Re: Alpes Occidentales „PACA“

von: veloträumer

Re: Alpes Occidentales „PACA“ - 13.11.18 20:15

E-2 Nicht-okzitanische Randerscheinungen

Wir wollen aber nicht übersehen, dass der moderne Mensch, der als Pendler oder Geschäftsmodellagrarier in die Hinterwelten eindringt und sich niederlässt, manche Kultur vertreibt, die er nicht mehr schätzt und kennt. Die Hochkultur eines allzu eitlen wie exklusiven Kunstbetriebes ist dabei ein wenig mit im Boot der Vertreiber. War der Südostfranzose auch immer bekannt dafür, ein wenig ungehobelt und unfreundlich zu sein – das Geld der Reichenküste und Provence-Edelaussteiger ihm zu Kopfe gestiegen – so breiten sich die ins Land getragenen Missgünste mit modernen Ängsten gegenüber dem Fremden immer mehr aus. Überall scheint ein Feind zu lauern, die Diebe, die Immigranten. Die vertrauensbildenden Dorftreffpunkte sterben zugunsten einer urbanen Siedlungskultur, die ihr Essen nur noch aus großen Supermärkten herankarren und zum Vergnügen sich abends in die Fun-Meilen an der Küste stürzen – die Bergdörfer dahinter zur tresorartigen Schlafstätten entlebt.



Der Landbewohner bewaffnet sich, Beißhunde werden auch mal öfters nicht mehr angeleint und der Wein- und Pfirsichbauer verteidigt sich mehr und mehr mit Schießeisen. Die Feinde sind – auch das der Wahrheit kaum zu leugnen – nicht vorhanden und die Ängste diffus (es kommt mir bekannt vor). Aber Le Pen macht Stimmen (ich diskutierte mit einem Campinggast). Interessant ist, dass die mir zugedachten Aggressionen nicht von den verdächtigen gehandelten Personenkreisen kamen – nicht mal in Nizza oder Marseille –, sondern eher von der Gegenseite, die vorgeben, den Schutz zur Sicherheit liefern zu wollen. So schaute ich als Wildcamper in das Rohr einer Flinte eines Obst- und Weinbauern, so jagten mich Kampfhunde durch die dunkle einsame Nacht, wo nirgends Einbrecher lauern könnten, so wurde meine Ersatzkamera von der security stuff des Jazzfestivals Nizza zertrümmert. Ein Hotelier erdreistete sich (vermutlich) des Diebstahls meines Akkuladegeräts. Campinggäste wiesen mich nachts vom Campingplatz, weil der Betreiber nicht da sei. Es gäbe noch ein paar mehr kleine Geschichten zu erzählen, die nachdenklich stimmen könnten. Die Frage stellt sich, wo der Weg hingehen soll, nicht mit dem Rücken zur Wand, sondern mit dem Blick nach vorne.



Großstadtakzente: Armut ist manchmal recht unangenehm anzuschauen und für die Reichen schwer zu ertragen. Das ist aber per se noch keine Gefahr. Und ob die Armut sein müsste, ist ja auch immer wieder eine Frage übersättigter Wohlstandsgesellschaften, die nicht teilen, aber sicher leben wollen. Das passt halt auch nicht unbedingt zusammen – in Lande selbst wie auch im Wettbewerb der Staaten. Gefährlich hingegen aber der Straßenparcours nach Nizza rein (aus Westen). Die Baustellenorgie eine Katastrophe – nicht nur für Autos, selbst Fußgänger werden notfalls auf der Promenade ausgesperrt (für Triathlon-Vorbereitung). Schon das städtisch organisierte Chaos sorgt für recht viel Unsicherheit. Lebensgerechte Stadtgestaltung scheint ein guter Weg auch für Sicherheit und Gelassenheit, so die positiven Eindrücke aus Marseille im Vergleich zu 30 Jahren früher.



Einmal sicherte ein Holländer die okzitanische Gastfreundschaft, nachdem sich die Franzosen einen Fehltritt leisteten – sogar weithin im Lande, im Sisteronais, einer touristischen Nachholregion, die sich das eigentlich nicht leisten kann oder sollte, nimmt man auch den Nachhaltigkeitsanspruch des Géoparc de Haute-Provence als Maßstab. So geht dann die rote Laterne der Gastronomiebetriebe an das Hotel/Restaurant in Turriers, das sich einer Leistung ohne erkennbare Bemühung verweigerte und gleichzeitig den einzigen Konkurrenzbetrieb des Ortes, das Café de France von Agnès und Bert, verleugnete. Ob hier Ressentiments gegen holländische Gewerbegründer im Spiel sind, mag ich nicht abschließend bewerten, aber das geht halt gar nicht. Getroffen wird hier einmal der eher seltene Gast in der Region und gleichzeitig der Unternehmer, der das Land voranbringen will. Vom sympathischen Gastgebergedanken angetrieben, erhält sogleich der Holländer Bert meine okzitanische Gastgeberkrone – wenngleich sein wohlwollend gemeinter Übernachtungstipp mich noch fast zum fliegenden Holländer gemacht hätte. So liegt Glück und Verderbnis manchmal ganz nah beieinander.

Wie gesagt, Randbemerkungen, kleine kratzende Bruchstücke in einem sonst lieblichen Bilde, besser gesagt: in einem anmutigen wie gastfreundlichen Lande mit einer überwältigenden Gemäldegalerie in Natur und Kultur.

Fortsetzung folgt