La Petite-Pierre revisited 2017

von: veloträumer

La Petite-Pierre revisited 2017 - 07.11.17 19:45

VI. LPP revisited 2017 feat. Trumpet Concepts – oder: Wiedersehensfreuden in und mit dem Zeitalter der Sintfluten

11.-13.8.2017 | 3 Tage | 327 km | 2825 Hm

Würfel brauchte ich nicht zu bemühen, um den Konzertabend zu wählen, nachdem sich Hans – diesmal wieder mit Frau Birgit – erneut zum Jazzfestival in LPP angemeldet hatte. Ein zusätzlicher Urlaubstag war auch diesmal nicht möglich, also fiel das Treffen mit „meinen“ Sachsen zwangsläufig auf den Samstagabend – ein Tribut an die Trompete, die jüngere Jazztrompete, zeitgenössische Blaskonzepte. Birgit und Hans weilten diesmal auch nicht das gesamte Festival dort, sondern etwa die Hälfte der Zeit. Das Wiedersehen mit Birgit und Hans war ja diesmal besonders kurzweilig, da ich mich im Vorjahr zu einer Spätnovemberreise in die Sächsische Schweiz und das Erzgebirge durchgerungen hatte (Saxonia Bohemia Velogida) – nicht zuletzt um die beiden mal in ihrer Heimat zu treffen. Das Wetter war jahreszeitgemäß zwar nicht immer einfach, ermöglichte aber doch noch ein sehr gelungene Spätherbstreise in einer mir noch ganz neuen Region.

Im diesjährigen August hätte man sich manches Novemberwetter aus dem Vorjahr gewünscht. An Instabilität war der Spätsommermonat nicht zu überbieten. Selten kalt, aber sehr feucht und launig wie der April – häufig an der Sintflutgrenze. Birgit und Hans erlebten so in LPP mehrere Konzerte nur in der Halle, auch an „meinem“ Abend beschwor die Trompeterin Airelle Besson das Publikum, sich Burg und Sternenhimmel bei der Musik in der überhitzten Ersatzlocation herbeizuträumen. Die Anreise war also recht ähnlich zur 2014er-Tour, nur dass diesmal die Hauptregenphase auf den ersten Tag, den Freitag entfiel.

Das Prozedere war ansonsten ähnlich zum Vorjahr, ich checkte wieder im selben Hotel, sogar im selben Zimmer ein, Frühstück gegenüber. Ein Unterschied war, dass ich mich um eine noch frühere Anreise bemühte, um auch das erste Konzert des Abends zu erleben (bereits um 17 h). Ich versprach mir von diesem ohnehin den größeren musikalischen Genuss gegenüber dem Hauptact des Abends. Das sollte sich auch bewahrheiten.

Radlerisch war natürlich auch diesmal keine große neue Linie zu erwarten. Der Samstag als elsässischer Anreisetag war ja zeitlich kürzer als in den Vorjahren und wettertechnisch stets auf der Kippe – also keine Einladung für größere Experimente. Ich konnte dennoch mit einer kleinen Variante eine Lücke im Modertal schließen. Am Rückreisetag hatte ich auch noch eine nie gefahrene Variante zur Querung des Schwarzwaldes zwischen Albtal und Pforzheim auserkoren, was sich aber ob der späten Abendzeit als kleine Tortur erwiesen hat, weil schwieriger und langatmiger als erwartet.



Fr 11.8. Stuttgart - Leonberg - Rutesheim - Perouse - Friolzheim - Tiefenbronn - Pforzheim - Elmendingen - (Ittersbach) - Fischweier/Albtal - Moosalbtal - Völkersbach - Malsch - Muggensturm - Rastatt - Wintersdorf/Iffezheimer Staustufe
111 km | 16,3 km/h | 1120 Hm
AE (Lehners Wirtshaus): Röstiburger, Pommes, Salat, Bier, Apfelstrudel, Cafe 27,90 €
Ü: C frei

Das Wetter, ein stets zwielichtiger Gefährte des Radlers. Noch schienen die Schotten dicht – allerdings tiefstes Grau über den westlichen Hügeln der Stuttgart-Region. Ab Friolzheim schüttete es nun quasi die bekannten Katzen und Hunde Die leichtere, aber auch umwegige Würmtalroute brachte trotz mehr Blattwerk keine erhoffte Milderung gegenüber der offenen Höhenroute in Richtung Pforzheim. Viel Aufwärmen und Trocknen war nicht, wurde ich bereits früh aus dem ausgekühltem Vorstadt-Café der deutschen Goldwerksmetropole an Würm, Nagold und Enz rausgeworfen. Ohnehin trocknete besser der Wind – zumindest bis zum nächsten Regeneinsatz im unteren Moosalbtal. Der immerzu giftige Wind hielt noch die Balance zwischen Feuchte und Trockenheit. Kaum hatte ich aber Muggensturm für die letzten vier Kilometer nach Rastatt hinter mir gelassen, schüttete es aus allen denkbaren Schleusenöffnungen und der teils nicht asphaltierte Radweg wurde zur matschigen Seenplatte. Die Radfahrerkreuzungsampel vor Rastatt machte dann in Form ihrer Gedenkminuten klar, wer hier das Sagen hat – das Auto und die Autoindustrie (auch ein Daimler-Standort). Unmoralisch viel Rotlicht für das Tretvolk im grünen Bundesland.

Im Lehners Wirtshaus – durch die häufigen Etappenenden in Rastatt schon bei mir zu einer kleinen Institution ob seines köstlichen Kellerbieres geworden, wenn auch Gastronomie mal so, mal so ist (diesmal war es wieder gut) – versuchte ich den Dauerwolkenbruch auszusitzen. Gegen 23 Uhr lockte eine Regenpause. Die hielt etwa bis Ausfahrt Rastatt. Das waren jetzt schon abenteuerliche Voraussetzungen für Camping – da spielt es keine Rolle ob offizieller Platz oder Wildnis. Offizielle Campings sind nach letztjähriger Erfahrung ohnehin keine gute Option in der Region. Das Glück brachte es mit sich, dass ich an einem Baggersee ein Vordach eines Kiosks vorfand, unter dem man nahezu trocken bleiben konnte. Das Zelt hätte ja wohl den Regen nach oben abwehren können – doch die Wiesen standen bald unter Wasser.



Sa 12.8. Wintersdorf - Beinheim - Soufflenheim - Haguenau - Pfaffenhofen - Ingwiller- Wingen-s-Moder - La Petite-Pierre
79 km | 14,9 km/h | 460 Hm
AE (?): Flammku., Rw, Cafe
Ü: H des Vosges (reg. 69 € oFr/Fr 12 €)
B: Festival Au Grés du Jazz Airelle Besson, Nils Petter Molvær)

Die ersten Hundespaziergänger mussten noch durch den Regen, die von Wetterberichten erwartete Besserung drohte auszubleiben. Gegen 8 Uhr und mit Überschreiten der Grenzbrücke nach Frankreich erbarmte sich der Himmel zur Schleusenschließung. Es blieb allerdings grimmig grau und durch den Wind wurde die elendige Gerade durch den Haguenauer Wald zur einer zähen Plackerei.

Der o.a. neu erforschte Streckenteil reicht von Ingwiller bis nach Wingen, sowie über die Zufahrt auf die Straße Puhberg – LPP via Zittersheim. Der Teil an der Moder ist recht idyllisch gehalten, die Orte lieblich ohne Markantes, die Infrastruktur mager, obwohl nicht nur Abwanderung zu beobachten, wie einige neue Villen zeigen. Wingen, wo ich den Anschluss zur Rückreisetour in 2014 hergestellt habe, besitzt immerhin ein ausgeprägtes Sport- und Schulzentrum, sogar einen Camping – beides am oberen Ortsende gegenüber einer Pferdekoppel mit altehrwürdiger Villa. Soweit man die Aussichtsserpentine über Zittersheim hinter sich hat, geht es bis vor die Tore von LPP nur noch durch Buchenwald und ohne jede Aussicht. Das sind die Nordvogesen in ihrer unspektakulären Art – eine entschleunigte Landschaft, die sich sogar der fotografischen Inszenierung widersetzt.

Es ist dann immer wieder verblüffend zu erleben, wie ohne Autokolonnen und Verkehrshektik in LPP Burgplatz oder Kulturhalle für die weltbekannten Jazzmusiker gefüllt sind. Ein Geheimnis sind die Bus-Shuttles, mit der die Gäste aus den stärker besiedelten Niederungen des Oberrheingrabens zu diesem Event in die Vogesen verbracht werden. So ist dann trotz guter Hotelauslastung und Ferienzentrum der Ort kurz nach Konzertende fast schon ein wenig unwirklich ruhig.

Airelle Besson sorgte mit einem basslosen Quartett, darunter eine Vokalartistin (Isabel Sörling) mit elektronischen Verfremdungseffekten, für einen eleganten wie beschwingt erfrischenden Konzertauftakt. Ihre melodischen Ideen (die meisten sind ihre Eigenkompositionen) verpackt sie in leicht swingende, rhythmisch ausbalancierte Stücke. Für den treffenden Puls auf den Fellen sorgte Fabrice Moreau. Die Französin am Ventilschalltrichter vermag Jazz- wie auch Klassikharmonien auf natürliche Weise zu verbinden, sodass die Musik im Fluss bleibt. Die instrumentale Stimme mit elektronischen Effekten vermindert die Distanz der Instrumentalmusik, ohne dass diese wirklich aufgehoben wird. Zusammen mit den Effekten des Pianisten (Yvan Robillard) erreicht das Quartett damit einen zeitgemäßen Touch auf der Ebene ausgefeilter harmonischer Konzepte und doch tänzelndem Verve. Schön, frisch, geschmackvoll.

Auch Nils Petter-Molvær spricht eine junge Generation an. Er setzt auf flächige Sounds, getragen von intensivem Trompetenton, durch Elektronik verfremdet, oft bereichert von Growl-Tönen in die umgekehrt gehaltene Trompete in den Trichter eingeflößt. Im Trio kommt keiner ohne ein Arsenal von Elektronik aus. Während der Schlagzeuger Samuel Rohrer trotz des Equipments eine sehr metronomische, aber banddienliche Monotonie als Rhythmusteppich auslegt, rauscht der Gitarrist Eivind Aarset bis zur Schmerzgrenze über die Tonskalen seines Griffbretts und seiner Regler. Die Spannung der Musik bezieht sich aus ihrer Verdichtung, der Mischung aus psychedelischer Rockassoziation und melodischer Sphärenmusik, gerne den Norwegern als „nordisch“ zugeordnet. Die Elektronik reizt dabei die improvisatorischen Blickwinkel aus. Eine konzeptionelle Meisterleistung, die harmonischen Linien zu solch einer berstenden Dynamik zu steigern. Das musikalische Ergebnis werte ich dennoch als strittig, frägt man sein Vogesen-Stille-getränktes Ohr.

Im Hotel Aux Trois Roses werde ich als der grüne Radler wohl dauerhaft Schweißausbrüche auslösen, sollte ich dort nochmal auftauchen. Irgendwie falle ich da immer unangenehm als seltsamer Gast der Gäste auf. Die Flasche Pinot Blanc, die Birgit und Hans aus ihrem noch tagsüber erworbenen Weinvorrat spendierten, war noch nicht geöffnet, da hatte ich schon auf der verzweifelten Suche nach einem Lichtschalter die Alarmanlage ausgelöst. Zu konstatieren ist, dass das Personal pflichtbewusst und rasch reagiert hat – alle Winkel durchleuchteten, noch bevor ich die Auflösung des Vorfalls mitteilen konnte. Gewissermaßen habe ich also als versteckter Sicherheitsprüfer im Hotelgewerbe gearbeitet. Sagte ich nicht schon 2014, dass es sich um eine Art Dienstreise handeln würde?



So 13.8. La Petite-Pierre - Sparsbach - Ingwiller - Pfaffenhofen - Haguenau - Soufflenheim - Beinheim - Wintersdorf - Niederbühl/Rastatt - Gaggenau - Michelbach - Moosbronn - Bernau - Rotensol - Neusatz – Schwanner Warte - Birkenfeld - Pforzheim || Stuttgart
137 km | 17,3 km/h | 1245 Hm

Den Farbschwall des Tages setzte der Morgen des Abschieds, für den Birgit als „Lady in Red“ meinen grünen Alien-Look kontrastierte. Die Rückroute entsprach zunächst dem umgekehrten Weg der 2014er-Anreise, zwischen Obermodern und Wintersdorf dann identisch zur Anreiseroute des Vortages. Da und dort zog ein feiner Niesel über das Land, ziemlich triste. Ab Haguenau gab es dann ein paar hoffnungsfrohe Aufhellungen. Alles ging etwas schneller als auf der Hinfahrt. Mit Überschreiten der Grenzbrücke kam allerdings der Regen zurück, fast wie ein Zeichen feindlicher Linien. Der Besuch des Baggersees, wo ich schon übernachtet hatte, erwies sich als Flop, denn der Regen setzte dann doch bald stärker ein. War aber auch wieder schlau – denn da gibt es ja ein Dach.

Nun erzählten mir Einheimische noch von einer Störung auf der Rheintalbahnstrecke – ich müsse in jedem Fall nach Rastatt radeln. Ich hatte auch nichts anderes vor, glaubte aber, dass dann generell der Zugverkehr nach Karlsruhe gestört sei, evtl. nur noch zottelige S-Bahnen verkehren könnten. Da nochmal ein leicht sonniger, trockener Abend winkte, dachte ich es vielleicht quer rüber nach Pforzheim zu schaffen, also jenseits der Störlinie. Nun hatte ich versucht dem Radweg zu folgen, der aber aufgrund der Baustelle bei Niederbühl einen satten Umweg einschlägt, abgesehen davon, dass er sich nur sehr zäh über ein paar verwinkelt angelegte Pisten fahren lässt. Die Bahnbaustelle in Niederbühl war dann der Ort für die abgesackten Gleise gewesen ist, die einen fast zwei Monate dauernden Supergau für das europäische Schienennetz mit Wirkungen bis Genua und Rotterdam verursachten. Wohl war deswegen die kühne, provisorische Fußgängertreppe gesperrt und trieb sich ein Fotograf herum. So wurde ich auch noch zum Zeitzeugen eines dilettantischen Maulwurflochs, dessen historische Bedeutung meiner Wahrnehmung entging. Schon deutlich abgekämpft und weit in der Dunkelheit erreichte ich noch den letzten Zug in die Schwabenmetropole. Einmal kräftig durchpusten – am besten mit Trompete:

Musikbeispiele:
Airelle Besson Quartet „The Painter and the Boxer“, Jazz in Marciac 2017, (6:47 min.)

Airelle Besson & Nelson Veras, div. ...tel (4:59 min.)

Nils Petter Molvær „Maddagala“, live in Prag 2016 (6:27 min.)

Nils Petter Molvær „Gilimanuk“ (3:50 min.)

Bildergalerie Tour VI (22 Fotos, bitte auf Bild klicken):