Re: Zwei Wochenenden in Nordfrankreich

von: StefanS

Re: Zwei Wochenenden in Nordfrankreich - 19.04.10 11:50

1. Märzwochenende: Amiens - Lille - Hazebrouck
oder auch: Hügel, Wind und Belfriede (Bilder gibt's hier)

Schnee war diesen Winter in Paris kein großes Thema - die Winter- und Schneediskussionen hier im Forum habe ich immer etwas erstaunt mitverfolgt, so unterschiedlich waren die Verhältnisse. Nachdem ich letzten September schon Paris-Beauvais gefahren war, war im Februar Beauvais-Amiens an der Reihe. Und weil das erste Märzwochenende Sonnenschein verhieß, gedachte ich die Verlängerung bis zur Nordspitze Frankreichs, d.h. bis Dünkirchen fortzusetzen.

Sonnabend: Amiens-Lille, 149 km

Anreise nach Amiens per Intercité, Ankunft 8:30. Das Wetter passt, aber außerhalb der Stadt bläst mir ein steifer Gegenwind entgegen. Das kann ja heiter werden, die Tour geht heute die ganze Zeit in dieselbe Richtung, nach Nordost. Und wird es dann auch kommen, den ganzen Tag trete ich gegen den Wind an.

Erste interessante Station ist Naours, ein kleiner Ort mit einer "unterirdische Stadt" - ein Höhlensystem, in das die Bewohner sich in Notzeiten geflüchtet haben. In den Höhlen gibt es alles, was man damals so brauchte - eine Kapelle, Ställe für's Vieh, Versammlungsräume. Ein Handwerksmuseum, einen Minizoo und zwei Windmühlen gibt's im Parc des Grottes gratis obendrauf. Ich bin diesen Vormittag der einzige Besucher und streife ganz allein durch die Höhlen.

Nach einer Stunde ziehe ich weiter, immer über nette kleine Straßen durch die etwas hüglige Landschaft. Aber das eigentlich schöne Wetter genieße ich kaum, hauptsächlich bin ich mit dem Gegenwind beschäftigt. Um zwei bin ich erst in Doullens, kaum 50 km weit, ein Drittel der Strecke bis Lille. Gegen vier Uhr mache ich Halt in Arras. Die berühmte Zitadelle bekomme ich nicht zu Gesicht, selbst die Altstadt ist schwer zu finden, mit der Ausschilderung haben sie's hier nicht so. Immerhin, das Rathaus und sein Turm und der umgebende Platz sind recht nett anzuschauen, wenn man erstmal dorthin gefunden hat. Diese Türme heißen in Nordfrankreich und Belgien auch Belfriede (beffroi) und dürfen sich kollektiv als Weltkulturerbe betrachten.

Wegen der fortgeschrittenen Zeit disponiere ich um und streiche ein paar ein, zwei Sehenswürdigkeiten von meiner Route. Nördlich von Arras erstrecken sich die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs. Schon auf der Straßenkarte sind die vielen Soldatenfriedhöfe unübersehbar. Ich passiere die Höhen von Vimy, wo ein kanadisches Nationaldenkmal steht.

In Lens ziehen Fußballfans durch die Straßen, das Ligaspiel steht an. Lens und Fußballfans, da war doch mal was. Diese hier sind aber friedlich. In Vendin-le-Vieil führt mich die Michelin-Karte an der Nase herum; die von ihr angezeigte Brücke über einen Kanal existiert nicht, was mich gefühlt 20-30 Minuten kostet. Unterdessen geht die Sonne unter; die letzten anderthalb Stunden bin ich im Dunkeln unterwegs. Um viertel vor neun komme ich bei Bekannten am Südrand von Lille an.

Sonntag: Lille-Hazebrouck, 103 km

Morgens gemütliches Frühstück, erst um 10 komme ich los, und hole die eigentlich für den Abend geplante Stadtbesichtigung von Lille nach. Eigentlich als Industriezentrum bekannt, hat Lille eine sehr sehenswerte Altstadt. Der große Rathausturm wurde nach dem Ersten Weltkrieg modern wiedererrichtet. Die Laubengänge der Alten Börse, wo sonst Buchhändler und Schachspieler ihr Stelldichein geben, sind an diesem Sonntagmorgen verwaist. Dafür tummelt sich das Volk in den Gräben und Grünanlagen rund um die Zitadelle.

Um Mittag herum verlasse ich Lille, das ursprüngliche Ziel Dünkirchen ist inzwischen unrealistisch, ich habe mich auf Hazebrouck runtergehandelt. Erstmal geht es über Armentières nach Belgien herein, die Landesgrenze liegt quasi mitten in einem Ort. Das Stück Belgien, in dem ich gelandet bin, ist ein besonderes, nämlich Comines-Warneton, eine wallonische Exklave. So passiere ich innerhalb von fünf Kilometern gleich zwei belgische Provinzen und dazu die innerbelgische Sprachgrenze.

Grenzenlos gehen hingegen die ehemaligen Schlachtfelder weiter. Die Zahl 63 auf der Landkarte markiert eine umkämpfte Höhe; die Senke dazwischen und dem Ort Mesen den ehemaligen Frontverlauf. Am Ortsrand von Mesen ist ein irisches Denkmal für die Gefallenen beider Konfessionen. Ypern ist nur 10 km entfernt. Kaum glaubhaft, dass in dieser schönen Vorfrühlingslandschaft vor 100 Jahren die Hölle los war.

Mein nächstes Ziel ist der Kemmelberg, eine kleine bewaldete Erhebung, die bei den Profi-Radrennen der Region immer wieder eine Rolle spielt. Das ist wohl auch der Grund, warum Steigung und Abfahrt in Kopfsteinpflaster ausgeführt sind, während der flache Teil auf oben auf dem Berg prima asphaltiert ist... Die 20% Steigung, die ein Schild verheißt, sind aber eher Angeberei, realistischer sind 13%.

Zurück nach Frankreich geht's über die Zwillingshügel Rodeberg und Zwarteberg. Oder sollte ich sagen Mont Rouge und Mont Noir? Jedenfalls ist an der Grenze urplötzlich ein riesiger Menschenauflauf und ein noch größerer Stau von Autos, die an dieser unwichtigen Straße aus dem Nichts aufzutauchen scheinen. Was ist hier bloß Besonderes los? Gleich hinter der Grenze ist der Spuk wieder vorbei.

Einen flämischen Berg habe ich noch vor mir, den Mont des Cats mit seinem Kloster. Auf dem Weg dorthin wird mir bewusst, dass es der erste richtig schöne Tag des Jahres ist, auch, weil heute nicht so viel Gegenwind war wie gestern. Im Klosterladen erstehe ich einen der dort produzierten Käse, für die der Mont des Cats bekannt ist. Dann geht es mit Rückenwind-Unterstützung geschwind nach Hazebrouck, wo ich gegen 18 Uhr eintreffe. Am Ortseingang grüßen die "Riesen" des Orts, von denen "Babe-Tisje" unserer Kanzlerin wie aus dem Gesicht geschnitten ist.

Diesem gelungenen Tag schließt sich eine weniger gelungene Rückreise an. Ich müsste in Boulogne-sur-Mer in den Intercité umsteigen. Doch dieser hat einen Schaden und fällt aus. Nach mehrstündigem Warten treibt die SNCF dann einen Bus auf, der die 30 Fahrgäste, die solange ausgeharrt haben, nach Paris bringt, mein Fahrrad fährt im unteren Stauraum mit. Um halb vier nachts kommen wir schließlich am Gare du Nord in Paris an. Und kalt ist es... schlotternd ziehe ich alles an, was ich so bei mir habe und mache mich auf den Weg, durch die verlassenen Straßen von Paris und die Vorstädte. Um halb fünf falle ich endlich zu Hause todmüde ins Bett.