Radtour von Kassel nach Barcelona

von: tomtaurus

Radtour von Kassel nach Barcelona - 13.01.13 18:52

Hallo, ich bin neu im Forum und poste hier meine Tour nach Barcelona aus dem Jahr 2007.


Mittwoch, 30. Mai 2007

So viele Abschiede. Viele Freunde kommen vorbei, um mir Glück zu wünschen. Das tut gut.
In den letzten Tagen scheint sich alles gegen meinen Aufbruch verschworen zu haben. Am Pfingstmontag liege ich mit einem Darmvirus im Bett, schleppe mich Dienstag und Mittwoch mühsam in die Redaktion zu Arbeit. Zudem fängt meine Zahnwurzel an zu eitern und im Schwarzwald fällt Schnee.

Immerhin: Jetzt, 22.07 Uhr sind alle Taschen gepackt, genau 20 Kilo schwer und gut verstaut am Rad, das bei der kleinen Probefahrt um den Block wie eine Katze über den Asphalt schnurrt. Der Tacho zeigt genau 6900 Kilometer an.

Der Vollmond scheint durch das Fenster herein. Morgen geht es los. Endlich!

Donnerstag, 1. Juni 2007
Kaufungen – Niederaula 115 km


Start Punkt 9.30 Uhr. Tatsächlich ist es ein irres Gefühl, so wie schon tausendmal zuvor von daheim wegzufahren und diesmal aber eine solche Strecke vor sich zu haben. Aber so ist es: Auch der weiteste Weg beginnt mit der ersten Pedalumdrehung.

Bei Sonne und leichtem Gegenwind rolle ich auf dem Fuldaradweg R 1 Richtung Süden und bei leichtem Tröpfelregen um 12.15 Uhr nach Melsungen ein. So, das waren nun schon 43 km obwohl es mit dem Auto durch die Söhre nur 27 sind. Da kann ich mir ungefähr ausrechnen, was aus den 1600 Autokilometern nach Barcelona wird.  

Die erste Rast und Banane im Naturschutzgebiet Aue bei Malsfeld um 13.24 Uhr. Ein junger, muskelstrotzender Radler mit einem einrädrigen Wägelchen am Rad – sieht elegant und einfacher aus als meine schweren Taschen – fragt: „Gibt´s noch Überschwemmungen?“ Ich ganz verwundert: „Nein, bis Kassel nicht. Gab´s denn bei Dir welche?“ „Ja, bei Baumbach kurz vor Rotenburg.“

Wird schon gehen sag ich mir und radelt eine Stunde souverän durch die ersten zwei Wasserstrecken, auf denen die Fulda nur zwei Zentimeter hoch steht.     

Hinter Baumbach kommt dann die dritte Flutung, diesmal gute 100 Meter lang. Mit Schwung fahre ich hinein – und versinke nach wenigen Meter im Wasser, das bis zur Hälfte der Packtaschen schwappt. Gerade bekomme ich noch die Füße aus den Klickpedalen, sonst wäre ich wie einst die Titanic vollständig untergegangen. Weil ich nun einmal nass bis über die Radlerhosen bin, wate ich schiebend durch die kühlen Fuldafluten. In den Schuhen quatscht das Wasser.

Artig warne ich alle entgegenkommenden Radler vor der Wasserfalle. Ein nettes Reiseradler-Rentnerpaar aus Holland bedankt sich und erzählt von ihrer 1000 km Deutschland-Tour und den letzten 60 Stunden im Dauerregen. Dabei sind die beiden entspannt, sichtlich gut drauf und nun auf dem Heimweg nach Holland. So schlimm kann das mit dem Regen also auch nicht sein.

Bisher führt der Weg meist eng an der Fulda entlang, die randvoll dahineilt. Meist schöne Landschaften, Einsamkeit, Wälder, Wiesen und Felder. Vor Bad Hersfeld wird´s hässlich. Industriegebiete, viel Verkehr, der Radweg nur durch eine Leitplanke abgetrennt. Zum Glück ist es bald vorbei und ich bin wieder in schönen, grünen Naturschutzgebieten.

An der Radlerpension Brandau in Kerspenhausen fahre ich noch vorbei, aber allmählich bin ich recht erschöpft und trete ohne Kraft dem Ziel entgegen. Bis Niederaula will ich es schaffen. Dunkle Wolken ziehen auf, aber es bleibt trocken.

Endlich um 17 Uhr bin ich Niederaula und bezieht ein nettes Zimmer im Schlitzer Hof direkt in der Mitte des Ortes mit rot-weißen Rautenläden an den Fenstern. Für den ersten Durst gibt es ungefragt eine Schorle – Radlerherz, was willst Du mehr. Das Rad steht sicher in der Garage.


Die Fakten:

Gefahren: 115 Kilometer
Unterwegs: 8 Stunden
Fahrzeit: 6:24 Stunden
Schnitt: 18,27 km/h
Max: 55,2 km/h
Navi-Tour: 115 Kilometer
Gesamt : 7015 km
Höhenmeter: 313 m



Freitag, 1. Juni 2007
Niederaula – Steinau an der Straße 113 Kilometer


Nach einem Superfrühstück gehe ich um 8.50 Uhr bei einer Mischung aus Wolken und Sonne an den Start. Ich wechsele wieder auf die andere Fuldaseite, strampele ein Berglein empor, vorbei an einer Alt-Herrengruppe auf Radwanderung. Runde Bäuche aber stramme Waden, und sichtlich gute Laune unter den rund 15 Männern, vermutlich alle schon im Ruhestand.

Es geht entlang grüner, überfluteter Wiesen, auf denen Enten schwimmen, Pferde jagen sich auf einer Weide, ein Mäuschen hastet von rechts über den Weg, die Sonne scheint immer wärmer. Perfekt.     

In Queck dann der Schreck: Ich ertaste in der Windjacke den Garagenschlüssel vom Schlitzer Hof. Kurz überlege ich, einfach weiterzufahren und ihn heute Abend per Post zurückzuschicken. Dann fällt mir ein: In der Garage standen auch noch die Räder von zwei anderen Gästen, die heute noch weiter wollen. Also rufe ich an, dass ich den Schlüssel zurückbringe.

12,5 Kilometer zurück. Ein bisschen ärgere ich mich schon über meine Schusseligkeit. Andererseits: Alle Fehler sind meine Fehler und nur ich bügele sie aus, keiner leidet darunter. Auch ein schönes Gefühl.

Gegen 12 Uhr hinter Schlitz endlich Sonne pur. Die gelbe Regenjacke wandert erstmals in die Packtasche. Pferde laufen auf mich zu, lassen sich streicheln, so weiche Nüstern.    

Diese Stille. Weizenfelder, Lerchen, Bachstelzen tippeln vor mir her, der Asphaltweg führt einsam mitten durch die Flur. Die paar Reiseradler, die mir entgegenkommen, sind durchweg Männer über 50. Ob die alle schon in Rente sind?

Gegen 13 Uhr bin ich am Fuldaer Dom, den ich nach kleiner Irrfahrt doch noch finde. Plötzlich war der R1 weg, entweder habe ich ein Schild übersehen oder es fehlte. Jetzt verschwindet der R1 gleich für immer, denn jetzt muss ich den R3, den Main-Kinzig-Radweg finden.
    
Dunkel Wolken ziehen auf. Werde ich bald nass? Nein, die Sonne kommt zurück, braves Klärchen. Hinter Flieden erwarten mich jede Menge Steigungen, aber die Kraft ist mit mir. Ich pedale locker die Berge hoch, kein Vergleich zu gestern. Der Lohn ist eine rauschende, 3,5 Kilometer lange Abfahrt hinab nach Schlüchtern. Eine hübsche kleine Stadt, durch die ich aber rasch hindurch bin.

Vorbei an Störchen auf der Wiese geht es weiter.Nach 110 Kilometern komme ich um 17 Uhr in der Märchenstadt Steinau an der Straße an, eine pittoreske Altstadt mit viel schönem Fachwerk, an einer Hauswand etwas kitschig-farbenprächtige Gemälde der Grimm-Märchen. In dieser Puppenstube verbrachten also die Brüder Grimm von 1791 bis 1796 ihre Kinderjahre.

Ich beziehe ein schlichtes aber gutes Zimmer in der Pension Denhard für schlappe 25 Euro und genieße ein frisch gezapftes Franziskaner Weißbier für erfreuliche 2,50 Euro.

Dann mache ich mich auf einen kleinen Stadtbummel und prompt beginnt es zu regnen, hört aber wenig später gleich wieder auf. Ersatz für die daheim vergessene Sitzcreme bekomme ich bei Zweirad Antes leider nicht, dafür gucke ich mir das Grimm-Haus aus 1562 an, das sehr stattliche, burgartige Schloss mit alten und riesig alten Mauern an kaufe mir schließlich den ersten Jerry Cotten seit über 30 Jahren (wie sich später herausstellt ein grottenschlechtes Ding, das ich 1600 Kilometer weiter in Arles in den Müll befördere).

Weil Freitags immer Schnitzeltag ist, serviert mir die nette Wirtin ein Schnitzel von göttlicher Größe mit knusprigen Pommes und einem perfekten Schmandsalat in herrlicher Pilz-Rahm-Soße für schlappe 5,50 Euro. Am Stammtisch nebenan trinken leicht absonderliche Gestalten schon Apfelwein, ganz klar, ich komme nach Südhessen. Als Spezialität haben sie hier „Himmel + Erde“ auf der Karte. Das ist Apfelmus, Kartoffelbrei und Bratwurst.

Der Gasthof ist uralt, ich schlafe direkt auf der Stadtmauer – und ich schlafe prächtig. Draußen klart der Himmel auf. Das Wetter wird gut.

Ach ja, der Bart ist ab. Ab jetzt fahre ich mit glattem Gesicht und sehe richtig schön blöd aus.

Die Fakten:
Unterwegs: 8:15 Stunden
Gefahren: 6:34 Stunden
Schnitt: 17,24 km/h
Maximal: 52,5 km/h
Gefahren: 111 km
Gesamt: 7126 km
Navi: 226 km
Höhenmeter: 554 m
Höhenmeter gesamt: 897 m


Samstag, 2. Juni 2007, 3. Tag
Steinau a.d.S. bis Flörsheim 113 km


Punkt 9 Uhr verlasse ich Steinau. Es rollt leicht dahin an der Kinzig, alles ist sehr grün und verwunschen. Am Stausee teile ich mir die Einsamkeit mit ein paar Joggern. Vor Bad Soden schaffe ich es gerade so durch eine sehr schlammig Autobahn-66-Unterführung, hinter Salmünster geht es idyllisch durch Wiesen und Weiden, allerdings hat man das Gefühl, kaum vorwärts zu kommen. Die Namen all der Orte kenne ich vor allem aus den Staumeldungen im Radio. In Gelnhausen rast ich kurz an der Kaiserpfalz. Die hätte ich mir gern angesehen, doch wohin mit dem Rad?

Vor Langenselbold mache ich Rast an ein kleinem Waldsee und halte einen Plausch mit einem Anwalt aus Hanau, den ich um ein Foto gebeten hatte. Er will gar nicht wieder von mir lassen und kann nicht glauben, dass ich mit dem Rad aus Kassel komme. Schier fassungslos ist er über mein Ziel. Er vertritt die Versorgungswerke Hanau gegen säumige Zahler und hält mir einen kleinen Vortrag. Jetzt ist er mit dem Rad auf dem Weg in seine Kanzlei, 13 Kilometer, ganz schön weit
    .
Wir radeln in Stück gemeinsam, aber er ist viel zu langsam mit seinem Kugelbauch im roten Radlerleibchen und so lässt er mich ziehen.
Um 13 Uhr bin ich in Hanau und fahre vorbei an der Kinzig Mündung. Und endlich am Main. An dessen Ufer wird ein Volksfest gefeiert, tausende von Menschen feiern 100 Jahre Eingemeindung von Kesselstadt.

Mitten im Städtegefleht zwischen Hanau und Frankfurt ist es erstaunlich ruhig und grün. Ich folge dem Main, der träge und breit dahinströmt. Bei Rumpenheim nehme ich die Fähre, 40 Cent, und schon bis ich in Offenbach, eine ziemlich hässliche Angelegenheit. Am Kaiserlei vorbei kommt Sachsenhausen in Sicht, endlich in Frankfurt. Viele Menschen flanieren am Museumsufer, Skater, Radler, Jogger, Spaziergänger, Hundehalter, ein richtig schönes buntes Treiben, gegenüber die Hochhäuser, die Bankentürme, gläsern kalt blinken sie in der Sonne, doch hier ist´s eigentlich sehr hübsch. In einem Biergarten herrscht reichlich Trubel, doch ich widerstehe der Verlockung und fahre weiter – und schwupps bin ich schon durch Frankfurt durch. So groß ist es gar nicht.

Hinter Schwanheim wird es schon wieder ländlich. Die Industrieanlagen von Hoechst sind kaum zu ahnen. In Kelsterbach bleibe ich am linken Mainufer und erklimme die sehr steil und mit den Packtaschen grenzwertige Staustufe von Eddersheim.

Jetzt bräuchte ich eine Schorle, doch alle Gasthäuser haben zu. Hallo? amstagnachmittag? Sonne? Zum Glück hat ein Pferdebedarfsladen gerade seine Hausmesse mit Würstchen und Bier und dort nehmen sie mich gern auf. Ich bekomme erst eine Toilette und dann ein großes Radler. Eine nette junge Frau in Reiterhosen passt derweil aufs Rad auf und kann wiederum nicht glauben, wo ich hin will. Nein, als Alleinradler hast Du keine Kontaktprobleme.

Um 17 Uhr bin ich in Flörsheim. Der Karthäuser Hof ist mir mit 50 Euro zu teuer und so steige ich im Hotel Gretel für 32 Euro ab. Na ja, ein trauriges Zimmer, aber egal, die Dusche ist heiß.

Zum Essen gehe ich an den Main und lasse es mir im Gasthaus Zum Hirsch schmecken. Es gibt das gute naturtrübe Frankenbier im Steinkrug. 200 Meter über meinem Kopf donnert alle zwei Minuten ein Großjet im Landanflug auf Frankfurt vorbei. Manchmal denke ich, er streift den Kirchturm. Die Sonne hat mir heute ordentlich einen übergebraten.

Nach dem Essen mache ich mich auf den Weg nach einer Kneipe, wo Fußball läuft. In „Zum Taunus“ werde ich fündig. 41. Minute gegen San Marino und 0:0, super. Als ich in die Kneipe komme begrüßen mich die Jungs mit großem Hallo, eine hübsche Griechin (vermutlich) lächelt mir halb entschuldigend für dieses Publikum zu und bringt mir ein Bier.

Was für ein Publikum. Pit-Bull Shirts, Zahnlücken und Haare bis zum Hintern, alles da. Aber sie sind nett, fabulieren nur über Fußball und knallen sich systematisch die Birne zu. Am Ende steht es 6:0, Miro Klose hat wieder nicht getroffen und ich gehe in meine tageslichtlose Bude im Gretel. Im Hotel stehen vier weitere Reiseräder, vier Hamburger sitzen im Hof un trinken zuckersüßen Sekt. Ich setze mich zu ihnen, Norbert feiert seinen 53. Geburtstag. Sie wollen am Main entlang bis Bayreuth fahren, eine nette Truppe.

Eine der grandiosesten Mitnahmen dieser Tour ist mein kleiner Weltempfänger. Wenn ich in minen kargen, fensterlosen Butzen zur Ruhe gehe, krächzt Ray Charles mit ins Ohr: „I dont stopp loving you.“ Danke Klaus.

Die Fakten:
Unterwegs: 8:20 Stunden
Gefahren: 6:10 Stunden
Schnitt: 18,79 km/h
Maximal: 40,7 km/h
Gefahren: 113 km
Gesamt: 7238 km
Navi: 338 km
Höhnmeter: 62 m
Höhenmeter total: 1061 m



Sonntag, 3. Juni 2007
Flörsheim – Waldsee 133 km





Nachdem ich in meinem tageslichtlosen, gemütlichen Gretel-Zimmer gut ausgeschlafen habe, gehe ich runter zu Wirtin Klabunde um zu frühstücken. Sonntagmorgen und praktisch ohne spürbare Unterbrechung setzen die Jets zur Landung an. Ja, sagt Frau Klabunde, die Flieger und die Eisenbahn kaum acht Meter auf der anderen Straßenseite sind laut, aber: „Dafür lauft Ihr in Kassel der Arbeit hinterher!“ Da hat sie auch wieder Recht. Ihr Mann ist übrigens gebürtiger Melsunger und ist offenbar auch der Arbeit nach Südhessen hinterhergelaufen.

Pünktlich um 9 Uhr sitze ich wieder im Sattel und fahre quer durch das Opel-Werk in Rüsselsheim. Um 10 Uhr mache ich die erste Pause an der Mainspitze, wo von links mächtig der Rhein heramströmt. Amerikanische GI´s und zwei Deutsche teilen sich die Flüsse und halten entspannt ihr Angeln ins Wasser. Gegenüber stehen die Türme von Mainz in der klaren Morgensonne.

Über Eisengitter passiere ich auf der Eisenbahnbrücke den Rhein und erreiche das andere Ufer, nachdem ich zahllosen Jogern und Radlern den Vortritt gelasssen habe. Es ist ein besonderes Gefühl an d e m deutschen Strom entlang zu radeln. Duch schöne Weinberger erreiche ich um 11.30 Uhr Nierstein, wo jede Menge Straußenwirtschaften zur Einkehr verführen wollen. Aber es ist noch viel zu früh, außerdem ist die Sonne zurück und so steuere ich zielstrebig zurück an den Rhein.

Auf endlosen Schotter- und Kieswegen geht es durch das Naturschutzgebiet Kühkopf. Sehr einsam und sehr schön, viele Vögel, kaum Menschen nur ein paar Angler sitzen am Fluss.
Am Eicher See bei Biebigsheim verfehle ich mal wieder den Weg und lande nach zwei Kilometern in einer Sackgasse mit zahllosen kleinen, aber meist hübschen Wochenendhäusern. Das ist hier eine richtige Ferienkolonie mit Yachthafen und allem drum und dran. Kleine, seltsam hohe Häuser stehen an dem Binnensee. Auf den Eicher Terrassen mache ich eine Pause und tauche für 30 Minuten in den Sonntag-Nachmittag-Ausflugsverkehr ein.

Allmählich bekomme ich Saft in die Beine. In der Ebene halte ich ziemlich problemlos 27 km/h und es strengt mich kaum an. Die Reifen surren, das Rad schnurrt nur so dahin. Ein herrliches Gefühl.In Worms raste ich am Dom, der leider nicht von einer richtigen Altstadt umgeben aber trotzdem recht eindrucksvoll ist. Am größten Luther-Denkmal der Welt esse ich mein Frühstücks-Brötchen, sehe aber leider nicht viel vom großen Reformator: Er ist komplett in ein Gerüst eingepackt. Also raus aus der Stadt über die Nibelungenbrücke und durch ein wirklich schönes Naherholungsgebiet hinaus aus der Stadt.

Ludwigshafen will ich noch hinter mich bringen. Was mich da erwartet, sehe ich schon ein paar Kilometer vor mir: Riesige Industrieanlagen von Proctor and Gable, wo weiße Riesen die Gehirne waschen, gut, direkt daneben BASF, schön hässlich.Der Weg durch die Stadt ist eine einzige Katastrophe, immer wieder verliere ich den Radweg, weil einfach Schilder fehlen, ich sie übersehe oder weil sie so idiotisch angebracht sind, dass man sie wirklich nicht finden kann. Vielleicht bin ich aber auch nur voreingenommen, weil hier mein Lieblingskanzler herkommt und ich dauernd an Presskopf denken muss.

Neuer Merksatz: Fahre nie einfach weiter, wenn Du den Radweg verloren hast. Du landest garantiert im Nirwana. Vielleicht sollte ich mich aber auch nicht so sklavisch an den Radweg halten, sondern einfach den Landstraßen folgen. Die sind nämlich immer einfach und klar ausgeschildert. Das will ich morgen mal versuchen.

Das freilich nützt mir jetzt nichts. Irgendwann habe ich keine Ahnung mehr, wo ich eigentlich bin. Neben mir hält ein Ausländer auf dem MTB mit Lidl-Türe auf dem Gepäckträger und Ipod im Ohr. Der Rhein??? Er grinst mich aus seinem bärtigen Palästinenser-Gesicht an: „Folge mir.“ Er dreht vor mir ab, quer über die Straße, ich düse hinterher, die Straßen werden mal kleiner, mal größer. In irrem Tempo geht es durch die Stadt, plötzlich nur noch Türken um mich herum, dunkelhäutige Menschen, Halbmondfahnen. Räuberpistolen gehen mit durch den Kopf: nordhessischer Radfahrer in Ludwigshafen vermisst, vertrauensselig folgte er dem Unbekannten was er – das weiß doch wirklich jeder – auf gar keinen Fall tun sollte.

Ich dränge diese Gedanken zurück. Vertraue Deinem Ausländer, dass sind meistens auch nette Menschen. Plötzlich sind wir unter einem irren Gestrüpp von Autobahnbrücken – und da ist er: der Rhein!!! – inklusive Radwegebeschilderung. Ich danke meinem Führer mit Handschlag – und schon ist er weg. Soviel in Sachen Vorurteile.

Herrjeh: Von Oggersheim, Helmuts Heimat, bis nach Rheingönheim – was geschätzten drei Kilometern entspricht, war ich eine geschlagene Stunde unterwegs. Die Entschädigung folgt auf dem Fuß: An der Rheinpromenade wurde ein Sandstrand aufgeschüttet: Reggae-Musik, Palmen, Liegestühle, entspannte Menschen. Erleichtert hole ich mir vom netten Strandmächen ein großes Radler und bin völlig relaxed.

Vor Altrip überholt mich ein MTBler in meinem Alter. Wir kommen ins Gespräch, plaudern ein bisschen, er kennt eine Abkürzung und freut sich, mich auf verschlungenen Wegen quer durch seinen Heimtort und vorbei an seinem Häuschen führen zu können. Prima: drei Kilometer gespart. So gleicht sich über den Tag gesehen alles wieder aus.

Es folgt eine wunderschöne Fahrt durch ein wildes Naturschutzgebiet mit weiten Wiesen, von Efeu überwucherten Bäumen, herrliche Stille und vielen Vögeln. Leider endet die Straße vor einer Baustelle, die auch für Radler gesperrt ist und so muss ich eine fünf Kilometer lange Umleitung in Kauf nehmen. Trotzdem: Mir geht´s prima, ich habe jede Menge Kraft und bin kein bisschen müde. Trotzdem reicht es jetzt. Als ich Waldsee erreiche finde ich nach einigem Fragen (Merke: Glaube nie dem ersten, der sagt, hier gäbe es kein Hotel, sondern frage auch die nette Frau von nebenan) eine Zimmer für 38 Euro im Cafe Oberst. Inzwischen ist es 18.10 Uhr. So spät habe ich noch nie aufgehört.

Beim Griechen im Biergarten und brennender Sonne genehmigte ich mir diverse Weizen und einen üppigen Grillteller. Ach Junge, geht´s mir gut.

Die Fakten:
Unterwegs: 9.20 Stunden
Gefahren: 7.14 Stunden
Schnitt: 18,84 km/h
Max: 35,8 km/h
Gefahren: 133 km
Gesamt: 7371 km
Navi: 471 km
Höhenmeter: 122 m
Höhenmeter gesamt: 1019 m


Montag, 4. Juni 2007
Waldsee – Wintersdorf 114 Kilometer


Es spielt sich ein. Punkt 9 Uhr bin ich wieder auf der Straße nach einem prima Frühstück im Hotel Oberst. Zur Einstimmung auf den Tag mache ich einen kleinen Abstecher zum Kaiserdom von Speyer. Um 11.35 Uhr bin ich wieder am Rhein und mache eine Rast in Germesheim, der Stadt des deutschen Straßenmuseums (was es alles gibt!).

Eine schöne ruhige Fahrt auf dem Rheinhauptdeich hat mich hierher gebracht. Es geht durch Wälder und Wiesen und ich bin fast immer ganz allein, die Musik von Midnight Oil im Ohr. Ein Schnitt von 21 km/h kommt mir jetzt locker aus den Beinen. In Leimersbach sehe ich wieder Weißstörche direkt am Radweg, die sich gar nicht von mir stören lassen. Weil am Damm gearbeitet wird, muss ich wieder eine Umleitung nehmen. Und schon ist der Weg wieder weg.

Während ich noch nach dem Schild zurück zum Rheinradweg Ausschau halte, sehe ich einen Radler, der über eine Karte grübelnd auf einer Brücke steht. Sein altes Herkules-Reiserad ist schwer bepackt. Ich spreche ihn an, er will auch nach Süden. Also fahren wir ein Stück zusammen. Er heißt Joscha, ist 19 Jahre alt und den 3. Tag unterwegs. Im Zelt, allein und mit wenig Geld. Acht Wochen hat er Zeit, nachdem er gerade seine Schornsteinfeger-Lehre abgeschlossen hat und sich nun auf den Weg zum Fachabitur machen will. Danach will er dann Umweltschutz studieren.

Der junge Mann ist 1,90 Meter groß und 69 Kilo leicht. Er will den Rhein entlang bis zum Bodensee, von dort nach Tschechien, zurück die Elbe hoch bis Rügen und dann die Oma in Hannover besuchen. Glückliche Jugend. Mich schätzt er auf 40. Erst als ich den Helm abnehme, sagt er: „Ja, jetzt sehe ich die 56!“

Es tut gut, mal wieder in Gesellschaft unterwegs zu sein. Bei Wörth geht´s über den Rhein Richtung Karlsruhe und dann auf dem Rhein-Radweg, erstmals rechtsrheinisch südwärts. Wir radeln durch wunderschöne Auenwälder, die Luft ist gesättigt von Pappelsamen, manchmal sieht es aus, als wenn es schneit.

Auf der anderen Seite ist schon längst Frankreich und doch ist es noch ein weiter Weg bis nach Mühlhausen.Es ist schön, in Begleitung durch diese endlosen Auenwälder zu fahren. Wir plaudern und fliegen im Gleichklang dahin. Von Anstrengung keine Spur. Manchmal brennen die Beine etwas, aber der Po hält prima durch. Ein Loblied auf das Polster in der Spezialize-Hose, das war eine gute Investition.

In Plittersdorf machen wir einen kleinen Einkaufsbummel bei Edeka. Joscha kauft sich fürs Abendessen eine Dose Ravioli für 95 Cent. So billig komme ich wohl nicht davon. Für mich tun es vier Bananen, was mir wiederum den Kommentar meines jungen Begleiters einbringt, dass er sich gottlob noch nicht so gesund ernähren müsse.Vor dem Campingplatz von Ottersdorf trennen sich schon wieder unsere Wege. Joscha hat seine 80 Kilometer für heute voll und steuert den Zeltplatz an. Wir verabschieden uns herzlich.

Ich rolle noch ein wenig weiter, aber jetzt habe ich auch keine rechte Meinung mehr. In Wintersdorf lockt das Landgasthaus „Kreuz bei Tom“ zunächst mit diesem symphatischen Namen und dann mit modernen Fremdenzimmern, die erst im April eröffnet wurde. Hier bleibe ich. Jetzt ist es 18.41 Uhr und ich sitze vor dem Gasthaus gegenüber der alten „Volks-Schule“. Vier Rennradler kommen in knallbunter Kluft heran. Sofort gibt es das übliche Woher? Wohin? Und Fragen nach Kilometern und Durchschnitt. Als ich ihnen sage woher ich komme und wohin ich will gibt es wieder jenes ungläubige Staunen, an das ich mich so allmählich gewöhne. Also einsam ist das Alleinradeln nicht.

Ich genieße ein wunderbares Rumpsteak und drei Hatz-Weißbiere mit dem sinnigen Werbespruch: Wer hat, der Hatz. Ja, die Leute sind hier kreativ. Ich glaube, ich habe jetzt erst einmal genug von all den Kurven entlang der Fluss-Radwege. Morgen fahre ich ein bisschen Straße, ich muss mal etwas Kilometer machen. Schon fünf Tage unterwegs und ein gutes Stück Deutschland und Frankreich komplett liegen noch vor mit. Und nur noch zwölf Tage bis Montpellier.


Die Fakten:
Unterwegs: 7:56 Stunden
Gefahren: 5:46 Stunden
Schnitt: 20,44 km/h
Maximal: 39,3 km/h
Gefahren: 114 km
Gesamt: 7487 km
Navi: 586 km
HM: 126 m
Höhenmeter total: 1145 m


Dienstag, 5. Juni 2007, 6. Tag
Wintersdorf – Breisach 125 km



Erstaunlicherweise kommt ich heute um Punkt 9 Uhr los – nach einem wirklich fabelhaften Frühstück. Ich glaube das wird mir fehlen, wenn ich erst einmal in Frankreich bin. Heute also Straße. Es rollt hurtig dahin über tolle Radwege entlang nahezu jeder Straße, stets schön durch Grasstreifen abgegrenzt von den Autos. Unterwegs, führt Tom, der Samariter der Radwege, einen verwirrten Rentner aus Sachsen zurück auf die rechts Spur. Der Arme hatte seine Radkarte bei einer Rast auf der Bank liegen gelassen und ist nun völlig orientierungslos unterwegs. Ich bringe ihn an den heute von mir gemiedenen Rhein-Radweg und düse zurück zur Straße.

Ich bin jetzt auf der Badischen Spargelstraße unterwegs und die Badener kennen offenbar weder Rast noch Ruh´, seit 20 Kilometern habe ich keine Bank mehr gesehen. Im Schatten der St. Joahnneskirche in Rheinbischoffsheim kann ich endlich eine Pause einlegen und die Karte wechseln.

Um 2.45 Uhr habe ich schon 60 Kilometer abgespult. Auf der Straße flutscht es doch ganz anders. Aber es ist warm. Ich raste unterm Baum im Pfarrgarten von Dundenheim. Irgendwo muss ich ja auch was dafür bekommen, dass ich seit bald 30 Jahren besonders Kirchgeld zahle, obwohl ich in keiner Kirche bin. Eine Stunde schlafe ich friedlich und unbehelligt zum Muhen der Kühe.
Ich bin so gut drauf: 25, 29, 32 km/h sind kein Problem. Bob Dylan singt, das gelbe Reclam-Büchlein von Heinrich Detering über die Songs und Alben von Dylan ist ein echter kleiner Schatz und entdecke den Lieblingssänger meiner 20er Jahre ganz neu.

Die Dörfchen sind lang, hübsch und sehr aufgeräumt. Schöne Fachwerkhäuser in Orten, die Allmannsweier, Nonnenweier und Wittenweier heißen. Das letzte Nest verkündet sogar stolz, dass es Landessieger und schönstes Dorf des Breisgaus ist. Na ja, einen großen Unterschied zu den beiden anderen konnte ich nicht erkennen.

Vorbei am Europa-Park in Rust mit riesigen Achterbahnen und endlos vielen Hotels, die bestimmten Ländern folgen – Mini-Vegas. In der Badischen Zeitung steht, dass der Europa-Park gerade zum schönsten Freizeitpark Europas gewählt wurde.

In Sasbach am Kaiserstuhl denke ich, ich sollte doch noch ein paar Kilometer am Rhein fahren, den ich heute noch gar nicht gesehen habe. Also zurück an den großen Fluss. Ein Fehler! Erstens geht es sofort wieder mit der Sucherei nach dem Weg los. Und kaum bin ich ein paar Meter auf dem hemmenden Kies neben dem Hauptdeich gefahren, kommt der Regen. Seit zwei Stunden schon hängt über dem Schwarzwald eine riesige, schwarze Gewitterwand, doch rechts von mir, war immer blauer Himmel.

Vorbei. Es pladdert aus allen Rohren, zum Glück ist es warm dabei – und noch zwölf Kilometer bis Breisach am Fuß des Kaiserstuhls. Es zieht sich, aber es hat auch was. Feuchter Dunst liegt über dem Rhein, auf dem riesige Frachtschiffe nordwärts stampfen. Schwäne gründeln unbeeindruckt und strecken putzig den Hinterleib gen Himmel. Alles tropft, die Vögel singen.

Endlich gegen 17.30 Uhr in Breisach, einer wirklich hübschen kleinen Stadt mit einem riesigen Münster, das die Stadtsilhouette beherrscht und wo, 1951, der Grundstein für die EU gelegt wurde. Ein bronzener Stier mit einer stilisierten Europa auf dem Rücken bricht symbolträchtig aus dem Pflaster. Das sie mir hier schon ein Denkmal setzen, ist wirklich sehr vorausschauen gewesen.

Im Hotel Schiff finde ich ein Quartier für 40 Euro. Pünktlich mit meinem Eintreffen in der Stadt hat es auch aufgehört zu regnen, sogar die Sonne lässt sich wieder blicken.

Nachdem ich mich leidlich abgetrocknet habe, starte ich zu einem kleinen Stadtbummel durch die Stadt, die so alt wirkt und auch über 1000 Jahre alt ist und die im Krieg zu 85 Prozent zerstört wurde - fast so stark wie Kassel.

Chinesisches Essen im Schiff, Auge in Auge mit traurigen Koi-Karpfen. Am Nebentisch essen fünf französische Frauen, die sich wunderbar leicht unterhalten. Das perlt und kichert und strahlt soviel Temperament und Selbstbewusstsein aus. Ich verstehe natürlich kein Wort, aber das ist die Sprache, die mich ab morgen begleiten wird.

Denn der Blick auf die Karte überzeugt mich, das ich schon hier in Breisach auf die französische Seite wechseln werde. Es sieht so herrlich leer aus, da drüben. Also geht es morgen nach Volgelsheim.

Die Fakten:
Unterwegs: 8:36 Stunden
Gefahren 5:50 Stunden
Schnitt: 21,85 km/h
Max: 38,7 km/h
Gefahren: 125 km
Gesamt: 7611 km
Navi: 711 km
HM: 163 m
HM total: 1308 m



Mittwoch, 6. Juni2 007, 7. Tag
Breisach – Etupes 120 Kilometer



Inzwischen habe ich die Länder des Bellheim und des Hatz-Bieres durchquert und bin im Reich des Freiburger Ganter Bräus angekommen. Nebenbei waren es auch die Bundesländer Hessen, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg. Nun also werde ich bald im Land des Rotweins, des Kronenbourg-Bieres und einer mir weitgehend unbekannten Sprache sein. Tschüs, Deutschland, salu France.

Nach dem einsamen Frühstück im Schiff in Gesellschaft der netten Chinesin – ich war tatsächlich der einzige Gast und jede Tasse Kaffee musste ich einzeln ordern und sie wurde von der Frau mit asiatischer Geduld serviert – radele ich kurz zur Tanke, um den Dreck der gestrigen Regenfahrt vom Rad zu spülen. Alles voller Sand. Kurz die Kette geölt, frische Luft in die Reifen und schon überquere ich die Rheinbrücke ins gelobte Land.

Um 10 Uhr ist es geschafft. Ich bin in Frankreich. Je sui en France!! Oder so ähnlich.

Auf der kerzengerade D 32 geht es stracks südwärts, kaum Verkehr, nur manchmal kippt mich ein Lastzug fast vom Sattel. Ein bisschen Southwest-Feeling stellt sich ein, weil die einsame Straße manchmal förmlich am grünen Horizont verschwindet. Aber ich bin so stolz, dass ich schon mal so weit gekommen bin, dass mich nichts erschüttern kann. Lastzüge saugen mich auf und spucken mich wieder aus wie einen alten Kaugummi.

Ich rolle die ersten 30 Kilometer leicht dahin mit 25 km/h. Die Sonne wärmt angenehm, Kinder radeln an meiner Pausenbank vorbei und grüßen artig.12.34 Uhr: Die ersten 50 Kilometer in Frankreich sind abgespult. Bei Petit Landau rechts ab auf einer schönen mählichen Steigung durch den Hardt-Wald.
Meine erste Pause am Rathaus von Habsheim südöstlich von Mulhouse. Ich kaufe zwei Gebäckstückchen bei der sehr freundlichen Madame, es klappt, und tatsächlich: Kein Wort Deutsch mehr, alles Franzosen.

Erstaunlich leicht umrunde ich Mühlhausen, von Großstadt ist eigentlich gar nichts zu spüren. Alles atmet ländliche Ruhe in hügeligem Bauernland. Allerdings muss ich dabei zwei knackige Anstiege bewältigen. Macht nichts, Steigungen verlieren allmählich ihren Schrecken. Dafür werde ich mit einer langen schönen Talfahrt nach Brunstatt belohnt.

Die D 18.5 indes ist stark befahren. Bis Froeningen macht es einfach keinen Spaß, eine Alternative gibt es aber auch nicht. Immerhin kann ich jetzt auf winzig kleine Straßen ausweichen und sofort sind die Autos verschwunden. Bei einer Pause an einem stinknormalen Straßenlokal zahle ich für zwei kleine Radler 7 Euro. Junge, Junge, ab jetzt nur noch Getränke an der Tanke.

Ab jetzt wird es richtig knackig! Es ist ein ständiges Auf und Ab mit zum Teil ziemlich deftigen Anstiegen. Ab ich muss kein einziges Mal vom Rad!! Von Dannemarie bis Delle geht es durch eine wunderschöne Hochebene durch Wiesen und Wälder mit vielen Kühen und wenig Verkehr.Bei Vellescot steht auf einer Anhöhe ein alter Weltkrieg-II-Panzer, ein Denkmal für das Afrika-Corps, das hier offenbar auch gegen die Deutschen gekämpft hat. Die Kanone zeigt direkt auf die französische Flagge, seltsame Symbolik.

In Delle gibt es zwar ein hübsches Zentrum, aber leider kein Hotel. Eigentlich bin ich müde, aber es hilft ja nichts. Also weiter nach Beaucourt, noch acht Kilometer. Aber was für welche!! 10 Prozent Steigung klettere ich hinauf, staune über mich selbst. Die Sonne brennt, ich habe einigermaßen genug und weit und breit kein Hotel in Sicht.

Wenn ich danach frage, ernte ich nur ratloses Kopfschütteln. Weiß nicht, ob es an meinem Gestammel „La direction Hotel???“ liegt, oder ob es hier wirklich keines gibt. Dabei ist Beaucourt doch eigentlich gar nicht so klein. Also noch mal zehn Kilometer weiter nach Montbeliard. Zwei dicke Bauarbeiter haben gesagt, kurz vorher gebe es ein Motel – wenn ich sie denn richtig verstanden habe. Na denn.

Immer wieder Steigungen, aber erstaunlicherweise spielen die Beine mit. Im Kopf bin ich kaputt, aber weiter unten geht es noch. Geistig ermattet verfehle ich mal wieder den richtigen Weg – was sich aber diesmal als Glücksfall erweist. In Dampierre-les Bois stecke ich den Kopf unter das herrlich kühle Wasser des Dorfbrunnens. Ein Bild davon gibt’s leider nicht, ich bin zu müde. In Etupes habe ich dann eine Art Fata Morgana: Ein Motel, vorn Frankreich pur, hinten Amerika. Und die liebe Madame hat tatsächlich noch ein Zimmer frei für schlappe 44 Euro. Vor ein paar Tagen in Flörsheim habe ich ein recht komfortables Zimmer für 45 Euro noch entrüstet abgelehnt, jetzt greife ich bei der armen Butze zu wie bei einem Hauptgewinn und habe sogar noch einen Pool vor der Tür.

Madame serviert mir ein herrlich riesiges Kronenbourg zum Tagebuchschreiben vor mein Zimmer. Genau jetzt, wo ich im Trockenen sitze, geht ein gemütliches, kleines Gewitter nieder, dicke Tropfen platschen in den Pool, manchmal streift mich ein Hauch Wasser auf der noch ungeduschten Haut, Ha! Das Leben in Frankreich ist soo schön.

Das Motel füllt sich. Abends sitze ich auf der Terrasse mit gut 20 Männern die vor sich hinschweigen und Essen in sich reintun. Mir gegenüber ein muskulöser junge Mann mit arabischem Aussehen in Begleitung einer ganz attraktiven Mittvierzigerin. Der Junge raucht ohne Ende und sie guckt ihn an und sucht verzweifelt nach eine Gesprächsthema. Klappt aber nicht. Na ja, nachher, wenn der Junge sein Pflicht tut, gibt es nicht mehr viel zu reden.


Die Fakten:
Unterwegs: 8.37 Stunden
Gefahren: 6.10 Stunden
Schnitt: 19,8 km/h
Max: 53,3 km/h
Gefahren: 120 Kilometer
Navi: 831 km
Höhenmeter: 632 m
Höhenmeter total: 1783 m


Donnerstag, 7. Juni 2007, 8. Tag
Etupes – Chalezeule 108 Kilometer


Frühstück kostet in Frankreich extra, da muss ich mich erst dran gewöhnen, also löhne ich brav meine 8 Euro, erhalte dafür ein leidliches Petit Dingsbums, blättere in einer französischen Zeitung, gucke mir die Bilder und das Layout an. Ich habe geschlafen wie ein Ratz in meinem Zimmerchen, dass ungefähr genauso groß war, wie mein Doppelbett - aber mit TV.

Es ist bewölkt, als ich mich auf die Suchfahrt nach dem Doubs mache. Start um 8.57 Uhr ! Rekord! Es herrscht ein ziemlicher Verkehr, aber die Franzosen nehmen mich als Hindernis gelassen hin. Schon nach 15 Kilometern bin ich am Doubs, dem ich nun eine gute Weile folgen will. Die Stimmung im ein-Mann-Team ist prima, ich singe alle Lieder aus Brechts Mahagonni, die mir einfallen.

Bei Colombiere-Fontaine wechsele ich versehentlich die Flussseite und komme auf die N 463, die es mir mit einem schönen Berg dankt. Aber da kommt ja auf des Berges Gipfel ein kleiner Trost: Hinweisschild auf eine Abkürzung! Die nehme ich.

Das hätte ich besser nicht getan. Ich lande in Blussangeaux, wo vor mir, glaube ich, noch kein Mensch außer der hier lebenden Bevölkerung gewesen ist. Eine gnadenlose Sackgase, vor mir der Fluss, hinter mir der Berg, den ich gerade beherzt heruntergerollt bin. „Schwimmen“, lautet die lakonische Antwort eines Franzosen auf die Frage, wie ich nach Isle-sur-Doubs komme. Dann wendet er sich seinen beiden Begleiterinnen zu, zuckt die Achseln und sagt: „Les Allemane!“

Irgendwie trifft mich das, aber er hat ja auch Recht. Also fahre ich durch das zugegeben sehr schöne Flusstal zurück, strampele den Berg wieder hoch und fahre und fahre über die ungeliebte Nationalstraße nach L´Isle sur le Doubs. Keine Ahnung, was ich mir davon versprochen habe, war nix Dolles. Aber der Kaffe war okay.

Die geplante Route finde ich mal wieder nicht, also zurück auf die ungeliebte N 83. So schlimm ist es aber gar nicht. Über Rang geht es ins hübsche Clerval und dann finde ich endlich die Nebenstrecken und die winzigen Straßen. Die sind wirklich wunderschön. Winzige Flecken mit Brunnen, deren Wasser ich inzwischen unbesorgt trinke, weiße Kühe die mich in himmlischer Ruhe betrachten. Aber diese Steigungen!

Immerhin habe ich Bergen gegenüber inzwischen ein ziemlich stoische Haltung. Sie sind da, also muss ich drüber. Kleinster Gang, Augen auf die Straße und kurbeln. Schneller als geglaubt bin ich oben, rolle ein paar Meter runter und dann wieder hoch. In Roche les Clerval Rast am Brunnen, kopf drunter, Handschuhe auswaschen, weiter. Die Landschaft ist einfach großartig. Steile Felswände, Wälder und Wiesen, Bauerndörfer und offenbar uralte Häuser aus Natursteinen.

Um 14.30 Uhr bin ich in Beaumes les Dames. Vor der aus grauen Steinquadern gebauten Kirche mache ich eine Pause beim Panachee. Mächtige Glocken rufen die Leute zum Gebet, schließlich ist heute Fronleichnam. Wie weiter? Einen kurzen Moment war ich versucht, einfach hier zu bleiben, weil es so ein paar hübsche kleine Hotels gibt. Aber es ist noch viel zu früh. Ein dicker Franzose meines Alters kann Englisch! So was gibt´s wirklich. Er zeigt entschuldigend auf seine dicke Kulle und sagt, früher sei er auch mal Radfahrer gewesen, aber heute... Eindringlich warnt er mich vor dem Weg über Silley-Blefond, nach dem ich ihn gefragt habe. Bloß nicht, tödliche Steigung! Ich soll lieber über Esnaus fahren, da gibt es auch eine Steigung und ab da nur noch flach.

Und wirklich, es wird eine wunderbare Fahrt. Breit gleitet der Doubs dahin, steile, dicht bewaldete Berge mit großen Felswänden dazwischen. Zum Glück muss ich da nicht drüber. In weiten Kurven folge ich dem Fluss durch eine Landschaft, die eine Ruhe atmet, wie sie der Seele gut tut.

Es geht auch anders. Bis Novillars geht es über eine zermürbend lange Gerade, die sich kilometerweit vorn im Nichts verliert und bei der mir ein kräftiger Wind auf der Brust steht. Dann verstehe ich mal wieder den Weg nicht, der weg vom Fluss einen steilen Berg hochführt. Das kann ich nicht mehr.

Jetzt wird´s ernst. Zurück auf die N 83, direkt auf diese riesige Stadt Besancon zu. Es wird spät, es ist heiß, ich kann nicht mehr, habe Angst vor der Stadt und keine Ahnung, wie ich hier ein Hotel finden soll. Bald wird die Straße vierspurig, ich fühle mich wie ein Geisterfahrer auf der Autobahn, die Autos rasen vorbei, manche hupen. Klar, hier habe ich nichts verloren. Mir wird echt mulmig.

Kurz vor dem Eingang nach Besancon mache ich noch mal ein Bild vom Rad vor dem großen Wegweiser in die Stadt. Da muss ich jetzt rein und ich fasse alle Mut zusammen.

Eine Steigung. Ich wackele hinauf und werde von den Lkw durchgeschüttelt. Irgendwann kapituliere ich, steige vom Rad und schiebe auf dem von halbmeterbreiten Wasserdurchlässen unterbrochenen Seitenstreifen bergwärts.

Dann die Rettung: Der Abzweig nach Chalezeule, die ich schiebend erreiche – das erste Mal auf dem ganzen Weg. Kaum bin ich von der N 83 weg, umfängt mich unwirkliche Ruhe. Der Doubs steht still wie ein See vor mir, mit Wasser gefüllte Ruderboote dümpeln am Ufer, Vögel zwitschern, kaum ein Mensch zu sehen. Und dann das Hotel 3 Iles un Relais du Silence. Wirklich! Es ist himmlisch ruhig hier. Kaum zu glauben, nur drei Minuten vom tosenden Highway entfernt.

Ein netter, dicker Franzose mit rudimentären Englisch-Kenntnissen sagt mir, welch ein Glück ich habe. Gestern war das Hotel ausgebucht, wegen einer Tagung in Besancon. Im 3. Stock beziehe ich mein Zimmer 17, Geranien auf der Fensterbank, Blick auf Berge und Burgruine, 52 Euro, heute fällt das Dinner aus. Ich frage meinen Wirt nach einem schönen kalten Bier, er hebt den Zeigefinger: Das hat er. Er geht an die dunkle Bar, greift ein Bier mit Champagner-Korken drin, löst den Drahtverschluss es ploppt angenehm und ich weiß, dass ich jetzt das teuerste Bier meines Lebens trinken werde.

Am breiten, ruhigen Doubs entlang gehe ich zehn Minuten zu einem absurd großen Einkaufszentrum, die USA lassen grüßen. Ich kaufe Bordeaux, Käse, Wurst, Nüsschen und Bier für meine Zimmerparty, breite die Herrlichkeiten auf dem Bett aus und versuche den enormen Flüssigkeitsverlust des heutigen Tages auszugleichen.

Was für ein Glück: Im TV gibt es auch noch ARD. Da läuft leider „Deutschland lacht“, worüber ich eigentlich? Selten so etwas Blödes gesehen. Aber mir geht’s wirklich gut. Keine Ahnung, wie ich morgen durch oder um diese Stadt komme. Aber es wird schon gehen. Alles geht. 21.15 Uhr. Draußen regnet es, der Donner grollt. Ist das nicht einfach wunderbar?


Die Fakten:
Unterwegs: 8:19 Stunden
Gefahren: 5:52 Stunden
Schnitt: 18,85 km/h
Max: 46,1 km/h
Gefahren: 108 km
Navi: 939 km
Höhenmeter: 485 m
Höhemeter total: 2226 m