morgen erfahre ich etwas mehr von der Hüttenfrau, während der Mann den Sohn in die Schule fährt. Busse fahren keine, auch kein Schulbus. Gäste sind, so die Hüttenfrau, zu dieser Zeit immer wenige, es läge nicht am Wetter – besser sei es nur zur Hochsaison später im Sommer. Die Hüttenwirtschaft sei ein schweres Geschäft, die Jugend, so klagt sie, sei nicht mehr bereit zu arbeiten. 1300-1400 Euro soll ein Arbeitsloser fürs Nichtstun in Österreich erhalten, so behauptet sie. (Später sagt man mir an anderer Stelle, das würde nicht stimmen, es sei deutlich weniger.) Eigentlich sollte sie sich glücklich schätzen. Solch ausgestattete Müßiggänger haben Geld für einen Gasthof-Besuch. Die besten Kunden sind die Tunichtse. Ich frage, ob sie denn überlege, die Preise zu erhöhen. Nein, das dürfe man nicht, man verkraule sich die letzten Gäste.

Mi 17.6. Gmünder Hütte – via Malta-Hochalmstraße – Kölnbreinsperre (1933m, Besichtigung, ca. 1,5 h) – Pflüglhof – Gößfälle (Wanderung, ca. 1 h) – Brandstatt – Mentebauer Hütte (1124 m) – Brandstatt – Malta
W: 7-19 °C, morgens sonnig, alsbald wolkig, teils Sturmböen, abends ruhiger & milder
Ü: C Maltatal 16,80 €
AE (dito): Schweinemedaillons, Spätzle, Gemüse, Rotwein, Cafe ? € (***)
ME (GH Kölnbreinstüberl): Kesselgulasch, Knödel, Apfelsaft 10 € (**)
B: Kölnbreintalsperre 6,50 €
50 km | 11,7 km/h | 4:19 h | 1135 Hm

Die perfekte Illusion wartet am Morgen: Ein klarer Blick unter blauem Himmel, gespiegelt von blauen Lippenblütlern am Straßenrand. Die Illusion dauert bis zum nächsten Wasser, unmittelbar bei der Straße, wo bei Einspurverkehr wegen enger Kehren und Tunnels der Autofahrer warten muss. Geht man die paar Schritte von der Straße zum Fuß des Hinteren Maralmfall hinauf, eröffnen sich noch die unteren Fallstufen zusätzlich, wobei der ganze Strahl wie eine Art Helix in sich verdreht ist. Die Ruhebank ist zugleich Autofahrerwartebank, denn die Wartezeit wird hier in großen Digitalziffern heruntergezählt. Der Automobilist darf seine Kabine für ein paar Minuten vergessen um zu träumen – Appell zur Pflichtentschleunigung.

Den Winden habe ich bald nur noch wenig entgegen zu setzen und schleppe mich unter dem nun düsteren Himmel am gleichwohl grauschwarzen Fels vorbei. Dieser glänzt gar mehr als die Wolkendecke, denn Wasser benetzt fast jede Stelle. Drüben dort, oder neben mir – das Wasser fällt hier überall – es stürzt und schleicht und schwebt und sprüht und tropft und wallt – und auch steht es, wenn der Mensch eine Barriere errichtet. Ein erster Stausee, dem bald die 200 m hohe Staumauer folgt, eine gebogene Wand, die den Himmel am herunterfallen zu hindern scheint. Symbiotisch eingebunden ins Felsgrau ist der Berghotelzylinder, ein avantgardistischer Wohlfühltempel in rauer Höhenluft. Weit oben das blaue Meer zwischen der kargen Felswelt, eine galaktische, fast anorganische Urlandschaft, dem der Mensch hier ein Stück der Naturkräfte abgerungen hat.

Die Kölnbreinsperre ist als höchste Staumauer Österreichs die Krönung eines ganzen Systems der Maltakraftwerke. Das Wasser kommt nicht nur aus den umliegenden Bergen, sondern wird zusätzlich aus Lieser und Möll heraufgepumpt, um eine optimale Steuerung eines Jahresspeichers zu gewährleisten. Nicht zuletzt gab das umliegende Gestein den Ausschlag, die Sperre so weit oben im Tal zu bauen, wo nur wenig Wasser zur Verfügung steht. Der Berg wurde zum Baustofflieferanten. Ist der Speicher voll, könnte er 1,4 Mrd. Menschen eine Badewanne füllen. Wohl gibt es nicht mal soviel Badewannen erdenweit?

Die sachkundige Staumauerführung ist eine schöne Sozialstudie. Als einziger Einzelgast schließe ich mich einer Rentnergruppe an, die den Berg mit Bus erklommen hat. Der Staumauerführer, ein kerniger wie braungebrannter Bergjunge, schockiert die Rentner harsch mit den Naturrauheiten: Es wird kalt, windig, anstrengend und es gibt kein Klo auf der Strecke durch die Staumauer. Wer möchte lieber nicht mitlaufen? – Niemand reckt den Arm, keiner möchte das Highlight im Inklusivpreis der Busreise auslassen. Der Gang über die Staumauer ist schon eine polare Herausforderung, bei der man keine leichten Hüte aufhaben sollte. Nun legt der Staumauerführer Bergmarschtempo vor. „Wir wollen nicht trödeln!“ piekst er die Rentnertruppe. „Junger Mann, warten Sie mal, bis Sie so alt sind wie wir“, keifen ein paar Frauen zurück. Ich komme mit dem Staumauerführer gut ins Gespräch, er erzählt mir über die slawischen Wurzeln Kärntens, den Alpen-Adria-Gedanken eines Kaiser Franz Josef und zeigt klare Kante gegen die Rechtspopulisten in Kärnten. Tradition, Bergnatur und auch Bergsport (er outet sich auch als MTBer) sind ihm wichtig für ein erfülltes Leben in Bescheidenheit – „Was braucht man mehr als das hier!“ und weist dabei in die Bergwelt über den Stausee.

Als wir einen kleinen Sammelraum im Fels erreichten, wimmerten mehrere Damen: „Gibt es eine Toilette hier?“ Eine ideale Möglichkeit für den Guide, den ungeliebten langen Tross an verweichlichten Bustouristen zu verkleinern. Energisch bis krantelig verweist er auf bereits Gesagtes – „Kein Klo hier!“ und fordert die Blasenschwachen und Treppengebrechlichen zum Rückzug über die Staumauer auf. Der Erfolg bleibt nicht aus – Zweidrittel erkennen, dass die Bergwelt nicht ihre Sache ist. Hätte man doch gleich die Kaffeefahrt in den Kurpark gebucht! Es verbleiben die Hundertprozentigen – die, die der Bergbursche noch fürs Trinkgeld braucht – weiß er doch, mit einem Alien kann man reden, aber keine Geschäft machen.

Man mag nicht glauben, was sich Erdenkinder an Ingenieurkünsten angeeignet haben, um ihren Wohlstand zu mehren. Die Mauer wird an 2500 Messstellen überwacht, jede Mauerabweichung wird registriert. Es gibt Messlote, die die Schwerkraft außer Kraft setzen und auf dem Kopf stehen (Schwimmlote) und Entfeuchter, die die Messgeräte wiederum überwachen. Das Labyrinth aus Tunnelgängen und Mauerspalten verlässt man wieder mitten in der Mauer über eine schwindelerregende Stahltreppe. Der Wind sagt, er möchte Sturm genannt werden. Ich jammere dem Staudammführer mein Leid über das Wetter, worauf er lakonisch meint: „Der Wind vertreibt die Wolken. Wie das Wetter auch ist, man kann es den Leuten nicht recht. In den Bergen ist es mal so oder mal so.“ Nun, der Wind, das wurde klar, brachte immer neue Wolken ran – eher verhinderte er die Trocknung der Luft, das Verdampfen der Wolken in der hoch stehenden Sommersonne. Der Lokalpatriot irrte hier, das Tiefdruckgebiet der Tage war weit größer als Österreich, größer als das größte Karantanien, dass es jemals gegeben hatte.

Neben dem Sport- und Wellnesshotel, wo sich im Unterbau eine frei zugängliche Ausstellung zu Kristallen und der Wasserkraft befindet, ist um eine Kurve rum und nur ein paar Wurfweiten entfernt, via Piste noch ein Gasthof zu erreichen, mit zahlreichen Jagdtrophäen innen geschmückt. Ein herzhafter Kesselgulasch sorgt auch für nötige Erwärmung von innen, während draußen Forellen scheinbar zwischen den Bergen dahinsegeln. Ich erläutere meine Pläne noch bis zur Osnabrücker Hütte vorzustoßen. Die Hüttenfrau ist skeptisch, da der Weg teils noch von Schmelzwasser überspült sei. Mein Versuch scheitert kläglich noch in Rufweite des Hüttengasthofes, denn der Sturm hier ist eine Mauer – nicht mal 1000 Samurai-Schwerter könnten einem den Weg frei machen.

Eine reizvolle Dreifaltigkeit des Wassers sind die Gößfälle, etwas abseits gelegen von der Malta-Hochalmstraße. Man kann sie gleichermaßen von oben oder unten begehen, wobei von oben bedeutet, zuvor noch eine Rampe auf der Straße zur Gießener Hütte zu fahren. Die Gößfälle, der untere auch für Gehbehinderte gut erreichbar, stehen im Zeichen Griechischer Philosophie, derweil unten Thales von Milet zitiert wird: „Das Prinzip aller Dinge ist das Wasser – aus Wasser ist alles und ins Wasser kehr alles zurück.“ Milet war wohl ein guter Wetterprophet, der aus dem 6. Jahrhundert vor Christus auf den Sommeranfang 2015 vorausblicken konnte! Erstaunlich, die Erdenmenschen.

Ich ändere weitere Planmodule, ohne dass mit Commander speichen-08/15-kracher abzusprechen. Meine Recherchen ergeben, dass die Gießener Hütte aktuell nicht bewirtet ist, woraus folgt, dass das gesamte Tal ohne jede Versorgungs- und Unterkunftsmöglichkeit verbleibt. Ich mache also eine exkursive, halbherzige Tour ins Tal hinein, soweit wie die Pedalen tragen, um noch rechtzeitig zurück zur Speisezeit den Camping in Malta zu erreichen, den ich tags zuvor schon als hübsch gelegen wahrgenommen hatte. Nach anfänglich steilen Rampen gleitet man eher flach durch ein Hochweide- und Bergwaldtal bis zur Mentebauer Hütte, einem kleinen Weiler, der ausgestorben, aber doch nicht ganz unbewohnt wirkt. Wohl ein Stützpunkt für einen Almbauer, der mancher Tage dort verbringt, aber nicht immer. Wie sich das Tal noch entwickeln wird, wenn es gegen Ende gar über 2000 m hinaufgeht, lässt sich nicht vorausschauen. Hier liegt der Reiz in den Variationen von Grüntönen, die sich in dem aufgelockerten Bergwald finden, deren Wiesen immer wieder Kühe bevölkern. Auch hier Wasserfälle – aber zur anderen Talseite recht weit dem Auge schon fast entzogen, da die Tannen am Weg sich vorschieben.

Der Camping entpuppt sich als Luxusoase für Nichtsesshafte, ein Sanitärraum wie eine avantgardistische Kathedrale, jede Körpergröße wird bei den Waschbecken berücksichtigt, alle Licht- und Wasserfunktionen werden sensorisch ausgetüftelt gesteuert – nicht immer zum Vorteil des Gastes. Die Bambini finden Bärchenmotive, damit das Zähneputzen mehr Spaß macht. Mit den Caravan-Camping-Nachbarn aus dem Saarland komme ich nicht ins Gespräch, nicht mal ein Gruß, weil die Dame ihrem Hund in recht einsilbigen Monologen versucht klarzumachen, dass ich kein Alien sei, den man in den Weltraum zurückbeißen muss, sondern ein schlichter menschlicher Radler. Wohl irrte sie, der Hund wusste es besser und bellte zähnefletschend weiter. Immerhin mundete das Essen im Restaurant ganz gut, wenngleich auch hier der Kärntner vermeidet, sich zu überarbeiten. Er ist halt gemütlich.

Musik: Der Klagenfurter Saxophonist und Flötist Wolfgang Puschnig verarbeitet immer wieder die Wurzeln österreichischer, slowenischer und weiterer alpiner Volksmusik in anderen Musikkontexten und schafft damit transversale Klangwelten zwischen Tradition und Moderne, auch mit einem Stück Alpenkultur (empfehlenswert seine Alpine Aspects, von denen aber keine Samples frei verfügbar sind): Teaser aus: Wolfgang Puschnig „For The Love Of It“, col legno (7:01 min.)

Bildergalerie Kap. I (145 Bilder):



Fortsetzung folgt