Re: Westalpen 2009

von: veloträumer

Re: Westalpen 2009 - 03.10.09 22:28

Voilà, der letzte Teil meiner alpinen Sommerreise in diesem Jahr. Zwischen hochsommerlich und winterlich schöpfte die Wetterhexe nochmal alles aus der Zauberkalebasse, was sie darin an Jahreszeiten zusammengerührt hatte. So gab es denn teils brillantes Fotolicht mit Traumkulissen, aber auch viel unvermeidbaren Grauschleier und düstere Wolkentürme. Wenn ihr alles gelesen und angeschaut habt, waren es über 29000 Wörter und gut 1300 Bilder. Wer mehr wissen und sehen will, muss selber radeln. Ich hoffe, es gab genug Anregungen für anstehende Touren.

TEIL 6: WALLISER & TESSINER ALPEN, JUNGER VATER RHEIN & BODENSEE

Mo, 13.7. Valtournenche – Breuil-Cervinia (2006m) – Châtillon – Col di Joux (1640m) – Brusson – Verrès – Pont-St-Martin – Torredaniele
C: ? 9 €; AE: Tagliatelle funghi, Schnitzel al lemone, Pf, Rw, Cafe 15 €
101 km – 14,2 km/h – 7:03h – 1690 Hm

Nach ca. 4 ½ Wochen wieder in einem Bett zu liegen erhebt einen quasi in ein Gefühl feudalen Pomps. Die kurzen Wege eines engen Zimmers sind eine Gnade für mein schmerzhafte Sehne gewesen. Und nun am Morgen ein klar-blauer Sonnenhimmel für den vielleicht schönsten Hochalpenplatz auf Erden. Aus den Backstuben strömt der Duft frisch gebackenen Brotes. Die Steigungen nur noch moderat, geradezu eine Fahrt für die Galerie. Dazu die Pralinés als süße Zugabe. Das sind ja der Geschenke fast zuviel.

Das Matterhorn versteckt sich auf der Südseite ähnlich lange wie auf der Nordseite. Allerdings ist die Zufahrt nach Breuil-Cervinia nicht autofrei wie nach Zermatt. Es gibt entsprechend viel Verkehr, auch Liefer- und Baustellenverkehr. Das Tal ist bis zu einer Engstelle nebst Hochalpencamping stark besiedelt. Hier entwickeln sich mehr und mehr Berg- und Gletscherblicke, der Monte Cervino lugt kurz über einen gewölbten, schattenwerfenden Berg, an dem Serpentinen hoch führen und der endgültige Durchbruch zur kleinen Hochebene bei Breuil-Cervinia durch einen Tunnel erfolgt.

Nun ist es fast flach und noch vor dem Ski-, Wander- und Hotelort liegt unmittelbar neben der Straße, nur durch einen kleine Erdwall geschützt, der Lac Bleu – jener See, in dem sich das Matterhorn in seiner ganzen majestätischen Pracht zu spiegeln weiß. Noch sind wenige Betrachter hier, die Morgenstunde verbreitet einen Geist ästhetischer Stille. Für den Schäfer ein tägliches Geschäft, die Hirtenhunde springen freudig auf den grünen Bergwiesen und die Kühe weiden mal hier, trinken mal dort am blaugrünen Nass des Sees. Ein Maler weiß den Tag zu nutzen für das Abbild eines Bergklischees, das keines ist – denn es ist ein wahrhaftiger Moment. So schön also ist es, dass die Strapazen meiner langen Bergreise sich vor meinen Augen auftun und sich zu einer Melange aus „Habe ich geschafft, hat sich gelohnt, ich bin hier um zu wissen, dass ich bin“ vermengen – ein Blick ist ein ganzes Leben, ein Leben ist ein Moment, ein Moment endlicher Schönheit. Wunderblau, blue eyes, blue notes, der Spiegel erzählt aus dem Leben, oder er träumt von Sehnsüchten. Da ist auch wieder eine Träne im Auge, die jede Radreise mit sich bringt.

Die Bergkulisse in Breuil-Cervinia ist gewaltig, Drei- und Viertausender schieben die Augen immer wieder in die Höhenperspektive. Der Ort ist mit seinen Hotelbauten und Liftanlagen nicht direkt eine Schönheit, das Bemühen um Schadensbegrenzung ist dennoch zu erkennen an den angepassten Holzbauweisen. Ein nettes Kirchlein aus der Ortsgründungszeit bietet den schönsten Blickfang mit den Bergspitzen im Hintergrund. Auf einem offenen Markt präsentieren Händler u. a. dekorative regionale Holzschnitzkunst und gute Strick- und Spitzentextilien. Wer sich in Pistenfahren üben möchte, kommt hier auch noch weiter hoch, etwa zum Rifugio Duca d’Abruzzi auf 2802m. Sinnvoll wäre natürlich eine Bergbahn-Wander-Kombination in die höheren Regionen, sofern man sich die offene Bergwelt noch intensiver einverleiben möchte.

Für mich geht die Fahrt gleich nach einem Picknick wieder nach unten ins Valtournenche. Eine flotte und kurzweilige Abfahrt, die den Eindruck des Vortages bestätigt. Es gibt nur wenige hervorstechende Landschaftsmerkmale – dazu zählt der See unterhalb vom Ort Valtournenche und der Wasserfall am schon angesprochenen Campingplatz, der nicht für Nomaden-Camper geeignet ist. Der Rest ist ein zu beiden Seiten dicht bewaldetes, mittelenges Gebirgstal mit hin und wieder kleinen Zwischenebenen aus Wiesen und Weiden.

In Châtillon ist es sodann sehr heiß, über dem Aoste-Tal liegt ein dicke Dunstschicht, sodass keine weiten Panoramablicke möglich sind. Bis zum Thermen- und Kasinoort St-Vincent ist es nicht weit. Die Therme liegt bereits oberhalb des Ortes, eine Standseilbahn bildet eine Verbindungsmöglichkeit – sie ist jedoch nicht in Betrieb – möglicherweise ist sie an die Betriebszeiten der Therme gekoppelt (die ebenfalls geschlossen ist).

Der Col di Joux beginnt bereits weit unten mit steilen Kehren, die sich an den bürgerlichen Villen und Gärten hinaufziehen, weiter oben wird die Besiedlung bäuerlicher. Es gibt abschnittsweise Waldabschnitte, meistens aber offene Weidewiesen. Beim Abzweig zum Col di Zuccore stehen zahlreiche Sendemasten und bei guter Sicht hat man hier einen weiten Blick ins Aoste-Tal. Den Zucker-Pass wollte ich ursprünglich vom Valle d’Aya aus noch befahren, was ich aber aus Zeitgründen ausgelassen habe. Soweit ich das Einschätzen kann, bietet er aber keine landschaftliche Bereicherung, sondern nur eine ausgedehntere Panoramafahrt – was allerdings bei einer derart dunstigen Atmosphäre wenig Freude mitbringt. Das hat dann auch die Entscheidung zur Streichung begünstigt. Während die Westseite des Col di Joux noch ein reizvolle (und anstrengende) Auffahrt bietet, verschwindet die Ostseite in einem unauffälligen Nadelwald.

Wieder mit delikatem Käse und leckerem Joghurt von einem Direktverkauf südlich von Brusson aufgestockt, bewege ich mich flott nach unten. Auch das Val d’Aya ist ähnlich wie das Valtournenche in diesem Bereich nicht aufregend – vermutlich auch nur im obersten Teil mit Sicht auf die Bergriesen nach Norden attraktiv. In Richtung Verrès nimmt der Obst- und Gemüseanbau im Tal zu, wenngleich wenig Platz dafür ist.

Das Burgental Aoste setzt sich mit Bauten in Verrès und Issogne fort. In Bard bekleidet ein mächtige antike Wehranlage den Berghang an einer Engstelle des Tales – sie wurde wieder aufgebaut, nachdem Napoléon sie zerstört hatte. In Pont St. Martin überspannt eine alte römische Brücke die Lys, das Val di Gressoney ist nicht mal näherungsweise einsehbar, weil das Tal mit einer engen Felspforte unmittelbar beim Ort beginnt. Da es dunkel wird und ich in meinem Verlauf keine Camping mehr erwarte, ziehe ich mein Abendessen vor. Danach fahre ich in die Dunkelheit – es scheint aber eine schlechte Gegend für Wildcamping – stark besiedelt, abgezäunte Gärten oder straßeneinsehbare Geröll- und Müllplätze. Zu meiner Überraschung taucht dann doch ein kleiner Camping auf, die freundliche Hausdame sitzt sogar noch mit Gästen auf der Terrasse bei einem Drink. Nachdem der „Boss“, eine radfreundliche Schnüffelschnauze, mich als akzeptablen Gast gecheckt hat, schmunzel also doch noch eine warme Dusche. Die Gehbewegungen bleiben schmerzhaft, die Sehne knirscht.

Di, 14.7. Torredaniele – Settimo Vittone – Andrate – Croce Serra (853m) – Netro – Biella – Andorno – Valmosca – Sella del Cucco (1262m) – Bocchetto Sessera (1392m) – Bielmonte (1490m) – Bocchetta di Luvera (1284m) – Bocchetta di Margosio (1332m) – Bocchetta di Caulera (1080m) – Colle Craviolo (940m) – Trivero – Borgosésia – Varallo – Scopelle
C: wild 0 €; AE: Tagliatelle Gorgonzola, Gegr. Gem. m. Fleisch, Rw 16,50 €
123 km – 13,6 km/h – 9:11h – 2015 Hm

Die dunstige, schwüle Luft des Vortages hat sich verstärkt, die Sonne schafft nur vereinzelt und zaghaft Licht durch die Wolkenmassen zu werfen. Oberhalb von Settimo Vittone verbleibt ein schmales Sträßchen, das nach aussichtsreicher Perspektive über Weinhänge durch Kastanien- und Mischwald führt. Später gesellen sich Birken hinzu. Die Steigung ist unrhythmisch, manchmal geradezu wellig, es gibt mitunter sehr steile Rampen. In Andrate besteht die Möglichkeit, eine einsame Route einzuschlagen, auf der man über den Wallfahrtsort Oropa mit mächtigem Kloster vorbeikommt. Ich schlage aber den Weg Richtung Biella ein, der durch sanft-liebliches Hügelland mit mäßiger Besiedlung führt. Überwiegend abwärts, aber immer wieder auch kleine, moderate Zwischenanstiege.

Biella ist weniger Touristen- als vielmehr Dienstleistungs- und Verwaltungsstadt, bekannt auch für Textilindustrie. Mittagsrast schwülheiß im Park. Etwas verwirrt der Ausfahrtsstraße, escortiert mich ein Autofahrer zur Ausfallroute. Nach anfangs dichter Bebauung und Textilfabriken entwickelt sich das Tal zwischen engen, bewaldeten Berghängen mit gumpenreichem Flusslauf, steil auf den Bergen drohnenden Siedlungen und urigen kleine Orten unten, deren Bevölkerung ein knarzigen, unnahbaren Eindruck vermittelt. Die düsteren, tief hängenden Wolken des dampfenden Tales verstärkt das Gefühl einer etwas entrückten Region.

Von Valmosca (vor Ortseingang Rosazza zweigt die Straße nach Bielmonte ab) aus beginnt die Panoramaroute – weitgehend mit moderater Steigung – lediglich für die letzten 100 Höhenmeter vom Bocchetta Sessera zum höchsten Punkt der Strecke, Bielmonte, ist die Steigung stärker. Ich treffe im ersten Teil einen entgegen kommenden kanadischen Reiseradler, der auch überwiegend Alpenrouten fährt. Wie schon der Einheimische aus dem Monte-Rosa-Gebiet in Nava mir von der Offroad-Route Bocchetta Sessera – Scopello (Valsésia) abgeraten hat, so haben auch dem Kanadier Einheimische aus dem Valsésia von dieser Route abgeraten. Für mich letzte Sicherheit, mit der lädierten Sehne nichts mehr zu riskieren.

Das Panorama auf der Bielmonte-Route ist aufgrund der Wolken nur zu erahnen. Es gibt an verschiedenen Stellen Rastplätze und Informationstafeln über Orte im Tal und Flora und Fauna am Berg. Man überfährt auf der Route insgesamt sechs „statistische“ Pässe, jedoch ist keiner davon in Fahrtrichtung ein Hoch- bzw. Sattelpunkt – es sind ausschließlich Sattelpunkte quer (Nord/Süd) zur Straße. Der höchste Punkt auf der Straße hingegen ist kein Pass. Bielmonte fällt durch unansehliche Wintersportbauten auf, den negativen Punkt setzt ein Parkhaus, das im Sommer eine trostlose Ruine ist. Die Vegetation wirkt auf der Ostseite etwas südlicher mit Birken und Blumen, im Westen ist es grüner, teils gibt es ausgedehnte Hänge mit Farn. Eine Besonderheit taucht im Bereich des letzten Passes auf: Dort begleiten Rhododendren die Straßenflanken und es folgt eine begehbarer Rhododendrenpark. Pastellfarben in Blau, Gelb, Weiß und Rosa erfreuen das Auge, süßer Duft beschwingt die Nase und Bienensummen erfüllt die Ohren. Der letzte Teil der Abfahrt führt durch dichte Besiedlung. Danach folgt eine nahezu flache, gut ausgebaute Straße neben dem Flusslauf bis Borgosésia.

Der Bereich Borgosésia ist bereits Teil der industrialisierten norditalienischen Ebene. Es geht auf stark befahrener Straße mit nur kleineren Steigungen eher flach weiter nach Varallo, einige romantische Flussteile der Sésia und Brücklein lenken von der sonst wenig attraktiven Landschaft ab. Entgegen der Auskunft des Kanadiers gibt es in Varallo keinen Camping – möglicherweise meinte er den einige Kilomter talaufwärts liegenden in Valmággia. Es ist bereits dunkel und Varallo feiert ein Fest – statt Restaurantspeisen werden Fingerfood und Pappdeckelessen in den Straßen verkauft. Eine kulinarische Delikatesse ist ein extrem dunkelbraunes, malziges Riesenbrot mit Feigen – nicht mit deutschem Früchtebrot vergleichbar – sehr herb, mit einer Nuance Süße – superb. Übrigens der krasse Gegenbeweis, dass Italiener nur bröselige Brotkruste mit viele Luft drin verkaufen (ähnliche feste Dunkelbrote habe ich sehr häufig gesehen). Luft muss man übrigens auch nicht in Italien bezahlen, das Brot wird meistens nach Gewicht berechnet. In der Dunkelheit finde ich dann wenige Kilometer weiter einen geeigneten Platz für mein Zelt, derweil nachts der Verkehr an der angrenzenden Straße nahezu zum Erliegen kommt.

Mi, 15.7. Scopelle – Alagna Valsésia (1191m) – Acqua Bianca (1480m) – Varallo – Passo della Colma (942m) – Omegna – Camping Pratolungo
C: Punta di Crabbia 11,30 €; AE: Tagliatelle Calamares, Hähnchenfl., Pf, Rw, Eis ~16 €
114 km – 14,7 km/h – 7:41h – 1640 Hm

Ich war noch vorabends unsicher, diese Sackgasse ins Valsésia zu fahren. Den Monte Rosa, den ich schon im Jahre 2005 wegen tiefer Regenwolken von Norden am Gornergrat nicht zusehen bekam, wollte ich dann doch diesmal vielleicht von Süden „erobern“. Die triste Wolkendecke des Vortages schien aber auch für heute keine Sicht zu versprechen. Das angeblich raue, noch urwüchsige Valsésia und die Walsersiedlungen im oberen Tal lockten mich dann aber doch. Wenn auch im mittleren Teil des Valsésia Rafting betrieben wird – richtig urig, wild oder aufregend ist das Tal lange Zeit nicht. Man muss schon bis Scopello oder besser bis Móllia warten, um das raue, unzähmbare eines Bergflusses mit in die Landschaft verwachsenen Stein- und Holzhäusern ins Bild zu bekommen. Aufgrund der ausgedehnten Länge des Tales gibt es auch keine längeren steilen Anstiege, es kommt aber zu unrhythmischen Steigungen.

In Campertogno besuche ich Werkstatt und Laden eines Walsers, der traditionelle Holzarbeiten fertigt. Neben gröberen Schnitzwerken sind sehr dünn geschnitzte Blumen- und Tiermotive als Mobilé charakteristisch. Die Walser beherrschten früh die Verarbeitung verschiedener Holzarten, machten sich die unterschiedlichen Eigenschaften der Rohstoffe aus der gebirgigen Regionen zu Nutze, indem sie geschickt verschiedene Holzarten, Steinplatten und Moose zur Isolierung und zu funktionellen Konstruktionen gleichwohl ästhetisch ansprechender Architektur verbauten. Die typischen Bauten in Alagna Valsésia (es gibt keine einheitlichen Walser-Baustil!) sind von großen Balkonen mit Querstangen umgeben. Diese dienten früher der Trocknung von Heu, die Balkone wurden früher wie auch auch heute als erweiterter Wohnraum genutzt. Die Walser entwickelten Wasserleitungen für Schmelzwasser und neue Werkzeuge und sorgten so für Anreize im Tauschhandel mit anderen Volksgruppen. Das machte diese alemannische Volksgruppe, die sich im 10. Jahrhundert bereits im Wallis ansiedelte und sich in den folgenden Jahrhunderten in verschiedenste Alpentäler verbreitete (Graubünden, Liechtenstein, Vorarlberg, Tirol), auch bei Feudalherren beliebt. Diese sicherten ihnen weitgehende Freiheiten zu, weil sie entlegende Gegenden urbar machten. Für die Walser war es die Möglichkeit, sich von der Leibeigenschaft zu befreien. Die ältesten Kolonien in Norditalien siedelten in Gressoney, Macugnana (Ossolatal) und Alagna Valsésia. Geschichte und Leben der Walser kann man im Walsermuseum von Alagna (Ortsteil Pedemonte, oberhalb des Hauptortes) studieren. Das altdeutsche „Tiitsche“ der Walser wird allerdings heute kaum noch gesprochen.

Wie erwartet fällt der Blick auf den Monte Rosa aus. Das Matterhorn klappte beide Male sein Fenster auf, der höchste Riese der Schweizer verweigerte sich mir beide Male. traurig Zuweilen nieselt es etwas aus den Wolken, eine kleinere Schauer überbrücke ich mit dem Museumsbesuch. Noch weiter in die Wolken vordringen? – Wenigstens etwas hochalpine Welt wollte ich doch noch einfangen. So fahre ich bis zum eindrucksvollen Wasserfall Acqua Bianca, an dem ein Parkplatz die steile asphaltierte Stichstraße beendet. Trotz des schlechten Wetters sind etliche Wanderer unterwegs, wie etwa die holländische Gruppe, die sich erschlagen auf die Wiese am Walsermuseum fallen lässt oder wie der Franzose, der mich zu meiner Radreise befragt und mir euphorische Gratulationen in die Hand schüttelt.

Es blieb dankenswerterweise ohne weiteren größeren Regen und ich konnte die schnelle Rückfahrt durch das Valsésia antreten – sicherheitshalber aber mit zuvor bewerkstelligtem Bremsbelagwechsel. Zurück in Varallo wollte ich noch ein paar Fotos des schönen Städtchens machen, das auch ein Zentrum für Kunstschaffende ist. Das Fest ist immer noch im Gange – die größte Attraktionen scheinen aufgemotzte Autos zu sein. wirr Die schönste Nebenattraktion sind drei weibliche Grazien am Flussstrand, der direkt unter der historischen Brücke liegt. Immerhin werde ich genügend abgelenkt, um dort eine meiner zwei Trinkflaschen zu vergessen. grins Zu einem Abstecher zum oberen, kirchlichen Ortsteil Sacro Monte (bedeutende Fresken) fehlt mir Lust und Zeit.

Mit dem Übergang zum Lago d’Orta ändert sich die raue, alpine Berglandschaft des Valsésia in die liebliche Hügel- und Seenlandschaft der Tessiner Alpen. Schöne bewaldete Zuckerhutberge geben ein verspieltes Bild in der Abendsonne ab. Der Pass ist schwieriger als die Kartenlage verrät, weil man durch eine Zwischenmulde an Höhenmetern verliert. Einige Teile des Passes sind sehr steil. Zwischendrin ein kleiner Ort mit schön verzierten Bürgerhäusern. Das liebliche Landschaftsbild bleibt auch mit dem Ausblick auf den Ortasee. Das Panorama verschwindet teils wieder in einem weiten Bogen, auf dem man sich nach unten bewegt.

Die optische Orientierung scheint schwierig, aber ich finde mich doch ziemlich schnell am Nordufer in Omegna wieder. Ein nette See-Ende-Stadt, nicht nur touristisch. Die folgende Seeuferfahrt ist wenig spektakulär. Die besten Seeblicke ergeben sich erst in der Mitte in der Nähe des Campings am Punta di Crabbia mit dem gegenüberliegenden Örtchen Ronco. Der Camping liegt leicht oberhalb der Straße, nette Betreiber, mäßiges Restaurant dabei, an der Campingausfahrt der schönste Seeblick. Wer näher an Orta San Giulio campieren will, kann das tun. Es folgen noch zwei Direkt-am-See-Plätze ein weiterer seenaher.

Do, 16.7. Pratolungo – Orta San Giulio – Miasino – Mottarone (1421m) – Giardino Alpino/Gignese – Stresa – Ferriolo – Trobas – Premeno (~900m) – Manegra
C: wild 0 € (bei Hotel/Rest.); AE: Ravioli, Lammkot., Creme caramel, Rw, Cafe 21,80 €
86 km – 11,7 km/h – 7:10h – 2085 Hm

Die Sonne des Vortages ist geblieben und sogar die Sicht ist überweigend gut an diesem Tage. Es ist zudem der heißeste Tag der gesamten Tour mit 35-36 °C am Lago Maggiore. Es gibt schöne Orte und es gibt Orte, an denen selbst die Romantiker sprachlos werden. Orta San Giulio könnte man zu letzteren zählen. Bei der Annäherung auf die Halbinsel fällt ein Gebäude auf, das sich bei näherer Ansicht als orientalisch ornamentiertes Bauwerk entpuppt. Die Villa Crespi ist ein Hotel. Danach Annäherung über eine ruhige Seeuferstraße. Villen auf Felsvorsprüngen, Palmenfächer, Blumenpracht, stilles Seewasser. Nach einer Biegung erblicke ich gegnüber die Insel San Giulio – voller schöner Bauten, ein Kleinod im See und vom Ufer immer wieder in neuen Perspektiven zu entdecken. Orta San Giulio dann mit kunstvollem Straßenpflaster – abgestimmt mit den Farben der prächtigen Häuserfassaden in mediterranen Ocker-, Beige- und Rottönen. Alles gepflegt – man gibt sich Mühe für zahlende Touristen. Der Hafenplatz der große Kinoplatz – die Insel gegenüber, kleine Boote auf dem See und das leichte Glitzern des Sees das Filmprogramm. Kleine Kinos gibt es überall. Zwischen Häuserfluchten kleine Duchblicke von den Gassen. Andernorts habe Restaurants und Hotels ihre Seeterrassen. In den Gassen Geschäfte mit exquisiten Waren – natürlich fallen mir die vielen Delikatessen auf – Olivenöle, Liköre, Pilze, Käse, Schinken, Würste, Schokoladen, Gebäcke. Kleine Geldbörsen sollten weitergehen.

Auffällig einige freistehende Kunstwerke. Eine Platte mit Hüten – erinnert an Joseph Beuys. Später ein graues Pferd, ein Fahrrad. Der Höhepunkt: ein rotes Pferd mitten auf dem See. Es sind Werke von Timmo Palladino, die gerade in einer Freiluftausstellung präsentiert werden (noch bis November). Die Sache mit dem roten Pferd habe ich ja bereits im Bilderrätsel 568 abgehandelt. Schönster Rathausblick ist hier inklusive: der Ort ist zum Heiraten sehr begehrt – wieder Blick auf die Insel. Ausgangs des Ortes (Festlandteil) gibt es nochmal Kunst: Die Häuser fallen durch Graffiti auf, die von Künstlern angebracht wurden – so eine Art naiver Realismus.

Nach soviel Romantik ist Arbeit angesagt. Die Auffahrt zum Mottarone-Berg ist einer der anspruchsvollsten meiner gesamten Tour. Große Höhendifferenz, heftige Steigungen. Unten diverse Waldteile, auch ausschnittweise Panoramablicke auf den See. Die Sensation: Der Monte Rosa zeigt sich frei von Wolken – allerdings nur am Morgen. In Armeno Frühstückspause am zentralen Cafe. Zahlreiche Rennradler sind ebenfalls unterwegs – die meisten kneifen jedoch vor dem großen Anstieg. Ungewöhnlich früh öffnet sich der Berg. Grüne Hänge, Wiesen, Farne. Bald sichtbar die Bergkuppe des Mottarone. Man muss nicht ganz hoch – der Abzweig nach Stresa liegt unterhalb der Bergkuppe. Auf sie führt eine Schleife hoch und auf der anderen Seite zurück. Oben ist natürlich besser – es gibt Bistro und Hotel, eine Schlauchbootrutschbahn für Kinder, zahlreiche Sendemasten und viel Panorama. Lago d’Orta, Walliser Alpen mit Monte Rosa – nunmehr aber auch schon bewölkt – den Lago Maggiore kann man bereits vor dem unteren Abzweig erkennen.

Der Rundkurs führt dann noch an einer Bergstation einer Kabinenbahn von Stresa kommend vorbei. Ich treffe ein deutsches Radlerpaar – wundersam allerdings sehr unprofessinell wirkend und ohne jedes Gepäck. Sie sind mit der Seilbahn hochgefahren – wollen jetzt runter zum Alpengarten fahren. Ich mache etwas sorgen, wenn solche Radler einen steilen Berg runterfahren, den sie nicht hoch kommen würden. Naja, man kann sich runterbremsen – jedenfalls kann ich später sehen, dass sie am Giardino Alpino wohlbehalten angekommen sind.

Vor dem Alpingarten kommt noch eine eigentümliche Naturlandschaften mit Birken, Moorgräsern und ungewöhnlichen Blumen. Der Giardino Botanica Alpinia liegt nicht exakt auf der Abfahrtsroute, man muss eine Seitenstraße bei Alpino di Stresa einige hundert Meter hineinfahren – eher in Seilbahnnähe (Zwischenstation offenbar). Was bringt einem Alpenradfahrer ein Alpengarten im Tiefland? – Richtig: Nichts! – Kümmerlich vertrocknete Stengel stehen hier verloren herum – alles was ich in ganz anderer Pracht und Fülle in realer Umgebung gesehen habe. Das ist allenfalls „Alpen-Botanik light“ oder die homöopathische Reduktion der alpinen Natur. Eine Lachnummer. Eintritt und Besuch können sich also Alpenradler ebenso sparen wie echte Botaniker – außer: Der Ausblick! Die wenigen Sichtstellen auf der Straße bieten nicht diesen fantastischen Seeblick wie hier, so ist es also vielleicht doch lohnenswert, einen Blick hier runterzuwerfen.

Die Hitze in Stresa ist enorm. Selbst in dem Nobelort mit politischer Geschichte laufen die Promenadengänger nur noch nötigst bekleidet rum. Gegenüber den Gebäuden der Belle Epoque mit Palmen- und Blumengärten liegt die eigentliche Augenweide des Ortes: die Borromäischen Inseln. Lange ist es her, das ich als Kind die Inseln besuchte. Diesmal also nur aus der Ferne ein kurzer Blick. Schöner Strandort Baveno. Kurzes Gespräch mit Holländer mit Kindern. Danach beginnt eine Flachzone, in der sich zahlreiche Campingplätze drängeln. Massentourismus pur.

Schon die Querung des Deltas deutet aber nach Westen an, dass hier gleich wieder ein alpines Tal zum Lago di Mergozza führt. Der Verkehr ist heftig. Direkt nach Verbania wäre leichter – ich wähle den Weg über einen Zwischenberg. Die Höhenmeter verliert man auf der anderen Seite wieder vollständig, der Fluss San Bernardino liegt auf dem Höhenniveau von Verbania. Er bildet aber schöne Badebuchten und ist dementsprechend beliebt als Badealternative zu überfüllten Seestränden. Mottarone war schwer, Il Colle ist nicht leichter. Der Anstieg führt durch dicht bebautes Gebiet, weit hinauf ziehen sich Villengebiete und sogar kleinere Ortskerne. In Premeno hätte ich Gelegenheit zum letzten Camping, will aber unbedingt noch weiter fahren, den Tag voll ausschöpfen, da deutlich im Rückstand. Manegra ist erreichbar, dort soll laut Infotafel ein Ristorante/Albergo sein. Dort vielleicht essen und nahe bei wildcampen. Nach einer Zwischenhochebene jenseits von Premeno starker Höhenmeterverlust nach Manegra. Nur ein paar Häuser, weitgehend Steillagen – schlechte Bedingungen zum Wildcampen. Das Ristorante/Albergo liegt schon in der nächsten steilen Anfahrt. Essen draußen unter großen Bäumen. Ein etwas muffig wirkender Wirt. Ich frage dann aber doch, ob ich auf der Wiese campieren kann. Kein Problem. Also Nacht gesichert? – Nein.

Fr, 17.7. Manegra – PiancavaIlo (1243m) – Il Colle (1238m) – … (1184m) – Cánnero – Ascona – Locarno – Bellinzona – Biasca – Malvaglia
H: Priv.Verm. 30 €; AE: Spaghetti Tom., Cordon Bleu, Pf, Gem., Rw, Eis 37 €
104 km – 14,8 km/h – 6:57h – 1025 Hm

Die Nacht, so mild beginnt sie. Dann gegen zwei Uhr beginnt das Gewitter – die Gewitter. Die Sturmböen zerren am Zelt – wird es halten? Blitze, Donner und Regen lassen mich kaum ruhen. Unvorsichtgerweise lasse ich die teilgefüllten Taschen draußen am Rad – sie sind am nächtsen Morgen geflutet. Doch wann ist die Nacht zu Ende, beginnt der Morgen? – Die Gewitter enden nicht. Irgendwie musss ich raus aus dem Zelt. Ich hechte ins Ristorante. Ein Kaffee. Zeltabbau im Gewittersturm. Ein paar Teile kann ich trockenen. Glücklicherweise ein netter wird. Benutze zahllose Papiertücher von der Toilette. Wieder Holländer, Hotelgäste: Warum ich im Zelt übernachte, warum nicht im Hotel? – Tja, frag den Sparkommissar in mir. Oder meinen Arbeitgeber. Oder die Peanuts-Pharisäer der Banken, deren Zeche irgendwer ja zahlen muss. Oder, oder…

11:30 h. Erstmals etwas Auflockerung, nur noch Schwachregen. Nach über neun Stunden Gewitter! Zweimal sprang die Sicherung raus, schlug der Blitz im Haus ein. Danke an den Wirt für großzügige Unterstützung! Kleines Trinkgeld – mehr kann ich ja nicht… Nicht nur grau, trist regnerisch – nein, auch kalt ists: Gestern 35 °C, jetzt sind es 12 °C (später sogar am Lago Maggiore nicht mehr als 14 °C!). Weiter hinauf. Vorbei an einem Klinikum. Ausblick über den See – hinüber auf die Berge und Täler nach Norden, nach Osten, nach Süden. Aussichten: Gewitterwolken von überall, im Osten Blitzcollage. Weiter fahren. Die Straße bewegt sich in ein hinteres Tal, ohne Seeblick. An der Alpe Colle wird die Straße noch schmaler. Mischwald – Kastanien, Birken, Buchen, Eichen – brüchiger nasser Fels, überhängende Grasbüschel. Urig zu fahren, alsbald stark hinab. Danach wieder Anstieg auf eine Höhe, die kein Pass ist. Es regnet wieder stärker. Nassabfahrt, Donner und Blitze bleiben zurück in den westlichen Bergen.

Endlich am See, aber keine Spur wärmer. So trist kenne ich den Lago Maggiore noch nicht. Und so kalt ist es doch nicht mal im März hier. Cánnero, schöner kleiner Seeort. Die Uferstraße stark befahren. Zusätzliches Spritzwasser von den Autos hin und wieder. Der Spaßfaktor macht Pause. Nicht nur kalt, auch der Wind sorgt für Auskühleffekte. In Cannóbio esse ich ein Panini in einer Bar. Werde nicht satt davon. Einkaufen, doch wo etwas essen? Zu kalt, zu windig, kaum etwas ausgepackt, fängt es wieder an zu platschen. Weiter am See. Eigentümliche Atmosphäre. Ich erreiche die Schweiz. Brissago, schön, wieder alte Kindheitserinnerung. Ascona. Ein Hauch von Sommer, die Sonne zeigt ein kurzes Gastpiel, der Schirm eines Spaziergängers macht Trockenpause auf der Bank. Wenige Kilometer später Locarno. Der See im ungestümen Antlitz, dann im weichen Regen gesprenkelt. Den Haubentaucher störts nicht.

Fahrt nach Bellinzona. Gegenwind, wird stärker, wird kälter. Kurze Starkregenpause bei einem Camping. Weiter durch leichten Regen. Der Radweg wird schlammig und pfützig. Wechsle sodann auf die Straße. Extremer Verkehr nach Süden – Wochenende, Ferienzeit in deutschen Bundesländern, bei den Niederländern, Rockfestival in Locarno. – Bellinzona. Schöne Burg, schöner Platz. Doch habe ich kaum eine Auge dafür. Übernachten in der Jugendherberge? – Schon wieder Etappenabbruch? – Weiter Richtung Biasca. Bin erstaunt über die vielen großen Wasserfälle zu beiden Seiten, dass Tal mit einer der belebtesten Alpentransversalen schöner als erwartet. Die raue Bergwelt der Urschweiz präsentiert sich in ihrem Tessiner Foyer. Nach Norden immer dunklere Wolken. Blitze in der Ferne. So war es damals in der Ursuppe als die Schöpfungsgeschichte ihren Anfang nahm. Doch bin ich ein Versuchskaninchen? Möchte ich als Grünalge nochmal von vorne anfangen? grins Die Wahloptionen: Fahrt ins Inferno? Oder Heimreise mit Zug?

Eine Gasthofübernachtung wird ja noch ins Budget passen. Übernachtungen in der Schweiz sind auch zuweilen nicht mal so exklusiv – im Gegensatz zum Essen. Es ist Wochenende und gleich mehrere einfache Gasthöfe, B&B im Transitknotenpunkt Biasca haben ihre Zimmer belegt. Ich fahre weiter in Richtung Lukmanier-Pass, vertraue auf einfache Unterkünfte an einer alten Transitachse. Die Straße teilt sich, wähle die östliche Route. Am Ortseingang von Malvaglia ein Restaurant, keine Zimmer. Ich frage nach. Die Dame bietet mir an, bei einer Privatpesnoin anzurufen. Es ist ein letztes Zimmer frei. Ich möchte noch was essen, aber die Gastgeber wollen schlafen gehen. Die Frau des Restaurants fährt mich mit dem Auto zur Pension, und gleich wieder zurück zum Restaurant. Der Koch hat dann auch auf mich gewartet. Danke dafür! Trotz dieser Gastfreundlichkeit kann ich nicht verschweigen, dass das Essen von sehr bescheidener Qualität war und völlig überteuert. Allein mit hohem Schweizer Lohnniveau lässt sich das nicht mehr erklären.

Sa, 18.7. Malvaglia – Acquarossa – Passo del Lucomagno (1914m) – Disentis – Ilanz – Flimser Höhe (1108m) – Trin – Chur
C: CampAu Chur 10,50 €; AE: Kartoffelauflauf, Bündner-Teller, Rw, Cafe 36 €
120 km – 14,3 km/h – 8:25h – 2155 Hm

Die Nacht bestand erwartungsgemäß durchgehend aus Gewittern mit kräftigen Winden. So konnte ich dann unter sicherem Dach wenigstens gut schlafen. Der Kälteeinbruch aber setzte sich fort: Die Schneefallgrenze sank in einigen Bergregionen auf 1400 m, Furka- und Albulapass werden am Morgen kurzfristig gesperrt bzw. bleiben gar tagsüber unter fester Schneedecke. So gesehen habe ich mit dem niedrigen Alpenübergang über den Lukmanierpass noch Glück.

Am Frühstückstisch Deutsche und Niederländer (alle mit Kindern). Die Holländer standen natürlich tgs zuvor im Stau, sind auf dem Weg an den Gardasee. Die Deutschen wollen irgendwie quer nach Norden, zunächst auch meine Route. Allerdings eben wärmegedämmt im Blechkasten. Bei dem Wetter mache ich auch keinen Frühstart. Kurz nach der Abfahrt ein weiterer imposanter Wasserfall, dem man nahe kommen kann. Die Berge alle überzuckert – was aber ein Untertreibung ist, denn die Bergspitzen haben dicke Schneeschichten und der Zuckerguss reicht auf die Almwiesen weit unter 2000 m. Eine Rennradlerin überholt mich im unteren Teil – es bleibt trotz Samstag und Ferienzeit die einzige Begegnung mit radelnden Zeitgenossen an diesem Tag.

Zwischen Acquarossa und Áquila besteht erneut eine westliche Alternative, die durch mehrere Dörfer führt, etwas länger und weniger steil ist. Sie ist möglicherweise auch die schönere Variante. Doch Schönheit ist bei der aktuellen Wetterlage relativ. Es geht darum, überhaupt über den Pass zu gelangen. Immer wieder auch leichter Regen, aber unbezähmbar ist der bitterkalte, stürmische Wind. Es scheint aber, als können die Luftbewegungen zumindest die Gewitterbildung verhindern. Eine ebenfalls nicht gefahrene Alternative bildet eine gesperrte Straße im oberen Bereich des Valle Santa Maria, die mir auch eine Schweizerin auf dem Schiff an der Côte d’Azur anempfohlen hatte. Auch hier bin ich nur auf Durchhalten fixiert und das Gehirn wirkt wie eingefroren.

Auf der Passhöhe tolle Panoramablicke, die man auch aus dem Restaurant heraus dort durch die Fensterfront genießen kann. Eine warme Suppe muss her. Die Finger sind bereits bei der Auffahrt leicht abgestorben. Temperaturangabe auf der Passhöhe: 0 °C! (Meiner Schätzung nach war es aber 3-4 °C wärmer grins ). Wer sich aus dem Windschutz des Gebäudes gibt, muss alles gut festhalten. Nach Norden scheint die Windkraft noch stürmischer aufzubegehren. Mit neuen Socken und Handschuhen also die nächste Durchhaltestrecke.

Die Passhöhe ist quasi eine langer Sattel entlang der Seefläche des Lai Sontga Maria. Er ist der Zwischenspeicher auch für den Rein da Medel (romantsch) bzw. Reno di Medel (ital.), der den längsten Quellfluss des Rheins bezeichnet. Der Vorderrhein (wie auch der Hinterrhein) verfügt aber über ein ganzes System von Quellflüssen, was denn auch zu unterschiedlichen Interpretationen der „echten“ Rheinquelle führt. Die häufigst genannte Rheinquelle ist der Tomasee mit dem Rein da Tuma nahe dem Oberalppass.

Schon wegen der Kälte sorge ich für gemäßigtes Abfahrtstempo. Wie die Südanfahrt ist auch die Nordseite nicht rhythmisch, steilere Stücke wechseln mit flacheren Teilen. Soweit der Schnee weg ist, weite grüne Weidewiesen, Wasserfälle, nach Westen steile Bergansichten, kurze Blicke auf den Medel-Gletscher. Fast die gesamte Lukmanierpassstraße liegt offen. Kleinere Waldabschnitte finden sich bei der schroffen, urwüchsigen Höllenschlucht im untersten Teil kurz vor Disentis. In der Talmulde des Rheins liegt der Camping, der Ort Disentis liegt etwas über dem Tal. Malereien und verschnörkelte Dachsimse schmücken die Häuser. Wieder warm treten und klopfen. Dann weiter auf der Oberalproute abwärts entgegen meiner Route von 2005.

In Ilanz nehme ich die mir noch unbekannte Route über Laax und die Flimser Höhe. Laaxer Tobel und eine Hochmoorlandschaft bieten einen Blickfang – trotzdem halte ich hernach die Südroute am Vorderrhein via Versam für die schönere Rheinvariante. Die Steigung ist zwar nicht prominent, aber bald verschwinde ich in einer Regenwolke. Die Abfahrt durch eine treifende Wassergicht. Die Autos erhalten einen Tunnel, der Radler muss über einen Zwischenanstieg über Trin zurück ins Rheintal. Man kann auch sagen: er darf, denn dieser Teil ist doch recht schön und Trin hat ein ansprechendes Ortsbild – im Gegensatz zu den hässlichen Hotel- und Wintersportverbauungen in Laax und Flims.

Völlig durchnässt und verkühlt radele ich auf Chur zu. Nochmal Hotel? – Irgendwie ist jetzt ja alles schon egal, und nach soviel Kampf werde ich ja noch eine Campingnacht überstehen. Der Camping ist ein recht großes Gelände. Ich speise zuerst. Nach dem zwar schmackhaften, aber dürftigen bündnerischen Kartoffelauflauf verlange ich nochmals nach einer Nahrungsergänzung, was bei der Bedienung Entsetzen auslöst. Ich weiß nicht, wovon sich Schweizer ernähren, aber diese halben Vorspeisen :ärger: können keinen Menschen auf den Beinen halten – einen Alpenradler schon gar nicht. Das Land mit dem Kreuz kommt mir doch immer wieder spanisch vor. Trotz nachgelegtem Bündnerteller komme ich nicht ganz satt heraus – Hochpreise auch im einfachen Campingrestaurant. :ärger:

So, 19.7. Chur – Maienfeld – St. Luzisteig (721m) – Rorschach – Roggwil – Kesswil – Konstanz || 20:38-23:42 || Stuttgart
AE: Rösti, Heringsbrötchen, Bier ~12 €
141 km – 18,8 km/h – 7:28h – 690 Hm**
** Hm für die Strecke Goldach – Konstanz beim Fahren geschätzt (bis Goldach 350 Hm) wegen Tachoausfall

Der Tag beginnt und bleibt fast durchgehend trocken (wenig Niesel am Luzisteig). Die kalte Luft will aber nicht weichen. Es ist immerhin wärmer als am Vortag – zumal ich ja auf geringerer Meereshöhe fahre. Da ich nicht mehr wie geplant Bad Ragaz am Vortag erreichen konnte, musste ich erneut umdisponieren. Ich wollte unbedingt einen Schweizer Freund und seine Frau in Goldach (bei Rorschach) besuchen. Ich hatte ihn auf meiner Alpentour 2005 kennen gelernt und er hat nicht nur mit seiner schwer kranken Frau, sondern nunmehr auch selbst nach einem Bergsturz schwere Schicksale wegzustecken.

Um mich nicht im Appenzellerland zu verzetteln, beschließe ich, die schnellste Route zu fahren – also Rheinroute zum Bodensee. Ganz ohne Höhenmeter wollte ich auch nicht bleiben – so fahre ich zumindest noch den kleinen, mir andersherum bereits bekannten St.-Luzisteig-Pass, der mitten durch das Heidiland führt. Der Berg war mir als sehr steil in Erinnerung. Nach dem schönen Maienfeld fällt mir der Pass doch leichter als erwartet und ich gelange in fürstliche Gefilde.

Immer noch kalt, sehne ich mich nach einem kleinen Frühstück mit Kaffee. Doch am Sonntag in Liechtenstein ist das so ein Problem. Nach Durchfahren der Kunstmeile gelange ich zum zentralen Platz, an dem die Kreditkarten flutschen sollen. Ein loungiges Bistro buhlt hier um die Besucher international. Nicht so mein Stil, aber nun ja. Kuchen gibts nicht, immerhin ein Sandwich. Nun ja, im Fürstentum hat man halt gehobene Erwartungen. Für die sechs Euro wohl auch. Ein Biss in das teigige Etwas – oh, selten so gelacht – ja, das ist wahrlich eine Fürstenspeise für Kerkerbewohner. Aber was hat diese lapprige Semmelstange auf einem Teller für einen Touristen in einem der reichsten Länder der Welt zu suchen? In Frankreich würde der Wirt dafür unter die Guillotine kommen – hier scheint das alles normal. Die Italiener diskutieren am Nachbartisch über die Kaffeepreise – tja, das ist halt hier anders als daheim. Zur Ehrenrettung der Liechtensteiner sei gessagt, dass ich anschließend noch an einer geöffneten, offenbar veritablen Konditorei vorbeikam und in einem sonntags geöffneten Supermarkt einkaufte, der über ein gut sortiertes Angebot an Essbarem (sic!) verfügte. Es lässt sich wohl nicht vermeiden, hin und wieder durch den Fürstenstaat zu radeln, die Kategorie „zwingendes Reiseziel“ ist allerdings unangebracht. Kaum zu verfehlen ist hingegen die offizielle Landesmitte.

Der Gegenwind hält den ganzen Tag durch, immerhin kommt es mit fortlaufender Tageszeit zu Aufheiterungen, der Nachmittag ist sogar durchgehend sonnig. Leider klappt es mit dem Treffen des Schweizer Radlers nicht. Selbst mit Hilfe des Nachbarn kann ich seinen Verbleib nicht klären, die Frau kann nicht öffnen. Nach einer längeren Wartepause fahre ich weiter, nehme eine ziemlich hügelige und in vielen Teilen mir noch nicht bekannte Route. In Kreuzlingen verwerte ich noch letzte Franken in einem geöffneten Supermarkt am Hafenbahnhof und in einem Imbiss-Rösti am Mingolfplatz. Während in Kreuzlingen alles unverändert wirkt, habe ich in Konstanz Mühe, meine alte Heimstatt wiederzuerkennen – von den historischen Gebäuden mal abgesehen. Mit der Zugrückfahrt endet die aufregende wie aufreibende Alpenreise 2009. Und es wird wohl nicht die letzte gewesen sein. schmunzel

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Nachtrag
Die schmerzhafte Sehnenreizung blieb auch die folgenden Tage erhalten. Der Gang zum Orthopäden bestätigte die Vermutung auf Sehnenreizung und auch die Ursache mit dem verkanteten Fuß. Ich bekam einen Zinkverband und Antibiotika und pausierte ein Wochenende mit Radfahren. Danach klang der Schmerz langsam ab. Etwa eine weitere Woche später konnte ich mich als geheilt betrachten. Ich weiß nicht mehr genau ab wann – ob erst im letzten Italien-Teil oder bereits im französischen Lanslevillard –, aber irgendwann knirschte die Sehne beim Drüberstreichen (wie ein Schneeball). In dieser Phase kann es zum Sehnenabriss kommen. Ich wusste davon nichts, sonst hätte ich wohl die Reise abgebrochen. Soweit der Hinweis für andere Radler, wenn es denn soweit kommen sollte. Das nichts passiert ist, war wohl auch ein kleines Glück. Es ist ja sowieso verwunderlich, dass man derart unbehindert radeln kann, obwohl man nicht mehr laufen kann.

Ob Glück, ob Pech – das ist ja eine Frage der Perspektive und nicht des Wissens. Vielleicht ist alles nur Hexerei. zwinker Aber ich weiß: Auf dem Rad zu reisen ist immer noch ein großes Glück. schmunzel