Re: Korsika 2012

von: veloträumer

Re: Korsika 2012 - 18.12.12 23:22

Alle, die hier gelesen und geschaut haben, und verzweifelt nichts gefunden haben, was sie interessiert, können aufatmen: Die Reise geht zu Ende. schmunzel Alle, die nun ein wenig von Wehmut und Fernweh erfasst werden, wie ich auf dem Schiff, als die Horizonte Korsikas sich langsam entfernten, haben noch Möglichkeiten: "Du musst doaaah hin fahren!"

KAPITEL 12 Italienisches Schlussdrama „Vom Winde verweht“: Rund um Firenze

So 22.7. Tirrénia/Lido - Marina di Pisa - Pisa Centrale 8:32 h || Trenitalia ~ 10 € || 9:32 h Firenze S.M.N. - Sieci - Molino del Piano - Vetta le Croci (518m) - Pian di Mugnone - Firenze S.M.N. 21:37 h || DB CNL/IC 93,25 €/BC 25 || Stuttgart Mo 10:07 h (regulär 9:07 h)
61 km | 12,4 km/h | 5:10 h | 650 Hm
W: sonnig, teils wolkig, sehr windig, auch Sturmböen, 25-28 °C
E (La Grotta Guelfa): Crostini, div. Ravioli, Schnitzel m. Tomatensauce, Bratkart., Früchteku., Rw, Cafe 26 € (+)
Ü: Liegewagen CNL s.o.

Eigentlich wäre der letzte Reisetag kein eigenes Kapitel wert. Aber der Kulturschock war so dramatisch, dass ich den Italientag vom Rest trennen wollte. Wahrscheinlich ist das Gelungenste an diesem Kapitel die Überschrift. grins Der Schnitt zu Korsika könnte kaum heftiger ausfallen, als ich in der Nacht zu den italienischen Stränden nördlich von Livorno fuhr, um noch einen Camping zu finden. Dass es in Livorno Industrieanlagen um das Hafengelände herum gibt, ist zu erwarten. Dass dies aber der romantischste Teil bis zur Mündung des Arno sein sollte, dürfte den geneigten Toskana-Freund mit unerwartetem Grauen erfüllen.

Als der Autoverkehr von der Fähre abebbt und ich die Richtungsänderungen nach den Industrieanlagen zum Meer einschlage, wird der Verkehr nicht geringer, sondern stärker. verwirrt Irgendwann ist Stau in Gegenrichtung. Wenig weiter dann auch Stau in Fahrtrichtung – nanu? – schwerer Unfall? – Am Straßenrand beginnen Gebäudestrecken – besser: zum Meer hin Mauern und zur anderen Seite Cafes, Restaurants usw. Von Nachtruhe allerdings keine Spur. Hinter den Mauern – immer wieder von riesigen Eingangsportalen wie von 5-Sterne-Hotels unterbrochen – verbergen sich schlichte Strandlidos, Bars oder Restaurants für italienische Touristen – es können eigentlich nur Italiener sein, die sich solcher Art kommerzieller Massenzüchtigung an Sonne und Meer ausliefern und noch Spaß daran haben. krank Nun ja, ich kenne ja schon einige „bagni e stabilimenti“-Kulturen, auch die weiter nördliche Küste bei Viareggio – aber hier ist alles noch ein Spur extremer – kein Durchblick zum Meer, ich kann nirgends einen Pfad zum Strand erkennen – der totale Ausverkauf der Natur für Erholungssuchende. schockiert

Phasenweise komme ich über einen Radweg besser voran – der ist aber nicht durchgehend. Gelegentliche Tifosi-Anfeuerung, wenn ich an den Autos vorbeifahre. schmunzel Immer mehr Volk – Oktoberfeststimmung à la Italia – Gaukler, Feuerschlucker, Stelzenläufer, midnight shopping, Feuerwerk – Jubel, Trubel, Heiterkeit, Essen, Trinken, Kitsch & more – Menschen mit leuchtenden Teufelshörnern – ausgerechnet bei den gottesfürchtigen Italienern! unsicher Wer auf der Fähre vielleicht wegen der Preise nicht essen möchte – hier kann man noch nach Mitternacht problemlos ein Menü ordern. Das korsische Moloch Bastia wirkt im Vergleich zu hier wie eine stille Oase. Ich sehne mich zurück nach der Macchia, nach korsischen Bergdörfern, nach stillen Kastanienwäldern, nach korsischen Gassen, die lebendig sind, aber nie im Lärm versinken. Ich ertappe mich spießig zu werden – ist dieser Trubel nicht Leben pur – das, was der Deutsche nicht so richtig kann? Oder bin ich doch nur ein alter Mann, der die Jugend nicht mehr sehen und hören will, weil sie ihm davon läuft? – Die Fragen bleiben offen – die Sehnsucht nach Ruhe bleibt auch.

Ausgangs Tirrénia – oder heißt der Ort hier schlicht Lido? – liegt ein Camping unmittelbar an der Straße. Der Nachtportier gewährt mir Einlass gegen Hinterlegung des Ausweises und bittet mich um leisen Zeltaufbau. – Ha! Leise, hier in dieser Umgebung? – Zwar ist es etwas ruhiger, es dringt aber noch genügend Geschnatter und Verkehrslärm über die Mauern. Die Feststimmung ebbt irgendwann gegen 3 Uhr nachts ab. Für Zelte gibt es nur versandete Plätze – sehr unschön, kaum möglich zu verhindern, dass Sand ins Zelt gerät, Heringe hlten auch nicht recht. Die Sanitäranlage sind zwar okay – aber wer möchte hier schon Urlaub machen? – Viele offenbar, der Platz quillt aus allen Nähten. Von der Campingkasernierung geht es dann tagsüber über die Straße zur Strandkasernierung. krank

Nur ganz gegen Ende an der Route nach Marina di Pisa gibt es einen kleinen freien Blick aufs Meer – alles andere ist zugemauert. Wer abends feiert ist morgens müde – so sind die Straßen leer, nur eine paar Jogger unterwegs. „Na, es kommt ja noch der Arno – schöne Flusslandschaft“, denke ich. Der Gedanke ist zwar nicht ganz falsch, doch auch hier kein Zugang zum Fluss. Es reihen sich Bootswerften und Yachtclubs so aneinander, dass auch Zugang und Sicht zum Arno weitgehend versperrt bleiben. Ins Land hinein immerhin schon ein wenig Toskana: Sonnenblumenfelder, erdbraune Landhäuser dazwischen. Bald ist aber Pisa in Sicht, mein Weg führt gleich zum Bahnhof (ich war 2002 mal in Pisa samt Schiefer Turm), die Wartezeit ist nicht sehr lang, Ticket am Schalter ohne Probleme – ebenso die Radmitnahme im Regionalzug.

Eine große Stadt wie Florenz – zumal noch hineingeworfen ohne hinzuradeln – da kommt bei mir keine Stimmung auf. Soviel blendende Hochkultur, an allen Ecken Prunkvolles, Historisches, Ehrwürdiges – sogleich von Reisegruppen umlagert – das erzeugt in mir erst mal Abwehr. Überall haben illegale Händler Decken ausgebreitet, die sie schnell wieder einrollen können, wenn Polizei in Sichtweite kommt. Auf den Decken sieht man alles, was man glaubt, Touristen andrehen zu können: Ministative, Uhren, Handtaschen – wohlmöglich eine ganze Menge chinesischer Nachbildungen dabei. Die legalen Händler mit ihren Stellwägen für Taschen, Gürtel und anderen Lederaccessoires machen meist erst später auf – so stieß ich darauf erst nach meiner Rundfahrt am Abend.

Am Arno angekommen, geht es an der Ponte Vecchio noch erstaunlich geruhsam zu. Die Ausfahrt nach Osten bereitet keine Probleme. – Kein Problem, wirklich? – Doch, es gibt ein Problem, dass sich bereits in Marina di Pisa andeutete, in der Altstadt von Florenz sich verstärkte und nun ganz offen ins Gesicht schlug: Wind!!! böse – Der Wind kam – wie bekanntlich bei jedem ehrlichen Radler zwinker – immer von vorn. Ich bekam Zweifel, die ohnehin riskant spät begonnene Runde über den Passo della Consuma zu bewältigen. Als ich einen Kunstgarten jenseits der Bahnlinie entdecke, bin ich noch gewisser Hoffnung, sodass ich den näheren Besuch auslasse – ein Fehler wohl, da ich nur wenig später ohnehin die große Runde zugunsten einer mehr als halbierten Runde aufgeben musste. Ich habe solch starken Wind schon lange nicht mehr erlebt, die Gedanken gehen zurück an die Winde im Schweizer Rhonetal einst oder im Languedoc noch weiter zuvor.

Der Parco d’Arte Enzo Pazzagli ist ein weitläufiger Kunstgarten, in dem Enzo Pazzagli seine filigranen Stahlmodelle ausgestellt hat. Den Rahmen bildet eine einzigartige Ansammlung von Zypressen, die so ein Ensemble aus Natur und Kunst ergeben – sogar die nahen Geräusche der Bahnlinie fließen in Pazzaglis Kunstkonzept ein. Eine wesentliche Einkommensquelle stellt das Sponsoring der Zypressen dar, in das jeder einstiegen kann und so zum Mitträger dieses Kunstgartens werden kann.

Diesem Ort der Besinnung folgt kurze Zeit später noch ein weiterer. Man könnte rein ästhetisch betrachtet diesen Ort als schön und gepflegt bezeichnen – Gartenkultur und Ruheoase. Doch der Ort ist dem Verbrechen gewidmet – vielmehr ein Mahnmal gegen das selbige. Es handelt sich um einen Kriegsfriedhof des Commonwealth mit Toten der alliierten Soldaten im Zweiten Weltkrieg, sofern sie aus dem lockeren Staatenverbund unter der britischen Krone stammen. Die regelmäßige Anordnung der Kreuze wirkt umso schauerlicher, wenn man sich vor Augen führt, dass jedes Kreuz für einen Menschen steht, der jung und umsonst gestorben ist. Allein hier liegen 1632 Tote, aus dem gesamten Commonwealth sind ungefähr 50000 Soldaten in Italien gefallen. böse Das alles, weil deutscher Größenwahn überall in der Welt wütete – die Spuren, sie waren sogar auf dieser Reise sichtbar: in Korsika (Orezza!) und hier. Man kann die Spuren der Geschichte nicht verwischen, auch wenn mancher glaubt, das Bildung in einem Reisebericht nichts zu suchen hat. Es gibt ein gut geführtes Totenregister, eine Dokumentation über den Krieg in Italien mit allen Commonwealth-Gräbern zum Mitnehmen und ein Gästebuch. Ich setze ein paar Worte in Demut.

Meine Hoffnung, mit der Abkürzung der geplanten Route und der damit verbundenen Richtungsänderung nach Nordnordwest zwischen höheren Hügeln dem Wind zu entgehen, erfüllt sich nur bedingt. Auch hier muss ich noch über das übliche Maß hinaus kämpfen. Zudem sind Teile der Strecke recht anspruchsvoll zu fahren. Die Landschaft ist Chianti-typisch mit Olivenanbau, gepflegten Land- und Weingütern und natürlich Rebstockkultur – Toskana wie im Bilderbuch. Auf der gleichfalls steilen Strecke, sodann abwärts, nach Florenz zurück, fährt man im unteren Teil durch ein kleines, schmales feuchtes Flusstal, dass sich durch einen Engpass zwängen muss , zur Linken steil auf einem Hügel über dem Tal liegend das sehr pittoreske Fiesole – nochmal eine Landschaftsvariante, bevor ich wieder die Stadt Florenz fast nur auf ruhigen Straßen erreiche.

Meinen gemütlichen Stadtbummel widme ich vorwiegend dem Treiben der Menschen – bis in alle Ecken international – ob es überhaupt Italiener in Florenz gibt? Ich möchte euch noch ein besondere Eisdiele empfehlen – es gibt sie nicht nur in Florenz: Grom steht für ökologisch-nachhaltige Eiskreationen mit Zutaten aus eigenen Obstkulturen. Es gibt immer nur eine kleine Auswahl an Kreationen, der Jahreszeit angepasst und in bester Eismacherkunst hergestellt – man kann weitgehend in die Eisküche hineinschauen. Kein Edelschuppen, keine bunten Eisberge mit Farbstoffen aufgewertet – allein die Warteschlange deutet darauf, dass es hier was Besonderes gibt. Über die Website kann man die Adressen der mittlerweile über 30 Filialen heraussuchen.

Noch eine Bemerkung zur Bahnrückreise: Der Nachtzug aus Rom kommend hatte über eine Stunde Verspätung, holte etwas auf, dennoch konnte ich den geplanten Anschlusszug in München nicht mehr erreichen. Für die Stunde Verspätung (genau waren es nur 57 Minuten) erhielt ich von der Bahn eine Reisekostenrückerstattung in Höhe von 25 % - auch die Radkarte wurde dabei berücksichtigt. Zwar ein wenig Zettelkram zum Einreichen (geht nicht über den Schalter), aber danach problemlos. Da ich ja gerne auch die Bahn kritisiere, darf ich sie hier auch mal loben. bravo

Als Abschluss noch eine kurze Hommage an die Île de Beauté mit einer nicht definierbaren literarischen Gattung:

Du bleibst die Schöne im Meer,
deine Berge schroff und hoch,
deine Düfte herb und süß,
dein Licht blau und hell,
Juwelen von Dorfwelten,
Zitadellen trotzen der Brandung,
nichts, was deine Türme nicht sehen,
deine Schatten manchmal grausam,
sodann trinkst du den eigenen Wein,
wohl dann wirst du weise wie dein Paoli.


Bildergalerie zu Kapitel 12 (70 Fotos):



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FIN – ENDE schmunzel
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