Re: mit dem Rad zum Atlantik (EuroVelo 6 – Teil 2)

von: oktopus

Re: mit dem Rad zum Atlantik (EuroVelo 6 – Teil 2) - 23.09.18 13:49

Tag 35 – 18 September 2018 (Rückreise mit dem Zug):
Gerüstet mit 3 Tickets, davon eines in Papierform, stand ich bereits eine Stunde vor Abfahrt auf der Baustelle mit Namen "Gare de Nantes" und schaute wie gebannt auf den Monitor in der Halle. Mit mir gemeinsam schauten zig andere Menschen ebenfalls wie gebannt auf den Monitor. Wie ich recht bald feststellen musste, erschien das richtige Gleis immer erst 15 Minuten (!!!) vor Abfahrt des Zuges auf dem Monitor. Und immer wenn bei einer Zugverbindung auf der Anzeige eine Gleisnummer erschien, begann für einige der Wartenden das große Losrennen.







Endlich - um 7 Uhr 48 erschien mein richtiges Gleis auf dem Monitor: Gleis 55. Ich schnappte mein beladenes Rad, schob es raus aus der Halle, außen rum zur anderen Seite, die Rampe runter zu den Zügen. Den Gang von Gleis 1+2, Gleis 3+4, .... bis zu den Gleisen 52-55. Dort wieder die Rampe rauf zu den Gleisen. Ich fand das Gleis 55 und schob und schob. Auf dem Gleis 55 sah ich auch bereits meinen Zug. Der stand schon längst da. Nantes war ja der Abfahrtsbahnhof. Aber das Gleis blieb ja bis 15 Minuten vor Abfahrt ein gut gehütetes Geheimnis! Waggon Nummer 17. Aaaaah da ist er schon. Ich demontierte die Packtaschen, den Rollsack, die Lenkertasche, stellte alles auf den Boden. Sattel runter, Hebel auf der Seite auf, Fahrrad falten (50 Sekunden hatte ich noch!!!!). Lenker aufschrauben, drehen, wieder fixieren. EIN FOTO! So viel Zeit muss sein!



Rad schnappen und rein in den Zug. Ich fand auch gleich einen günstigen Platz: gleich neben der gegenüberliegenden Tür waren 2 Klappsitze, einer davon war unbelegt. Dort schob ich mein gefaltetes Rad hinein.



Ich sprang noch einmal raus aus dem Zug, nahm mein Gepäck, stieg wieder ein in den Zug. Und es war haargenau 8 Uhr 03! Als ich meinen Sitzplatz gefunden hatte, rollte der Zug bereits.

STRESS PUR!

UFFFF. Nun hatte ich 5 Stunden Zeit bis Strasbourg. In Strasbourg hatte ich doch recht viel Zeit fürs Umsteigen. Ich erfuhr auch bereits vor der Anzeige auf dem Monitor, dass ich zum Gleis 1 musste. UND der Bahnhof in Strasbourg ist keine Baustelle :-) Ich konnte mit Aufzügen ganz leicht zum Gleis 1 gehen. Allerdings war mein Zug noch nicht da, und ich hatte genau 5 Minuten Zeit, sobald er einrollt! Auf einer Anzeige fand ich die Info, wo ich meinen Waggon finde. Und genau da bereitete ich mein Gepäck samt Rad fürs Einsteigen vor.

Es kam, wie es kommen musste! Die Anzeige war FALSCH, und ich stand Meilen weit entfernt von meinem Waggon, als der Zug einfuhr. Somit musste ich erst recht wieder RENNEN! Zuerst rennen mit dem gefalteten Rad, drinnen einfach nur abstellen, wieder raus aus dem Zug, zu meinem Gepäck RENNEN und anschließend mit dem Gepäck wieder zu meinem Waggon RENNEN! Platz für mein Rad fand ich auch hier wieder: im ersten Stock in einer Nische!!! Ich musste nach dem Rennen noch mit dem Rad Treppen steigen. Der Zug war fast leer, also war es auch egal, wo mein reservierter Sitzplatz war. Ich nahm mir einen Platz in der Nähe der Treppe. Von Strasbourg bis Frankfurt hatte ich nur 2 Stunden Fahrzeit.

DANN kam die Geschichte mit Frankfurt. Der Zug kam mit Verspätung nach Frankfurt. Massen an Menschen stiegen ein. Ich schob mein Rad von Waggon zu Waggon - diesmal hatte ich keine Sitzplatzreservierung, daher musste ich mir einen Platz suchen. Egal wo. Nur da stiegen so viele Leute mit Gepäck ein, dass ich nur Menschen und Gepäck bei den Einstiegen sah. Irgendwo versuchte ich einzusteigen. Aber der Schaffner, der mich sah, machte gleich Zoff. "Das geht nicht, das Rad ist zu groß. Sie können da nicht einsteigen. Der Zug ist überfüllt. Da haben Sie keinen Platz." Ich begann mit ihm zu diskutieren, dass mein Ticket zugbezogen war und ich gar keinen anderen Zug nehmen konnte. Und außerdem ist ein Faltrad ein Gepäckstück, das mit darf. Und ich hab mich vorher erkundigt. Und ich MUSS da jetzt samt Faltrad rein.
"WIR REDEN NOCH!" sagte er, und ich stieg ein. Mein Rad quetschte ich neben dem Einstieg an die WC-Tür und setzte mich daneben auf den Boden. Auf dem Boden saßen viele!

In Nürnberg lichtete sich der Zug, ich musste auch nicht mehr auf dem Boden sitzen. Und der Schaffner entschuldigte sich bei mir! Er meinte, er war so gestresst, weil der Zug überfüllt war. Daher war er etwas unfreundlich. Aber er weiß ja sehr wohl, dass Falträder als Gepäckstück mit dürfen. Und ich darf da auch mit dem Rad bleiben.

Um 23 Uhr 15 war ich schließlich auf dem Hauptbahnhof von Wien.

Wenn man noch die Fahrt vom Bahnhof nach Hause mitrechnet, bin ich insgesamt 2.715 km gefahren! Daheim wog ich noch mein Fahrrad samt Gepäck ab: 45,65 kg und somit ziemlich genau um 7 kg leichter als zu Beginn :-)

Das bringt mich gleich zu praktischen Überlegungen:

1. Mein Fahrrad oder besser gesagt mein Gepäck war zu schwer. Ein paar Kilos müssen in Zukunft runter. Wenn man nur wenige Steigungen hat wie bei meiner Atlantik-Tour, geht's ja noch (ist ja auch gegangen). Aber über die Alpen komm ich mit diesem Gewicht nicht.

2. Die Gewichtsverteilung meines Gepäcks ist überarbeitungsbedürftig. Ich mache mir Gedanken darüber, auf Lowrider vorne zu erweitern, um mein Gepäck besser zwischen hinten und vorne zu verteilen. Aber dazu mach ich mich hier im Forum gesondert auf die Suche.


Ein kurzes Resumée:

It's a long long way – die zweite ...

Ein langer Weg, der sich in jeder Hinsicht gelohnt hat. In den ersten Tagen sagte ein Radfahrer zu mir: "Mit dem Rad ist man schnell genug, um weiterzukommen, aber langsam genug, um sich etwas anschauen zu können." Und genau diese Aussage kann ich voll und ganz bestätigen.

Es war eine ganz außergewöhnliche und eine sehr schöne Radtour. Ich kann kaum in einem Satz beschreiben, was ich erlebt habe und welche Eindrücke diese Tour bei mir hinterlassen hat. Die Tour war wunderschön, interessant, spannend, abwechslungsreich, aber auch strapaziös. Eine Portion "crazy" gehört sicherlich auch dazu, um so eine Tour überhaupt in Erwägung zu ziehen. Die 70 jährige Neuseeländerin, die ich an meinem Tag 3 kennen gelernt hatte und auf meiner letzten Etappe wieder traf, hat es so treffend ausgedrückt: "another crazy lady", die sich so ein Vorhaben in den Kopf gesetzt hat.

Man muss auch sehr zäh sein, um so ein Vorhaben bis zum Ziel durchzuziehen! Aber all die Strapazen, Erlebnisse und auch Hoppalas, die ich in Kauf genommen habe, haben sich gelohnt. Ich habe wunderschöne Landschaften gesehen, die ich so nah weder mit dem Auto noch mit einer Reisegruppe je erlebt oder gesehen hätte. Manches habe ich noch nie vorher gesehen. Ich habe Naturschönheiten gesehen, ich habe Tiere beobachtet. Ich habe kulturelle Sehenswürdigkeiten gesehen - von Loire-Schlössern bis hin zu Dolmen und Menhiren an der Route Bleue in der Küstenregion. Ich habe Bauwerke gesehen, die mich beeindruckt haben. Die Tour war eine Mischung aus Natur, schönen Ortschaften und Städten und historischen / kulturellen Sehenswürdigkeiten. Ich habe Eindrücke gewonnen, die ich nicht vergessen werde. Und ich habe viel erlebt. Auch ein kleiner Unfall war dabei, der längst vergessen ist. Ich habe Gleichgesinnte getroffen, mit denen ich unterhaltsame und lustige Stunden verbracht habe. Ich bin nicht die einzige, die sich so etwas in den Kopf setzt :-)

Natürlich war diese Tour auch eine sportliche Herausforderung für mich. Ich habe mir meine Erlebnisse und meine Eindrücke erradelt.

Alles in allem war nicht nur das Ziel Atlantik das Ziel, sondern der gesamte Weg bis dahin war das Ziel!

Ich wurde mehrmals gefragt, welche Tour nun schöner war - die Radtour ans Schwarze Meer oder die Radtour zum Atlantik. Ganz ehrlich, ich kann diese Frage gar nicht beantworten. Die beiden Touren waren von Grund auf verschieden. Die Tour ans Schwarze Meer war die abenteuerliche, die wilde Tour. Ich bin mit Einheimischen eher in Kontakt gekommen als bei der Tour an den Atlantik. Die Franzosen sind da zurückhaltender. Die Tour an den Atlantik war wiederum die gepflegtere, die in vielerlei Hinsicht einfachere Tour. Aber schön waren beide - jede auf ihre Art. Spannend waren beide. Und gesehen habe ich auch bei beiden Touren viel.

Beide Touren würde ich jederzeit wieder machen. Vielleicht sollte ich es der Neuseeländerin gleichmachen und den EuroVelo 6 im Ganzen fahren :-) Mir fehlt einerseits noch der Chilia-Arm (der linke Mündungsarm der Donau im Donaudelta) und andererseits das eine oder andere Schloss an der Loire.

Gaby