Re: Andalusien Ostern 2011

von: Tom72

Re: Andalusien Ostern 2011 - 26.01.13 19:56

9. Tag (16.04.2011), Marchena-Grazalema, 93 km

Tatsächlich schaffe ich es, gegen acht Uhr loszukommen, für meine Verhältnisse erfreulich zeitig. Heute will ich auf alle Fälle in die Sierra de Grazalema kommen, über den Paß Puerto des las Palomas fahren (1189 m), den ich als einen der landschaftlichen Höhepunkte in die Tour eingeplant habe, und den für den Naturpark namengebenden Ort Grazalema erreichen. Zumal ich morgen in Ronda sein „muß“, um dort die Palmsonntags-Prozessionen zu sehen. So habe ich heute etwa 90 km vor mir, was im Grunde nicht viel ist, aber einiges an Höhenmetern beinhaltet.

Über die A 364 und 361 erreiche ich nach knapp 30 km ohne viel Verkehr Morón de la Frontera, wo ich erstmal ausgiebig frühstücke. Hinter dem Ort zweigt die A 8126 ab, die direkt in die Sierra de Grazalema führt. Hier gibt es kaum Autoverkehr, und ein großes Schild „Precaución ciclistas“ weist darauf hin, daß diese Strecke bei Radfahrern beliebt ist; vereinzelt begegne ich auch welchen, fast ausschließlich Rennradlern. Langsam wird die Landschaft gebirgig, und es geht, zunächst mäßig, bergauf.



Ich überquere die Grenze zur Provinz Cádiz, komme durch Coripe und quere die Vía verde de la Sierra. Ich hatte bei meiner Planung überlegt, diesen Bahntrassenradweg in meine Route einzubauen, davon aber Abstand genommen, weil er ost-westlich verläuft, während ich Richtung Süden und letztlich bei Algeciras ans Mittelmeer will. Die Landschaft ist fantastisch, je mehr ich an Höhe gewinne und in die dünnbesiedelte Bergwelt eintauche. Inzwischen bin ich auch besser in Form als am Anfang der Reise, so daß mir die Steigungen keine große Mühe mehr bereiten. Unten im Tal sehe ich noch einmal die Vía verde, die in einem Tunnel verschwindet.







Die Straße ist schmal, in gutem Zustand, und ich habe sie fast für mich allein. Je höher ich auf den Serpentinen komme, desto fantastischere Ausblicke auf die einsame, zunächst noch mit niedrigen Bäumen, weiter oben mit niedrigem Buschwerk bewachsene Berglandschaft kann ich genießen bei fast wolkenlosem Himmel.



Lange begegne ich niemandem außer einer Herde Ziegen, die sich auf der Straße tummelt, weil ein Weidezaun schadhaft ist. Nach einem kurzen Stück über eine verkehrsreichere Straße (A 384) geht es wieder auf einer kaum befahrenen Straße (A 3200) weiter aufwärts (ein Schild verweist auf den Beginn des Parque Natural Sierra de Grazalema), bis die Straße die Staumauer des Stausees Embalse de Zahara überquert. Von hier hat man einen schönen Blick auf den Ort Zahara de la Sierra hoch oben am Hang (ich werde im weiteren Verlauf der Reise noch durch ein weiteres Zahara kommen, Zahara de los Atunes an der Costa de la Luz), wo die Straße über den Puerto de las Palomas beginnt.



Es geht weiter aufwärts nach Zahara, wo ich mich für den Paßanstieg stärke. Das Gericht, das ich mir empfehlen lasse, stellt sich als eine Art Roulade heraus; sehr lecker.

Nun nehme ich den Puerto de las Palomas in Angriff. Die Strecke erweist sich tatsächlich als ein Höhepunkt der Reise. Die Straße windet sich in endlosen Serpentinen aufwärts, ist zwar anstrengend, die Steigung hält sich jedoch in vertretbaren Grenzen; meinem Tacho zufolge überwiegend deutlich unter 10 %, nur einmal messe ich 11 %. Das Landschaftserlebnis ist überwältigend, von jeder Kurve aus ergeben sich neue Ausblicke auf den Stausee, auf die Berge und auf die bereits zurückgelegten Serpentinen. Ab und zu halte ich kurz an, um zu verschnaufen und das grandiose Panorama zu genießen. Ich habe die Straße fast für mich allein, nur ein oder zweimal kommt ein Auto vorbei. Beim Blick zurück auf die Windungen der bereits bewältigten Strecke drängt sich der Vergleich mit einer Achterbahn auf.









Schließlich zeichnet sich beim Blick nach oben die Stelle ab, die den höchsten Punkt zu markieren scheint. Dort angekommen, habe ich tatsächlich die Paßhöhe erreicht. Das Schild, vor dem ich mich mit Selbstauslöser fotografiere, weist eine Höhe von 1357 m aus; tatsächlich sind es aber nur 1189 m; warum die Angabe auf dem Schild dermaßen übertreibt, bleibt mir schleierhaft.




Auf dem Parkplatz ist nur ein Pärchen, das im Auto sitzend die Aussicht genießt, und ein Rennradfahrer, der aus der anderen Richtung kommt und, offenbar unbeeindruckt von der Landschaft, nach einem kurzen Blick ins Tal und einem tiefen Schluck aus seiner Wasserflasche Richtung Zahara weiterfährt. Dies ist zwar nicht mein höchster (das waren zu dem Zeitpunkt die Pässe Cruz de Ferro auf dem spanischen Jakobsweg und der Reschenpaß mit jeweils etwa 1500 m und auf späteren Reisen der Coll de la Creueta in den Pyrenäen mit 1900 m und der Mont Ventoux mit 1912 m) und auch nicht mein schwierigster bisher gefahrener Paß, aber wohl einer der schönsten, und ich bin sehr zufrieden.

Es ist nun schon nach sieben, es ist noch hell, aber da die Abfahrt schon im Schatten liegt, ist es etwas kühl, und ich beeile mich, zumal ich nicht weiß, wann der Campingplatz in Grazalema schließt. Die Abfahrt ist kürzer und kommt mir steiler vor als die Auffahrt. Schnell bin ich am Campingplatz oberhalb von Grazalema, gönne mir erstmal ein Bier in der Bar des Platzes und baue dann mein Zelt auf. Der Campingplatz ist schön gelegen und kaum ausgelastet. Außer mir ist im Wesentlichen noch eine Gruppe spanischer Pfadfinder dort.

Auf der Suche nach einem geeigneten Restaurant zum Abendessen im unterhalb des Campingplatzes gelegenen Grazalema mache ich aus Sorge, es könnte schon alles geschlossen sein, da der Ort bereits recht ausgestorben wirkt, den Fehler, im erstbesten Restaurant einzukehren; man kann leider nicht draußen sitzen, und ich bin der einzigen Gast; das Personal wirkt fast ein wenig genervt, daß sie noch etwas zu tun bekommen. Daß der eigentliche Ortskern mit zahlreichen netteren Restaurants, die sicher auch noch geöffnet gewesen wären, nur ein paar Schritte weiter liegt, stelle ich erst am nächsten Morgen fest. Aber egal, die heutige Etappe war einfach phänomenal.

10. Tag (17.04.2011), Grazalema-Ronda, 38 km

Heute ist keine lange Strecke geplant, nur gut 30 km; ich will gegen Mittag in Ronda sein und mir die Palmsonntagsprozessionen ansehen (davon finden heute, auf den ganzen Tag verteilt, drei statt), denn heute beginnt die Semana Santa, die Osterwoche. Ich baue mein Zelt ab, packe und frühstücke in einem der Cafes auf dem Dorfplatz, den ich gestern abend ja nicht gefunden hatte. Grazalema zählt zu den für die Region typischen „pueblos blancos“, den weißen Dörfern (wie bereits Zahara), die durch ihre strahlend weiß verputzten Häuser charakterisiert sind. Man hat den Eindruck, daß die Fassaden regelmäßig neu gestrichen werden, um diesem „Prädikat“ gerecht zu werden. Vor den Cafés auf dem Dorfplatz sitzen vor allem Motorradfahrer, einige Radler und viele Wanderer – die Sierra de Grazalema ist ein beliebtes Wanderrevier.



Der Ort liegt am Hang, und man kann weit in die Landschaft blicken und auf die von Grazalema aus hinunterführende Straße, auf der ich nun meine Fahrt fortsetzen werde.



Die verkehrsarme Straße (A 372), auf der einige Rennradler unterwegs sind, führt mich landschaftlich reizvoll in die Provinz Málaga, aus dem Naturpark hinaus auf eine größere Straße (A 374), und dann kommt auch schon Ronda in Sicht. Die Stadt liegt erhöht auf einem Plateau auf gut 700 m Höhe, und so habe ich einen langen Anstieg zu bewältigen. In der Altstadt angekommen, sehe ich mir, bevor ich den Campingplatz ansteuere, erst einmal die bereits laufende erste von drei heute stattfindenden Prozessionen an.

Die Altstadt besteht aus zwei Teilen, der eigentlichen Ciudad und dem kleineren Stadteil El Mercadillo, die durch eine über 100 m tiefe Schlucht getrennt sind, über die das Wahrzeichen Rondas führt, die im 18. Jahrhundert erbaute, beeindruckende Brücke Puente Nuevo, die La Ciudad und El Mercadillo verbindet; nicht besonders lang, aber faszinierend wegen ihrer Höhe.



In den Gassen herrscht Gedränge durch die vielen Einheimischen und Touristen, die die Strecke der Prozession säumen. Mir gelingt es, mit meinem Rad irgendwie durch die Menge zu kommen und einen geeigneten Platz zu finden, von wo aus ich in Ruhe das beeindruckende Schauspiel verfolgen kann.

Die Osterprozessionen finden in vielen Orten Spaniens statt, ganz besonders aber in Andalusien, in der gesamten Karwoche von Palmsonntag bis Ostersonntag, aber nicht in allen Orten an allen Tagen. Organisiert werden sie von sogenannten Bruderschaften (Hermandades), die jeweils einer Kirchengemeinde zugeordnet sind und jeweils eine Prozession an einem bestimmten Tag der Semana Santa durchführen. Die größeren Prozessionen, wie hier in Ronda, bestehen aus mehreren hundert Teilnehmern in langen Gewändern in der Farbe der jeweiligen Hermandad (diese hat weiße). Zentrum des Zuges sind ein oder wie in diesem Fall zwei „Pasos“, überlebensgroßen Figuren bzw. Szenen aus der Passionsgeschichte, jeweils entsprechend dem betreffenden Tag der Osterwoche, und die von etwa zwei Dutzend Männern an langen, vorne und hinten herausragenden Balken auf der Schulter getragen werden. Heute ist Palmsonntag, der erste Tag der Osterwoche, und dementsprechend trägt die gerade prozessierende Bruderschaft den klangvollen Namen „Hermandad de nuestro Padre Jesús en su Entrada Triunfal en Jerusalén y María Santísima de la Paloma“, und eines der beiden Pasos stellt folgerichtig Jesus auf einem Esel beim Einzug in Jerusalem, geschmückt mit Palmenzweigen, dar (das andere ist eine riesige Marienstatue). Dazwischen marschieren die Gruppen der „Büßer“ mit ihren das Gesicht verhüllenden und nur zwei Löcher für die Augen freilassenden hohen, spitzen Hüten, die ein wenig an den Ku-Klux-Klan erinnern.





Video; zum Ansehen anklicken!

Einige Teilnehmer sind für das Schwenken von Weihrauchkesseln zuständig. Außerdem gehören zum Zug eine oder auch mehrere Marschkapellen, die mal feierliche Melodien, mal schneidige Marschmusik unter intensiven Einsatz von Pauken und Trommeln spielen. Ein beeindruckendes Schauspiel, selbst für mich als Nicht-Katholik ergreifend. Als ich mein Rad entlang der Prozessionsstrecke durch die Menge schiebe, um den Zug noch mehrmals vorbeiziehen zu sehen und zu fotografieren, kann ich es mir nicht verkneifen, meinen Schritt dem Rhythmus der Marschmusik anzupassen.

So eine Prozession ist sehr langsam unterwegs, immer wieder wird angehalten, und für die Strecke, die in der jeweiligen Kirche ihren Ausgang (Salida) und Einzug (Entrada) hat und auf einer festgelegten Route durch die Stadt führt, braucht sie mehrere Stunden; die aktuelle Prozession ist laut Programm seit 11 Uhr unterwegs und hat ihre Entrada um 15.30 Uhr. Heute prozessieren in Ronda noch zwei weitere Hermandades (17.00 bis 23.30 Uhr und 20.00 bis 01.30 Uhr). Ich habe also für den Abend volles Programm und fahre erstmal zum Zeltplatz etwas außerhalb der Stadt.

Der Platz ist schön, ich baue mein Zelt neben dem eines britischen Ehepaares auf, das auch auf Radreise ist und mit dem ich mich kurz unterhalte. Später geht es zurück in die Stadt, um den Auszug der 20.00-Uhr-Prozession aus ihrer Kirche zu sehen (Iglesia Santa María la Mayor im Viertel El Mercadillo), schaue mich aber vorher noch ein wenig in der Stadt um, vor allem rund um die Puente Nuevo.



Mir gelingt ein Video einer Kapelle, die gerade die Brücke überquert, um zu der gleich beginnenden Prozession zu stoßen:

Video; zum Ansehen anklicken!

Vor der Kirche hat sich bereits eine große Zuschauermenge versammelt, und alle warten gespannt auf den Auszug, die Salida, der Prozession. Aus Blechfässern qualmt Weihrauch und nebelt die Wartenden ein. Schließlich kommt mit Pauken und Trompeten die Marschkapelle anmarschiert und verschwindet in der Kirche, hintendrein eine zweite (wohl die Kapellen, die die Mittags-Prozession begleitet haben).





Obwohl die Prozession dadurch vollständig sein müßte, verzögert sich der Auszug. Endlich kommt der Zug aus der Kirche. Diese Hermandad hat dunkelrote Gewänder, ansonsten verläuft alles im Prinzip wie bei der Prozession von heute Mittag. Auch diese Prozession führt zwei Pasos mit, die allerdings ein anderes Konstruktionsprinzip aufweisen: Die beiden Pasos werden nicht von außen an langen Balken getragen, sondern die Träger (wohl etwa zwei Dutzend) sind unterhalb der Pasos verborgen, so daß nur ihre Füße unter einem umlaufenden Vorhang zu sehen sind. Damit sie wissen, wo es langgeht, bekommen sie Anweisungen von einem Begleiter, denn sehen können sie nichts.

Es dämmert langsam, und es kommt ein frischer Wind auf, so daß ich beginne, zu frieren. Also radle ich zurück zum Campingplatz, um mir alles an warmen Jacken zu holen, das ich dabeihabe, denn ich habe vor, mir die Prozessionen bis zum Schluß anzusehen. Daß die steife Brise der Vorbote eines Wetterumschwungs ist, zeigt sich dann am nächsten Tag.

Zurück in der Stadt, warm eingepackt in Fleece-, Wind- und Regenjacke, lasse ich das nächtliche Treiben auf mich wirken, ganz Ronda, Einheimische und Touristen, ist wegen der Prozessionen auf den Beinen, die Altstadt ist bis spät nachts belebt. Ich betrachte die Prozessionen (neben der, deren Auszug ich gesehen habe, ist auch noch die von 17.00 Uhr unterwegs) und kehre zwischendurch zwei- oder dreimal auf ein Glas Wein und ein Tapa in eine der zahlreichen gut gefüllten Kneipen ein. Fotos der nächtlichen Prozessionen gelingen mir leider nicht zu meiner Zufriedenheit.



Ich harre aus, bis auch die um 20.00 Uhr gestartete Prozession wieder in ihre Kirche einzieht – deutlich später als, wie im Programm vorgesehen, 01.30 Uhr. Es ist nun doch recht kalt. Irgendwann zwischen zwei und drei Uhr liege ich im Zelt.

Fortsetzung folgt...