Re: Tour de France: Pyrenäen - Auvergne - Jura

von: veloträumer

Re: Tour de France: Pyrenäen - Auvergne - Jura - 11.02.19 20:59

TdF-1 Krisenbaustelle Bahneuropa, nacktes Stranderleben, vom Winde verweht: Anreise & Languedoc mit Corbières

Do, 17.6. Stuttgart || NZ 23:31-7:03 || Paris Gare de L'Est – Paris Gare de Lyon || TGV 8:24-11:43 || Montpellier – Mèze – Cap d'Agde (80 km)

Die Vorgeschichte der Zugfahrt ist ein wenig abenteuerlich, ein Stück Zeitgeschichte, aber immer noch ein wenig aktuell. Tickets für den Nachtzug von Deutschland nach Paris oder den EC nach Lyon kann man problemlos bei der Deutschen Bahn AG buchen – auch die Plätze fürs Fahrrad. Nicht so jedoch für Züge, die in Frankreich starten. Zwar kann man auch die Personentickets buchen, aber nicht Stellplätze für Fahrräder. Dabei ist es egal, ob es sich um einen Nachtzug ab Straßburg (nach Arles oder Avignon) handelt oder um einen TGV ab Paris nach Süden. Längst nicht alle TGVs verfügen über eine Fahrradmitnahmemöglichkeit (kostet 10 €). Das muss man vorher über die Homepage der SNCF recherchieren. Die DB-Auskunft kann das weder im Internet noch am Schalter. Zwar kann man über eine (deutschsprachige) Hotline die Fahrradreservierung vornehmen, die Zahlung ist aber nur per Kreditkarte oder bei Abholung an einem französischen Bahnhof (mit einer Vorbuchungsfrist) möglich. Fahrradtickets für Züge aus Deutschland nach Frankreich sind aber auch hier nicht buchbar. Als Nichtbesitzer einer Kreditkarte konnte ich das Problem nur zufällig und über drei Ecken lösen. Eine Bekannte einer Bekannten einer Arbeitskollegin arbeitet und wohnt in Paris. Diese erklärte sich bereit, das TGV-Ticket mit Fahrrad auf Vorkasse für mich zu besorgen. Nette Erfahrung und Glück gehabt, zum Dank gabs natürlich auch eine Postkarte mit baskischem Tanzfest. Es spricht aber nicht für ein vereintes Europa, für die deutsch-französische Zusammenarbeit und die Bahngesellschaften – da ist noch Verbesserungsbedarf für den grenzüberschreitenden Reiseverkehr – vor allem für den global stigmatisierten „Sonderling“ Radfahrer.

Die Zugreise als solche war unkompliziert. Ein bisschen wenig Platz gab es beim Schlafen schon bei vier Personen im Sitzabteil – aber im TGV kann man ja auch nochmal eindösen. Die Fahrt mit Fahrrad durch das morgendliche Paris ist überraschend angenehm und zügig möglich. Die Straßen sind breit, der Verkehr geringer als erwartet und zudem darf der Radfahrer auch noch die freien Busspuren benutzen. Am Gare de Lyon gibt es ein unfangreiches Angebot an Snacks – alle Wünsche werden erfüllt. Der TGV fährt ohne Halt nach Montpellier durch.

Fluganreisen sind für Reiseradler verkehrsstrategisch meist günstiger, weil die Flughäfen außerhalb der Städte liegen und man sofort auf die Piste gelangt, falls nicht gerade reine Autobahnbeschilderung die Orientierung erschweren sollte. Mit dem Zug aber gelangt man mitten in die Städte – und das mittelgroße Montpellier macht es mir besonders schwer. Zunächst erschweren Einbahnstraßen und Fußgängerzonen den Weg. Ich fahre der Nase nach, weil es eine vernünftige Ausschilderung nicht gibt. Weiter draußen wird es ungemütlich. Heftiger Verkehr auf den Ausfallstraßen wirbelt in der Mittagshitze Staub auf, Abgase und wenig Platz auf den Fahrstreifen machen wenig Freude. Selbst für Autofahrer ist die Ausschilderung schwierig. Dann kommen Straßen, auf denen offiziell keine Fahrräder zugelassen sind. Auch durch Nachfragen bei Baurabeitern kann ich keine Alternativroute erkunden. Also muss ich auf die Autopiste. Durch die umständliche Umfahrung habe ich in St-Jean bereits fasst die doppelte Kilometerzahl gegenüber meinen Plandaten.

Endlich auf der normalen Landstraße, beginnt eine leicht wellige Fahrt, in der Hitze bereits eine schwere Arbeit mit dem Lastesel unter meinem Sattel. Ich habe bewusst die Route auf der meerabgewandten Seite des Bassin de Thau gewählt. Zum einen bin ich auf der Tour Languedoc/Roussillon vor vier Jahren bereits die Straße an der Meerseite entlang gefahren, zum anderen ist die damit verbundene Durchfahrt der Hafenstadt Sète ebenfalls ungemütlich. Jetzt oberhalb vom Bassin, eine Erfrischung an einer Tankstelle einnehmend, erscheinen die Fischreusen in dieser regelmäßigen, überzähligen Anordnung durch die flimmernde Luftspiegelung fast unwirklich.

Nach dieser ganz eigen geschaffenen Wasserlandschaft durch die Fisch- und Muschelwirtschaft zieht sich die Strecke wieder durch ein recht ödes Ackerland, meist Weinanbau. Ich strebe auf den Berg bei Agde zu, der 111 m aufragt, mit einem Gebilde ähnlich einer Teleskop-Station obenauf, was ihm ein charakteristisches Bild verleiht. Von Agde muss ich wieder zurückradeln Richtung Cap d’Agde, dazwischen liegt sogar noch eine leichte Steigung, die mich jetzt nach der Hitzefahrt deutlich schlaucht, auch weil die prognostizierte Streckenlänge doch deutlich überschritten ist – es ist eine echte und keineswegs einfache Halbtagesetappe geworden. Am allerletzten Zipfel befindet sich schließlich das Naturisten-Dorf von Cap d’Agde – was mir acuh schon bekannt ist.

Vormals nahm ich in einem der Apartment Quartier, jetzt verweile ich auf dem Campingplatz. Dieser ist trotz Vorsaison schon recht gut besucht. Ansonsten ist das meiste wie gewohnt. Durch die separate „Eintrittsgebühr“, die sich erst bei längerem Aufenthalt amortisiert, und die hohen Platzpreise ist dies allerdings auch ein nicht ganz billiger Platz. Die Restaurantpreise sind o.k., in den Supermärkten und Geschäften legt man allerdings gegenüber draußen drauf. Ein Paradies für Nackte, nicht nur am Strand, sondern auch durch Geschäfte wandelnd und in den Restaurants sitzend. Abends ziehen sich die meisten schon was über – es wird doch immer wieder ein wenig kühl – die ganz lauen Nächte folgen meist erst später im Sommer. Schließlich dient der Abend auch als Flaniermeile für erotische Kleidung, Glitzerndes, Durchsichtiges, Luftiges, Stringtangas, Lack und Leder und und und ... – entsprechende Shops finden sich hier genügende.

Fr, 18.6. Cap d'Agde (0 km)

Außer für ein paar Versorgungsfahrten auf dem riesigen Gelände steht das Reisegefährt heute still. Eigentlich kein klassischer Ruhetag, weil ich ja noch keine große Strecke zurückgelegt habe. Also ein echter Ferientag – besser: Strandtag. Das Wetter spielt mit, allein der Wind ist recht bissig und treibt viel Sand ins Gesicht. Neben dem Familienstrand gibt es in Cap d’Agde einen recht freizügigen Abschnitt, an dem die offene Liebe in allen Schattierungen praktiziert wird. Das lockt auch eine Swingerszene an, die sich entsprechend abends weiter vergnügt. Ungeachtet dessen ist hier aber auch ein gesitteter Familienurlaub möglich, denn das Gelände ist weitläufig und verfügt neben Mietwohnblocks und Hotels auch über einen kleinen Hafen. Als ein „Tour de France“-Radler ist man sicherlich hier Exot und ich ziehe trotz der Vergnügungsmeilen einen ausgeschlafenen Start am nächsten Tag vor. So langweilig sind Radler.

Sa, 19.6. Cap d'Agde – Serignan – Narbonne – Durban – Maury – St-Paul-de-Fenouillet (156 km)

Ein bedeckter Himmel und Wind kündigen einen Wetterwechsel an. In Vias verschwindet die milchige Sonne gänzlich. Möglicherweise bleibt es Richtung Meer leicht bewölkt, ich fahre aber in dunklere Wolken hinein, leichter Niesel inklusive. Es gibt keine echte Meerroute, Brackwasserseen und Flussmündungen unterbrechen den Weg, die Hauptroute für Autos führt über Beziers und die Nebenroute dazwischen ist manchmal schwierig zu finden. Ich verfahre mich auch ein wenig auf dem Weg nach Serignan, extremer Gegenwind gibt mir das Gefühl nicht voranzukommen. Leichte Hügel führen weiter über Fleury nach Narbonne, wo tief-dunkle Wolken eine triste Stimmung beschwören.

Auch Narbonne kenne ich bereits von meiner Tour vier Jahre zuvor. Der Wind wird noch stärker, doch der Regen bleibt glücklicherweise aus. Nach einem Stück Nationalstraße fahre ich über die D 611 in das schöne, fast liebliche Tal der Berre ein – die Hügel des Corbières, immer wieder mit Rebstöcken bestückt, zeigen ein geschmeidiges, grünes Bild der niederen Vorpyrenäen. Die Fahrt über den Col d’Extréme (251) ist leicht (nomen non est omen) – lockere Steigung, das Tal hält den Wind ein wenig ab und ein spärliche Sonne blinzelt. Bei einer kurzen Pause an der Berre entdecke ich einen Eisvogel – es ist der erste, den ich jemals gesehen habe. Auf der anderen Seite wird der Wind wieder extrem stark, von Paziols bis in die Nähe von Estagel kreuze ich ein letztes Mal meine Tour von vor vier Jahren.

Jetzt schlage ich auf der D 117 den Weg nach Westen ein. Der Wind kommt nun frontal mir entgegen und erreicht annähernde Sturmstärke. Obwohl ich bis jetzt ordentlich vorangekommen bin – auch weil ich witterungsbedingt keine längeren Pausen eingelegt habe – bricht Zeit und Moral ein. Ich sehne mich nach Maury – acht Kilometer Ewigkeit! Dann Frustration pur: der Campingplatz ist geschlossen, im Ort gibt es sonst keine Unterkunftsmöglichkeit und es wird bald dunkel. Ich muss weiterkämpfen, nochmal acht Kilometer – nein, nicht einfach acht Kilometer, nicht einmal acht Kilometer einen steilen Berg hinauf – nein, schlimmer: acht Kilometer gegen das Infernal Wind – demoralisierend und auszehrend, auch bereits auskühlend. Ich erreiche im Dunkeln schließlich St-Paul, komme überraschend trotz des Windes auf die längste Etappe meiner Tour. Der Camping ist offen (Rezeption natürlich nicht mehr besetzt) – wundersam glücklich bekomme ich sogar noch ein gutes Entrecôte in einem kleinen einfachen Lokal – hier in der Provinz gegen zehn Uhr keine Selbstverständlichkeit. Erst danach schlage ich mein Zelt auf, der Platz ist windgeschützt.

Fortsetzung folgt