Re: 30 ° und 10 % – Hitze, Hügel und Tour de France

von: Holger

Re: 30 ° und 10 % – Hitze, Hügel und Tour de France - 09.02.16 20:35

===================================================
Zweiter Teil: Savoyen – vom Genfer See über die großen Pässe
===================================================


--------------------------------------------------
Donnerstag, 9. Juli: Amphion-les-Bains – St.-Jean-de-Sixt
  • Kilometer: 95,7
  • Sattelstunden: 6:21
  • Höhenmeter: 1.318
  • Ausgaben für Getränke: 11,16 EUR

Start 7:15, eine halbe Stunde später war ich in Thonon. Baguette gekauft und gegessen, mit Blick auf den Genfer See. Zum Glück war es noch nicht ganz so warm. Leider war ich ein bisschen zu früh für den Fanshop des FC Evian Thonon Gaillard – ich hätte mir zu gerne so ein rosa Trikot gekauft. Es folgte der erste Pass, gleich in Thonon begann die Steigung, zum Glück nicht allzu steil. Und immer wieder gab es schöne Blicke zurück über den Genfer See auf den Jura.


Der Jura und der Genfer See.

Oben auf dem Col de Cou angekommen ließ erstmal die Schwerkraft wirken. Das exorbitante Systemgewicht muss ja auch mal Vorteile haben. Und so rollte ich durch das sommerliche Chablais – hier sind die Alpen noch Mittelgebirge.


Sommerliches Chablais.

In Viuz-en-Sallaz traf ich eine Gruppe Rennradler. Nichts besonderes, okay, aber ich sah sie im Laufe des Tages so häufig, dass ich mich wunderte, wieso die nicht schneller vorwärtskommen als ein übergewichtiger Reiseradfahrer auf einem Mountainbike mit über 20 kg Gepäck. In Saint-Jeoire kam ich ins Tal des Risse, ein Nebenfluss des Giffre, ein Nebenfluss der Arve, ein Nebenfluss der Rhône. Und auf einmal war es vorbei mit Mittelgebirge: Vor mir tauchte der höchste Berg der Alpen auf.


Bushaltestelle und Mont-Blanc.

Es wurde nun immer heißer. Bis Bonneville kämpfte ich mich gegen Hitze und Wind, dort gab es erstmal eine Mittagspause. Mit leckerer Minzmousse mit Schokoflözen. Großartig. Dann machte ich mich auf in die Bornes-Alpen, zu den nächsten Pässen. Zum Glück ging es nicht so steil bergauf, durch das tief eingeschnittene Tal der Borne bis Entremont, danach wurde das Tal zur Schlucht, und dann ging es für ein paar Kilometer doch etwas steiler nach oben.

Für Fußball findet sich überall ein Platz.

Um 17 Uhr war ich dann in St.-Jean-de-Sixt, meinem Etappenziel für heute. In einer Bar schaute ich das Ende der Tour-de-France-Etappe, die leider das Ende der Tour de France für Tony Martin war. Dann zum Campingplatz, der lag etwas außerhalb – und oberhalb! Steileres als dieses Sträßchen gab es auf der gesamten Reise nicht mehr. Zum Glück waren es nur ein paar hundert Meter. Zu meinem Geburtstagsabendessen lief ich dann aber lieber zu Fuß ins Dorf. Es gab mit Reblochon überbackene Kartoffeln. Lecker – und heiß!

--------------------------------------------------

Freitag, 10. Juli: St.-Jean-de-Sixt– Beaufort
  • Kilometer: 61,4
  • Sattelstunden: 4:52
  • Höhenmeter: 1.286
  • Ausgaben für Getränke: 4,81 EUR

Der Zwei-Pässe-Tag. Aus den Bornes-Alpen ins Beaufortain. Durch die Heimat des Reblochon. Aber erstmal stürzte ich mich vom Campingplatz hinunter nach St.-Jean-de-Sixt, zum Croissant-und-Pain-au-Chocolat-Frühstück. Dann los, Pass eins von zwei wartet, der Col des Aravis.


Auf dem Weg zum Col des Aravis.


Zweizack.


Tierische Überzahl.


Mont-Blanc-Blick.

Und es ging überraschend einfach bergauf. Wenn man seinen Rhythmus gefunden hat, passt es. Allzu steil war er auch nicht, der Pass. Auf den Kilometersteinen stand jeweils die Höhe und die Durchschnittssteigung des kommenden Kilometers – selten waren das 8 %. Oben gab es mal wieder einen Mont-Blanc-Blick – und Reblochon. Hier schlägt sozusagen das Reblochon-Herz. Mein Lieblingskäse. Zudem eine Art subversiver Käse: „Reblocher“ ist savoyisch und heißt „zweimal melken“. Der Reblochon wird (okay, wurde früher) aus der heimlich, an der Melkkontrolle vorbei nachgemolkenen Milch fabriziert.

Der Col des Aravis markierte zudem meine erste Départementsgrenze, von Savoie (73) kam ich nun ins Département Haute Savoie (74). Nun vernichtete ich 600 der gewonnenen Höhenmeter und rauschte nach Flumet. Der Ort ist eine Art Käsegrenze, von dort geht es ins Beaufortain – der Beaufort ist allerdings ein Käse, den ich nicht so mag. Das hinderte mich aber nicht, über die Brücke hinein in die Steigung zu fahren.


Flumet.

Viele Serpentinen dicht übereinander, und schon bald hatte ich 200 Höhenmeter wieder gewonnen. Mittagspause machte ich in Notre-Dame-de-Bellecombe – natürlich mit Reblochon auf dem Baguette. Das war genug Stärkung für die restlichen 800 Höhenmeter hinauf auf den Col des Saisies. Langsam, aber stetig näherte ich mich den 2.000 Metern.


Dunkle Tannen, hohe Berge im Sonnenschein.

Heiß war es mal wieder, aber daran hatte ich mich schon fast gewöhnt. Die Landschaft war schön, der Mittelgebirgscharakter verschwand, schließlich ist der Col des Saisies die Grenze zwischen den Savoyer Voralpen und den Hochalpen. Die Passhöhe liegt fast im Skiort Les Saisies – und war dann doch nicht so idyllisch. Riesiger Parkplatz, Skiliftanlagen und ein großer Haufen Chalets.


Der zweite Pass des Tages, Col des Saisies.


Betonierter Campingplatz.


Ziemlich viele Chalets.

Auf der Abfahrt in Richtung Beaufort gab es dann wieder Mont-Blanc-Blicke satt. Nur eine kleine Auswahl folgt hier. Ich rollte fast bis Beaufort, nur die letzten Kilometer war es flach, mit etwas Gegenwind.


Der höchste Berg der Alpen, mit dem Tele.


Der höchste Berg der Alpen, mit Tal.

Der Campingplatz war etwas vor dem Ort, ich ließ ihn erstmal links liegen, um einzukaufen. Dann baute ich das Zelt dort auf, wo ich bald Schatten erwartete – und tatsächlich, die Sonne verschwand bald hinter Bäumen und Bergen. So war der Abendspaziergang nach Beaufort ohne allzuviel Schweiß möglich.


Ex-Polizei in Beaufort.

--------------------------------------------------

Samstag, 11. Juli: Beaufort – Bourg-Saint-Maurice
  • Kilometer: 44,8
  • Sattelstunden: 3:51
  • Höhenmeter: 1.228
  • Ausgaben für Getränke: 13,64 EUR

Die Pässe wurden höher, die Etappen kürzer. Heute waren es keine 50 km, aber ich war fast auf 2.000 Höhenmetern. Ein paar Kilometer konnte ich mich einrollen, dann machte ich die Frühstückspause in Beaufort. Schon da merkte ich, dass Wochenende ist: Sehr, sehr viele Rennradfahrer machten sich auf den Weg zum Cormet de Roselend. Leider auch sehr viele Motorradfahrer, doch die kamen erst später.


Rückblick - ein paar Meter sind schon geschafft.

Bis zum Col du Meraillet auf 1.605 m ging es fast permanent mit ca. 8 % bergauf, also steiler als die Pässe bisher. Die Straße verläuft im Wald, daher war es noch recht schattig. In langen Serpentinen erreichte ich den Col du Meraillet, ein paar Pausen musste ich machen, vor allem, um Anti-Brumm zu versprühen. Es brummte wirklich nervend um mich herum, die Fliegen haben mich entdeckt. Ab und an nahm mir ein schnellerer Rennradfahrer welche ab, doch Nachschub brummte sofort heran. Anti-Brumm half nur bedingt. Und gar nicht gegen das noch lautere und noch nervendere Brummen der Motorräder. Die mich teilweise sehr knapp überholten.

Nach dem Col du Meraillet änderte sich die Landschaft radikal. Das lag zum einen am Stausee, an dem ich nun entlangfuhr. Und zum anderen daran, dass ich nun über der Waldgrenze war. Es wurde alpin, fast sogar hochalpin. Und ich wusste, wofür ich mich gequält hatte. Der restliche Anstieg bis zur Passhöhe war zwar immer noch anstrengend, aber dafür in grandioser Landschaft. Da verschmerzte ich sogar die paar Höhenmeter, die ich entlang des Sees wieder verlor. Fast hätten mich sogar die Motorradfahrer nicht mehr gestört. Aber nur fast.


Kapelle und Stausee.


Höhenunterschied.


Fast 2.000 m.

Ich hatte mir viel Zeit gelassen und startete erst gegen 14 Uhr von der Passhöhe. Und mit der Quälerei war es auch vorbei, vor mir lagen 20 km Abfahrt. Durch hochalpine Landschaft, nicht ganz so spektakulär wie auf der Nordseite (oder eher Westseite), aber trotzdem sehr schön und recht verlassen. Kühe gab es viele. Und einen schönen Blick auf den vergletscherten Mont Pourri.


Milchkannen und …


… ihre Quelle

Erst kurz vor Bourg-Saint-Maurice musste ich wieder in die Pedale treten. Schon um 15 Uhr war ich am Campingplatz. Im Intermarché versorgte ich mich ein wenig, hauptsächlich mit Getränken. Der Campingplatz war erstaunlich leer, auf der sehr großen Zeltwiese standen gerade mal drei Zelte. Und es gab einen Fernsehraum, den nutzte ich, um Tour de France zu schauen. Die war in der Bretagne, ganz am anderen Ende Frankreichs. Aber das Wetter war auch dort schön und ein Franzose gewann.


In Bourg-Saint-Maurice.

Am Abend machte ich mich zu Fuß auf nach Bourg-Saint-Maurice, um mir ein Restaurant zu suchen. Das war gar nicht so einfach, die meisten Open-Air-Plätze waren belegt – eine Art Straßenfest sorgte für viel Verkehr in der Fußgängerzone. Es spielte eine deutsche Band! Ich fand dann eine Pizzeria, die Pizza war für französische Verhältnisse sogar ziemlich gut.

--------------------------------------------------

Sonntag, 12. Juli: Bourg-Saint-Maurice – Val d‘Isère
  • Kilometer: 35,0
  • Sattelstunden: 3:15
  • Höhenmeter: 1.026
  • Ausgaben für Getränke: 7,94 EUR

Die Etappe war noch kürzer als die gestrige. Aber ich plante sie ohnehin als halben Ruhetag. Den Col de l’Iseran wollte ich nicht an einem Wochenende fahren und mit den nervenden Motorrädern teilen. Also 35 km bei moderater bis starker Steigung. Leider recht wenige Serpentinen, stattdessen lange entlang des Hangs im Tal der jungen Isère nach oben. Bei Sainte-Foy-Tarentaise knickt die Straße nach Süden ab, hier begann die richtige Steigung. Relativ langweilig, bis auf schöne Blicke auf die andere Talseite. Motorräder waren natürlich wieder eine ganze Menge unterwegs. Irgendwann tauchte dann das ewige Eis auf, siehe oben, aber ich musste auf die Straße schauen. Der Verkehr nahm deutlich zu und ich habe noch nie so viele Motorradfahrer angebrüllt wie an diesem Tag. Serpentinenarme Strecke, die heizten mit 250 Sachen in einem Abstand von 20 cm an mir vorbei. Grr.


Villaroger – auf der anderen Seite.


Ewiges Eis - gesehen von ca. 30 Grad.

Die Staumauer des Lac du Chevril markiert das Ende des Anstiegs für heute. Es ist eine imposante Mauer, 180 m hoch. Das alte Dorf Tignes verschwand im See, das neue ist im Sommer eine Geisterstadt – im Winter nicht. Ich fuhr über die Staumauer und zurück, schaute ein wenig aufs Wasser und auf die Parkplätze und fuhr dann weiter.


Party.


Genügend Parkplätze.


Le Villaret, idyllisches Dörfchen …


… am Fuße von viel Beton, …


… dahinter viel Wasser.


Fast versteckt: Tignes, bewohnt im Winter.

Nach Val d’Isère sind es nun kaum noch Höhenmeter, ich war recht schnell da. Und ich fand ein Zimmer im Hotel Avancher, sogar mit Platz im Restaurant für das Abendessen. Ein Waschsalon war in der Nähe, sehr schön, da schmiss ich mal alles in die Maschine, was ich bisher anhatte. Und dann lief ich durch das Dorf. Okay, Dorf trifft es nicht mehr so ganz. Es sieht hier nicht ganz so schlimm aus wie in vielen anderen französischen Skistationen, man achtete ein wenig auf alpinen Baustil. Das Ergebnis sind zehngeschossige Chalets, auch nicht viel besser als die Hochhäuser von Tignes. Und man bemüht sich um Sommertourismus. Aber so richtig klappt das nicht, viele Häuser sehen aus wie die Hotels an der Playa de Palma im Winter. Geschlossen. Dennoch, Downhiller waren einige da und ließen sich mit Sesselliften nach oben bringen, außerdem fand irgend so ein Laufevent statt, bei dem die Läufer aus dem Wald heraus ins Dorf herunterliefen.


Val d’Isère: Vorhänge zu.


Weihnachtsbäume im Juli.


Schwebende Sessel und Kreisverkerh.


Angeseilt.

Ich ging nach dem kurzen Dorfrundgang zurück ins Hotel und las elektronische Bücher. Und dann gab’s leckeres Abendessen, wieder was mit Reblochon. Ich ging früh ins Bett, morgen warteten immer noch fast 1.000 Höhenmeter und eine Fahrt im Tal bis zum Fuße des Col du Télégraphe, vermutlich gegen den Wind.

--------------------------------------------------

Montag, 13. Juli: Val d’Isère – St.-Michel-en-Maurienne
  • Kilometer: 93,6
  • Sattelstunden: 5:40
  • Höhenmeter: 910
  • Ausgaben für Getränke: 2,33 EUR

Frühstück im Hotel, lecker. Das muss man denen schon lassen, das klappt in den Bergen. Wieder das Rad bepacken und los ging es. Auf den höchsten Pass der Alpen. Okay, den höchsten Straßenpass. Und was ich gleich merke: Auf 1.800 m Höhe ist es morgens noch frisch. Aber nicht frisch genug für lange Ärmel, ins Schwitzen komme ich sofort, es geht bis zur Passhöhe nur bergauf. Zunächst entlang der ganz jungen Isère, die ich am Schluss der Reise in Grenoble – dann etwas breiter – wiedersehen sollte.


In die Sonne.


Winternarben.


Die ganz junge Isère.

Ich fuhr übrigens schon seit gestern im „Parc national de la Vanoise“, dem ersten Nationalpark Frankreichs. Hm, so richtig nach Nationalpark sah es aber nicht aus. Die Narben des Winters sind deutlich zu sehen. Wie kann das sein, es wird ein Nationalpark zum Schutz der unberührten Hochgebirgswelt eingerichtet – und darin sind riesige Skigebiete? Val d’Isère und Tignes gehören zum Verbund „Paradiski“ mit 425 km Pisten. Nun, es gab damals zwei konkurrierende Ideen. Zum einen die Nationalparks mit dem Naturschutz, zum anderen der „Plan Neige“, mit dem die Regierung Giscard allen Franzosen das Skifahren ermöglichen wollte. Und sowas wird in Frankreich zentral geplant. Von Paris. Les Arcs, La Plagne, Tignes oder Isola 2000 sind nur einige der Skistationen, die auf diesen Plan zurückgehen. Das hört sich aus heutiger Sicht nicht gerade fortschrittlich an – aber nicht alle Ideen dahinter waren schlecht. Auch die Architektur – Nordweststadt auf 2.000 m hörte ich mal als Beschreibung – war auf der Höhe der Zeit, teilweise entwarfen Stararchitekten die Retortenorte.


Es sind schon ein paar Höhenmeter geschafft.


Für eine andere Sportart.


Auch für eine andere Sportart.

Ich schwiff ab. Zurück auf die Passstraße, auf der ich mich von Kilometerstein zu Kilometerstein vorarbeitete – so richtig steil war es nicht, selten mehr als 8 % und es lief ganz gut. Zudem waren angenehm wenig Motorräder unterwegs. Überholt wurde ich von Rennrädern – und E-Bikes. Letztere in recht hohem Tempo und was mir auffiel: Sie grüßten nicht zurück. Richtige Radfahrer grüßten immer, selbst Autofahrer winkten mir zu und ermutigten mich. Ach ja, auch ein Skilangläufer überholte mich …


Blick zurück.


Blick nach vorne.

Die letzten Meter gingen dann ziemlich einfach, die Passhöhe war zu sehen und ich war gut in Form. Im Winter kommt man einfacher hoch, Seilbahnen und Skilifte prägen die Landschaft. Im Winter ist die Straße Skigebiet.


Die letzten Meter.


Auf dem höchsten Straßenpass der Alpen.

Aber jetzt war Sommer und ich hatte es geschafft, 2.764 m, der höchste Straßenpass der Alpen – die 2.770 m auf dem Schild sind nicht ganz korrekt. Aber egal, ein Passfoto musste natürlich sein, da nahm ich auch die Wartezeit in Kauf, denn ich war nicht der einzige, der sein Rad dort fotografieren wollte. Und – auch darauf habe ich mich lange gefreut – Schnee! Mitten im Juli.


Jetzt einen Meter Schnee.


14 km bergab rollen!

Und mit der Passhöhe änderte sich die Landschaft schlagartig. Natürlich war es immer noch Hochgebirge – aber auf einmal ohne Skilifte und Seilbahnen. Nun war ich in der Kernzone des Nationalparks. Das ist also der Kompromiss zwischen Nationalparks und Plan Neige: In den Kernzonen der Nationalparks herrscht strikter Naturschutz, in den Randzonen – nun ja, nicht so strikter.


Die Momente, für die sich die Qualen lohnen.


Straße im Fels.


Bonneval-sur-Arc.


Bonneval und das Arc-Tal und ein Gletscher und ein paar Berge.

Bis Bonneval-sur-Arc trat ich kein einziges Mal in die Pedale. Und ich dachte mir, zum Glück musste ich hier nicht hochfahren. Abfahrten kommen mir immer steiler vor als Auffahrten. Aber in diesem Fall stimmte das sogar, auf den Kilometersteinen standen häufig Steigungen von 10 oder 11 %. Bonneval liegt nicht mehr in der Kernzone des Nationalparks, dennoch, der Ort ist völlig anders als Val d’Isère auf der anderen Seite des Passes. Sanft soll der Tourismus hier sein, und so wirkt es auch. Es ist im Winter bestimmt sehr schön hier. Im Sommer ist es das auf jeden Fall.




Wie befürchtet musste ich nun gegen den Wind fahren – das merkte ich vor allem in den flacheren Passagen. Ich machte kurze Pausen, eine vom Teufel beobachtet in Bessans, um ein bisschen was zu essen. Vor Lanslevillard überraschte mich der Zwischenpass Col de la Madeleine nicht mehr, ich wusste, dass er kommt. Ab Lanslevillard war es dann vorbei mit der Einsamkeit, hier zweigt die Straße über den Col du Mont Cenis nach Italien ab und der Verkehr war deutlich stärker.


Teufelswasser.


Auf 1.674 m Höhe.

Der Wind wurde immer stärker und ich immer langsamer – und müder. Ein Rennradfahrer merkte das und bot mir Windschatten an. Sehr nett, aber ich lehnte dankend ab, ich wollte ihn nicht aufhalten und mit seiner Marco-Pantani-Figur hätte er mir und meinem Schwerlaster auch nicht so viel geholfen. Vor Modane wurde das Tal dann enger und auf der gegenüberliegenden Talseite erschien das Fort Victor Emmanuel. An das ich mich überhaupt nicht erinnerte, obwohl ich doch vor einigen Jahren schon mal hier entlangfuhr. Und damals muss es auch schon dort gestanden haben. Eine wirklich beeindruckende Anlage!


Das Fort Victor Emmanuel.


Verkehrswege in Modane.

In Modane machte ich nochmal kurz Pause. Idyllisch ist anders. Wenn durch ein enges Tal eine wichtige Bahnlinie und eine Autobahn führen, dann ist nicht mehr viel Platz für den Rest. Auch dem Ort sah man seine industrielle Vergangenheit an. Ich fuhr bald weiter, gegen den Wind nach St.-Michel-en-Maurienne. Dort gab es einen Campingplatz direkt am Ortseingang, mit Hotel – sehr schön, da buchte ich gleich ein Frühstück. Was nicht so einfach war: Das Zelt aufbauen. Steinharter Boden, ich musste diverse Steine zusammensuchen, Häringe in den Boden zu hämmern war unmöglich. Ich legte mich früh ins Zelt, denn morgen stand eine der höhenmeterreichsten Etappen auf dem Plan, über den Col du Télégraphe und den Col du Galibier.

--------------------------------------------------

Dienstag, 14. Juli: St.-Michel-en-Maurienne – Briançon
  • Kilometer: 75,7
  • Sattelstunden: 5:53
  • Höhenmeter: 2.070
  • Ausgaben für Getränke: 18,66 EUR

Ab 7 Uhr sollte es das Frühstück geben im Hotel, aber irgendwie haben die verschlafen. Trotzdem saß ich einigermaßen früh, um 8 Uhr, auf dem Sattel. Viel einrollen war nicht, es ging gleich ordentlich bergauf. In weiten Serpentinen führte die Straße hinauf zum Col du Télégraphe, meistens im Wald, so dass sich nur selten schöne Blicke ins Tal boten. Unterwegs traf ich eine Kölnerin, die den Materialwagen für ihren rennradelnden Mann fuhr, der sich heute den Galibier vorgenommen hatte. Er war schneller oben als ich.


Na, zum Glück.


Zweikirchenblick.


Es geht bergauf.

Entlang der Straße standen immer wieder Mülltonnen, in die die bergwärts hetzenden Radler ihre Abfälle werfen konnten. Und dennoch lagen viel Energiegelaluminium am Straßenrand. Man muss nicht alles verstehen.


Für die umweltfreundliche Entsorgung ohne Stopp.


Okay, das haben nicht nur Radfahrer da reingeworfen.


Das Arc-Tal, wenig Platz neben Auto- und Eisenbahn.

Langsam, aber stetig radelnd erreichte ich die Passhöhe des Télégraphe. Mein Tacho zeigte eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 7,83 km an. Die sollte sich auf der Abfahrt nach Valloire etwas erhöhen.


Der Strohradler war vor mir auf dem Vorab-Pass.

Das ist das Blöde am Col du Galibier – man verliert etwa 150 der vorher mühsam gewonnenen Höhenmeter wieder. Valloire ist offensichtlich die Heimat eines Skiweltmeisters. Ich suchte einen Supermarkt, um mich mit genügend Kalorien für die folgenden 1.200 Höhenmeter einzudecken. Befürchtungen, ich könnte wegen des Nationalfeiertags keine Gelegenheit dazu bekommen, waren überflüssig – alle Geschäfte waren geöffnet.


Valloire.


Hier wohnt also ein Weltmeister.

Kurz hinter Valloire musste ich gleich wieder anhalten. Auf einer Wiese standen ein Affe, ein Känguruh mit Kind, ein Flieger, ein Pferd und vieles mehr – aus Stroh. Die „Géantes du Valloire“ – eine Attraktion, die vor allem viele Kinder begeisterte. Aber auch ein paar Reiseradler, von denen ich immer mehr sah, je weiter ich nach Süden kam.


Strohkunst zum ersten.


Strohkunst zum zweiten.

Nach vielen Fotos fuhr ich noch ein paar Kilometer weiter hoch und suchte mir ein schönes Plätzchen für meine Mittagspause. Das fand ich kurz hinter der Abzweigung nach Bonnenuit – so hieß das Kaff auch jetzt, mitten am Tag. Das war etwa auf der Hälfte der Strecke zwischen Valloire und dem Ausflugsrestaurant Plan Lachat. Etwa auf Höhe der Waldgrenze, großartige Landschaft.


Durchguck.




Der hat mich überholt.

Plan Lachat war das nächste Zwischenziel, ab dort wurde die Straße wieder interessanter – ich mag es nicht so, wenn es ohne Serpentinen einfach geradeaus geht. Gut, es geht schlimmer, immerhin war die Landschaft großartig – ich fürchte, ich wiederhole mich. Aber ab jetzt kamen Serpentinen, die Passstraße verließ das Tal und ich machte mich auf die letzten Kilometer zum Gipfel. Es wurde härter. Irgendwann kämpfte ich mich von Kilometerstein zu Kilometerstein und machte an jedem eine Pause. Schaute immer auf das Handy, um zu sehen, wieviele Höhenlinien ich jetzt geschafft hatte.


Schon über 2.000 m, aber noch lange nicht oben …


… aber bald.

Und auf einmal war das Handy weg. Das merkte ich beim Bergrestaurant am Tunneleingang. Großer Schreck. Zwei Kilometer weiter unten hatte ich es noch, also musste ich es vor einem Kilometer nicht zurück in die Tasche gesteckt haben. Ich lief runter – nichts. Ein belgisches Ehepaar sah meine Suche und bot mir Hilfe an. Netterweise fuhren sie mich noch einen Kilometer weiter runter – auch hier nichts. Dann zurück zum Bergrestaurant. Was tun? Ich merkte, wie erschreckend abhängig ich von dem Gerät war. Ich hatte ja kaum Telefonnummern im Kopf. Anrufen ging aber ohnehin nicht, nach Deutschland konnte ich aus dem Restaurant nicht telefonieren. Also beschloss ich, nach Briançon zu fahren und mir auf dem Weg zu überlegen, was ich nun machen sollte. Eine Lehre: Adrenalin hilft die Berge hoch. So schnell wie die letzten Kilometer zur Passhöhe bin ich selten bergauf gefahren.


Die Meije, wie auch immer man das ausspricht.


Geschafft!

Oben angekommen waren meine Gedanken immer noch beim Handy. Okay, ein bisschen schaute ich mich auch um, die Aussicht war phänomenal. Im Süden direkt das Pelvoux-Massiv mit der Barre des Écrins und der Meije. Die sich im nächsten Nationalpark befinden, dem Écrins-Nationalpark. Fast hätte ich nicht mehr daran gedacht, dass ich mein Handy verloren hatte. Aber nur fast. Ach ja, Motorräder sollten sie verbieten, auch in den Randzonen der Parks – dann wäre viel gewonnen. Obwohl sie heute nicht so aggressiv waren wie vor ein paar Tagen. Viele waren es trotzdem.


Blick nach Norden.


Die Barre des Écrins, 4.102 m, der südlichste Viertausender der Alpen. Und der westlichste..

Kurz bevor ich mich auf die Abfahrt machte – immerhin war es schon recht spät – schaute ich auf meine hintere Packtasche. Und sah dort mein Handy liegen. Dorthin hatte ich es also gelegt und dort blieb es völlig ungesichert vier Kilometer lang liegen. Auf der Abfahrt wäre es wohl nach wenigen Metern runtergefallen …


So reiste mein Handy auf den Pass.


Nein, das waren nicht die Einzigen.

Beim Denkmal für Henri Desgranges, Gründer der Tour de France, machte ich einen kurzen Stopp für ein Foto. Und wunderte mich über den seltsamen Scheiteltunnel, der gerade mal 102 m unterhalb der Passhöhe liegt. Was hat das für einen Sinn? Offensichtlich gibt es einen, sonst hätte man den Tunnel nicht 2002 wieder eröffnet.


Denkmal für Henri Desgrange, Gründer der Tour de France.


Die letzten Meter von Süden - also für mich die ersten Meter der Abfahrt im Rückblick.

Zum Col du Lautaret ging es 8 km bergab, was meine Bremsen stark beanspruchte. Vor allem, weil ich häufiger auf 0 km/h bremste, um mich umzuschauen und Fotos zu machen. Das Pelvoux-Massiv, die imposante Meije – Motive gab es genug. Auch das Tal hinunter nach Briançon war ein Motiv, mit dem Monte Viso am Horizont.


Und weitere Kilometer Abfahrt in Richtung Briançon warten auf mich. Ganz hinten übrigens der Monte Viso.


Der Col du Lautaret.

Der Col du Lautaret, meine Lieblingspasshöhe. Denn sie kostete mich keinen Schweiß, ich erreichte sie rollend. Und auf mich wartete eine rasante Abfahrt nach Briançon, auf der breit ausgebauten D 1091. Eigentlich ist hier der Verkehr der Wermutstropfen, immerhin ist dies die direkte Verbindung zwischen Grenoble und Briançon. Doch die war unterbrochen, weil der Tunnel am Lac du Chambon auf der Westseite des Passes einzustürzen drohte – dazu später mehr.


Passstraße und Meije.


Die einfachste Passhöhe meiner Reise.



Inzwischen – genaugenommen seit der Passhöhe des Col du Galibier – war ich in einem anderen Département, Hautes Alpes (05) und in einer anderen Region: PACA, das ist die Abkürzung für Provence-Alpes-Côte-d’Azur. Es wurde immer heißer, je tiefer ich kam. Obwohl Briançon sich höchste Stadt Europas nennt – nun ja, ich zweifle. Das ist immer so eine Sache mit den Superlativen, dazu am Col de la Bonette mehr.


Auf dem Hotelparkplatz – Zweiräder sind hier motorisiert.

In Briançon wollte ich nur noch schnell in ein Hotel mit Fernseher und Klimaanlage und fand es im IBIS gleich am Ortseingang. Ja, die Altstadt ist schön, Vauban-Festung, Zitadelle, UNESCO-Weltkulturerbe – aber ich wollte nix mehr machen. Fernsehen und essen. Hotelzimmer-Abendessen, das Hotel lag direkt über einem riesigen Géant-Supermarkt und der hatte trotz Feiertag bis abends geöffnet. Reblochon, Baguette, Pfefferminzschokoflözpudding.

Und im nächsten Teil geht es weiter nach Süden, über ein paar Berge ans Meer.

Und hier der Link zum Track dieses zweiten Teils der Tour.