Re: Große Jura-Prüfung 2012

von: veloträumer

Re: Große Jura-Prüfung 2012 - 04.02.13 21:08

2. Jouristische Prüfung:
Wetterfestigkeit und jurassische Philosophie

Jura Suisse du Sud I: Denkerorte und Rauschzustände – Die Region Neuenburg mit dem Val de Travers und Chasseron


So 20.5. Sutz – Biel – Evilard – Orvin – Les Roches (893m) – Prêles – Lignières – Métarie du Landeron (~950m) – Les Gravereules (944m) – Lordel – La Dame (1227m) – Chaumont – Neuchâtel – Col de la Tourne (1170m) – Noiraigue
88 km | 11,5 km/h | 7:37 h | 1740 Hm
W: 15/24 °C, teils dicht bew., teils heiter, auch heiß, Gewitter abends, Regennacht
E: Salat, Käseauflauf, Rw, Cafe ~26 €
Ü: C wild 0 €

Der Abschied war denn auch mit einem weinenden und einem lachenden Auge. Lachend, weil ich Sehnsucht auf neue Radreviere hatte und dazu die Sonne des Morgens einlud. Sonntagfrüh zeigte sich die Bieler Altstadt von ihrer stillen Seite – man könnte Stecknadeln fallen hören. Auch in Biel gibt es ein paar historische Brunnen – ähnlich in der Machart zu den Berner Brunnen, mit weinroter Säulengrundfarbe und goldfarbenen Streifen und Ornamenten. Der Engelsbrunnen zeigt einen Engel mit Schaf im Arm, dass ein außerirdisch wirkender Teufel zu begehren sucht. Er war bereits Thema des Bilderrätsels 794

Schwerpunkt dieses Kapitels ist zwar das Neuenburger Jura, aber ein bergiger Teil rund um den Chasseron reicht im Süden zwischenzeitlich bereits in den Waadtländer Jura, im Nordwesten hier und heute muss ich aber einen Weg noch aus der Bieler Region finden. Hierzu führt meine Route zunächst auf unterschiedlich steilen Passagen via dem aussichtsreichen Bieler Höhenvorort Evilard über einen Hochpunkt mit Brunnen in einem Waldgebiet, wo sich Jogger und Mountainbiker gerne tummeln – hier zweigen Höhenforstwege ab. Mit Orvin erreicht man schon eine bäuerliche Umgebung, eine lang gezogenes Tal mit eher mittelmäßiger Steigung über ein wenig markanten Hochpunkt, über den man Lamboing erreicht, die Chasseral-Route kreuzt und panoramareich auf die Berner Alpen und den Bieler See schaut.

Die Chasseral-Fahrer werden es ebenso wissen wie die Leser meiner Nordjura-Tour, dass man sich hier auf den Spuren der Kriminalgeschichte von Friedrich Dürrenmatt bewegt. Dürrenmatt, der nicht nur Schriftsteller und Dramatiker war, sondern auch Maler und Philosoph, steht für eine der universellen Denker, die sich lange in diesem Landstrich des Juras aufgehalten haben. Dürrenmatt lebte nach einer kurzen Zeit in Schernelz von 1952 an bis zum seinem Tode im Jahre 1990 in Neuenburg. Dürrenmatt gehört zu den bekanntesten unbequemen modernen Schweizer Geistern, die sich gegen die traditionsbehafteten Verkrustungen auflehnten, nicht den Skandal und eine Unbeliebtheit fürchteten und global bedeutende Fragen der Moderne stellten wie die ethische Verantwortung des Wissenschaftlers für die Entwicklung der Zukunft in der Welt. In gewisser Weise auch ein leitender Geist meines Denkens, womit ich schon den philosophischen Akzent dieses Kapitels angerissen habe.

Bevor ich aber die elegant-gepflegten Seepromenaden Neuenburgs erreiche, stehen noch einige schöne Strecken dazwischen. Von Lignières bewege ich mich nicht ganz geplant auf einer Südhanglage zu dem Hochpunkt Métarie du Landeron, an dem sich ein Gasthaus mit lokaler Küche befindet – Ausflugslokal in einer Wanderregion. Die Südhangroute (ich wollte eigentlich nördlich um den Berg rum) erweist sich als traumhafte Panoramastrecke – ein Zweiseenblick über Sonnenblumenfelder hinweg. Hier und noch bis La Dame sind die Temperaturen sommerlich, in der Sonne schon fast gnadenlos heiß beim Anstieg nach La Dame – eine einsame wie gleichwohl sehr steile Passage durch Wald, oben mit kurzem Pistenanteil durch Weidewiesen aus einem gelben Meer an Löwenzahn vorbei.

Nach alten Steinmauern und dem Hof geht es wieder asphaltiert weiter mit Alleencharakter, ein paar Felspassagen an enger Straße und alsbald mehr Alleen auf der Chaumont-Höhenroute. Teilweise liegen gepflegte Villen an der Straße, in Chaumont-Ort steht ein moderner Aussichtsturm und eine Zahnradbahn verbindet den Ausflugsort (MTB-Park) mit einem Vorort von Neuchâtel. Diese sehr empfehlenswerte Strecke schiebt sich unrhythmisch in einigen Steilschwüngen nach unten, die finale Abfahrt nach Neuchâtel lässt lange auf sich warten. In den Höhenlagen von Neuchâtel wähle ich noch abseits der Straße einen Anwohnerweg, der parallel zu einer Zahnradbahn liegt – Bremsgummivernichtungsstrecke für Mutige. teuflisch

Mittlerweile war es unschön grau bewölkt geworden – am Seeufer gab es nochmal Lichtblicke und für kurze Momente hätte ich mir die Klamotten vom Leibe reißen können. Neuenburg ist am Seeufer mondän, modern, jugendlich und etwas Schickimicki, aber auch entspannt und geruhsam, wenn nicht gerade an den Schiffsanlegestellen Betriebszeit herrscht. Die Altstadt liegt etwas abgetrennt dahinter, steigt recht schnell an und die Ausfahrt führt nicht ganz übersichtlich über und durch ein Gewirr von Verkehrsachsen (Straße, Bahn).

Verlässt man die N 10 ins Val de Travers (bereits deutlich oberhalb des Seeufers) in Richtung Col de la Tourne, kann der Radler wieder freier atmen – der Verkehr ist nur noch gering. Die knapp 1200 m erreicht man natürlich nicht auf einer Spazierfahrt, das kostet schon ein paar Körner, die man mit einigen tollen Ausblicken versüßt bekommt. Spätestens mit der Passhöhe verdunkelt sich aber der Himmel auf fast nächtliches Schwarz, Blitze zucken auf einer kurzen Passage über eine Hochebene – für die Abfahrt muss ich die Regenjacke vorhalten. Ich hatte Zweifel, überhaupt weiter zu fahren, die himmlischen Drohgebärden waren schaurig – vielleicht Zeichen des Teufels vom Bieler Engelsbrunnen? Zumindest für kurze Zeit war die Flucht in den Abgrund die richtige Wahl.

Nicht weniger dunkel allerdings liegt das Val de Travers dann zu Füßen, die Areuse schlängelt sich in einem eher flachen Abschnitt nebst Straße und Bahnlinie. Das Tal scheint bei Noiraigue jedoch fast undurchdringlich abgeschnitten. Die stark befahrene N 10 nimmt Kurs weit nach oben, um die Schluchtklause zu umfahren. Die Alternativen sind ein Fußweg an der Areuse entlang mit Schluchterlebnissen dazwischen, mit Mountainbike für Tragewillige auch begrenzt fahrbar (evtl. ein paar schwierige Tritt- bzw. Treppenpassagen, auch klitschig). Die reguläre Radroute hingegen nimmt ebenfalls Kurs nach oben, allerdings oberhalb des südlichen Ufers – Ausschilderung „Creux du Van“ zu folgen. Diesen Wadenbeißer lasse ich aber auf den nächsten Tag warten.

In Noiraigue gibt es ein Gasthaus mit Übernachtungsmöglichkeit (wohl weitere manchmal, aber nicht immer geöffnet bzw. Betrieb eingestellt). Das romantische Mühlendorf ist zwar wegen der Schlucht und den Wandermöglichkeit zum Creux du Van ein hübscher Ausgangsort, hat aber wohl seine touristische Bedeutung zunehmend verloren, weil der müde Wanderer jederzeit noch schnell via Bahn oder Auto hinüber nach Neuenburg kommt. Wer die Runde über den Col de la Tourne einsparen und die dicht befahrene Straße von Neuenburg nach Noiraigue meiden möchte, nicht aber die anzuratende Radwegroute an der Areuse verpassen will, der kann auch in Neuenburg übernachten, dann per Zug nach Noiraigue fahren und so z.B. eine Neuenburgseeroute wesentlich bereichern.

Am Nachbarstisch wird als Speiseabschluss Absinth getrunken. Das ist jener berauschende Kräuterschnaps, der durch seine besonderen Inhaltstoffe Halluzinationen hervorrufen soll. Ein Getränk, dass seine Ursprung im Val de Travers hat, aber auch bald im benachbarten französischen Jura produziert wurde und wird. Wermut, Fenchel, Anis, Angelika und individuelle, geheime, nach Hersteller verschiedenartige Mischungen weiterer Kräuter, deren Chlorophyll der „grünen Fee“ die charakteristische Farbe verleiht, sind die Bestandteile des hochprozentigen Getränks. Schon die (unterschiedlichen) Trinkrituale verleihen dem Elixier einen Mythos des transzendenten Geistes. Mit Wasser verdünnt, über – auch brennenden – Zucker geträufelt, entsteht eine milchige, auch schäumende Konsistenz, die geheimnisumrankte Verwandlung verspricht. So wurde Absinth vor allem in Frankreich zum Getränk der Künstler und Denker – Verführung und Horizontweitung erhoffend. Oscar Wilde sagte dazu: „Das erste Stadium ist wie normales Trinken, im zweiten fängt man an, ungeheuerliche, grausame Dinge zu sehen, aber wenn man es schafft, nicht aufzugeben, kommt man in das dritte Stadium, in dem man Dinge sieht, die man sehen möchte, wundervolle, sonderbare Dinge.“ grins Todesfälle und die subversive Nutzung riefen nach einem Verbot im bürgerlichen Zeitalter (ab 1910), das lange Bestand hatte, und erst wieder gegen Ende des 20. Jahrhunderts aufgehoben wurde. Man geht heute davon aus, dass die Todesfälle dem ungezügelten Alkoholismus geschuldet waren und nicht den Inhaltstoffen des Absinths. Während in der Schweiz der Alkoholgehalt wieder freigegeben ist und bis zu 72 % erreicht, sind in Frankreich heute maximal 55 % zugelassen – nach Ansicht der Produzenten allerdings bereits die Mindestanforderung für einen guten Tropfen.

Auch wenn dem Autor dieser Zeilen und jouristischer Prüfungsaspirant gelegentlich das heimliche und häufige Trinken von Absinth unterstellt wird, sei versichert, dass die gelegentlich sonderbaren Horizonterweiterungen des Autors möglicherweise weit geheimnisvolleren Vorgängen im Universum zuzuschreiben sind. unschuldig Der Autor selbst hat darüber keine Klarheit, sucht aber immer nach irdischen wie außerirdischen Erklärungsmustern. Nach bisher unbestätigten Vermutungen scheint ein gewisser asturischer Hausgeist namens Trasgu von entscheidender Bedeutung zu sein.

Eine andere Vermutung ist die philosophische Interpretation der Thermodynamik, insbesondere nach deren erstem Grundsatz der Austausch verschiedener Energieformen in einem System möglich ist. Also zum Beispiel kann Pedalenergie im Sommer in Gedankenenergie im Winter umgewandelt werden. Dabei kann aber die umgewandelte Energieforum nie ein höheres Niveau als die Ausgangsenergie haben, d.h. die Gedanken können nicht klüger sein als die Waden trainiert worden sind. traurig Im Sommer also lieber mal ein Steak mehr für die Myofibrillen, als im Winter doof zu versauern. schmunzel

Leider sorgt der zweite Grundsatz der Thermodynamik dazu, dass bestehende Systeme die Tendenz zu immer größer werdender Unordnung haben (zu erkennen in meiner Wohnung). Nimmt man den geistigen Zustand des Autors als aktuelle Zustandsbeschreibung der Entropie des veloträumerischen Gedankenraumes, so ist damit zu rechnen, dass dieser mit zunehmenden Alter immer chaotischer wird und für Außenstehende immer weniger begreifbar, sofern die Außenstehenden (Leser) sich weiterhin geordneten Zuständen verpflichtet fühlen und diese mit viel Energie aufrecht erhalten wollen. Modischen Gleichschaltungszwängen (Nabendynamos, Hype-Elektronik) tritt der Autor daher mit anarchischer Chaosgestaltung entgegen (Mondlichtnutzung, zerflederte Landkarten). Näheres ist aber eher spekulativ.

Einen Absinth hätte ich mir vielleicht als Hotelgast gegönnt, aber die freie Zeltnacht bei der örtlichen Schießanlage sollte noch genügend Energie fordern. Das Zelt ward im Regen aufgebaut – zwischenzeitlich überlegte ich in dem nicht abgeschlossenen Warteraum der Schießanlage zu nächtigen. Der Boden war aber unbequem – und wer weiß, ob da einer mit Schießeisen mal kurz vorbeischaut? Das Zelt draußen überlebte die Gewitterattacken der Nacht nur knapp – am nächsten Morgen stand der künstliche See bis vor die Zelttür. Es war prophetischer Zufall, dass ich auf wenigen Zentimeter höherer Wiesenfläche festmachte – so als hätte ich Absinth getrunken, sonderbare Dinge gesehen und die richtigen Geister gerufen.

Mo 21.5. Noiraigue – (Veloroute) – Champ du Moulin – St-Auban-Sauges – Provence – Vers chez Amiet (1306m) – Couvet – Fleurier – Les Sagnettes (1122m) – La Brévine – Lac des Taillères
67 km | 10,0 km/h | 6:40 h | 1380 Hm
W: 12/16/10 °C, Regennacht, stark bew., selten heiter, meist regnerisch, sehr windig
E (L'Isba, La Brévine): Salat, Filetsteak, PF, Rw, Cafe ~27 €
Ü: C wild (alte Scheune) 0 €

Die Hoffnung, in der Nacht schüttet sich der Himmel leer, erfüllt sich allerdings nicht. Schon das Einpacken des Zeltes fällt schwer bei Nieselregen. Die Wolken hängen tief, das Rauschen der Areuse ist merklich lauter geworden. Es ist ein Morgen der Schnecken. Sie sind überall in dem Wald um die Areuse. Nach der Umfahrung über die Seitenhöhe der Schlucht (weniger schwer als befürchtetet) kehrt der Radweg zurück zur Areuse, bietet idyllische Plätze, mit Wasserfällen, kleine Stufenkaskaden und gar einen Badeplatz – eingerichtet auf der anderen Flussseite am Wanderweg. Diese Durchfahrt der dicht bewaldeten Areuse-Schlucht ist eine feine Sache, Nachahmern wünsche ich allerdings bessere Witterungsbedingungen – sehr erfrischend in heißen Sommertagen. Immerhin ist es noch vergleichsweise mild an diesem Morgen, die Sonne allerdings schafft es am Tage nur selten zu einem flüchtigen Blinzeln.

Das Nordwestufer des Neuenburger Sees hat ähnlich wie das des Bieler Sees and den Verkehrsachsen zu leiden. Die Weinberge sind durch die verkehrsreiche Nationalstraße und Bahnlinie von den Seeufern unschön getrennt. Die Nebenstraße nach St-Auban-Sauges ist also nicht so besonders genussreich, rein landschaftlich gesehen wäre es besser die Nationalstraße zu benutzen. Das macht aber auch nicht richtig Spaß.

St-Auban konnte ich nicht mehr abgewinnen als einen Supermarktbesuch. Die Stärkung ist nötig, denn es beginnt wieder ein langer und anstrengender Aufstieg, Verpflegung ist auf der Strecke dürftig bis mangelhaft. Bis noch ein Stückchen über Provence hinaus kann man großes Panorama genießen – im Mausgrau des Tages nicht ganz so dolle. Danach folgt eine eher einsame Hochebenenlandschaft – bei allerdings weiterer Steigung. Vereinzelte Haine, Weideflächen, auf der unscheinbaren Passhöhe von immerhin 1306 m ein Wochenendhaus, irgendwo auch ein paar Gehöfte. Ein giftiger verbläst mir die abwärtige Hochebenenfahrt, die Regentropfen werden zu Nagelpfeilen. böse Selbst im Windschutz des Wochenendhäuschens ist das Mittagspicknick kaum erträglich, allfällig ist die Kühle bereits zu beißender Kälte geworden. Immerhin bringt das Val de Travers leichte, aber nur vorübergehende Milderung an diesem Tag.

Das Val de Travers schmiegt sich zwischen Couvet und Fleuriers recht lieblich zwischen die zu beiden Seiten bewaldeten Bergrücken. Die Orte sind Jura-typisch nur mäßig belebt und insbesondere Môtiers ist von einem erholsamen Charme zum Verweilen geprägt. Da ist es schon fast zu erwarten, dass hier ein weiterer großer Denker eine gute Zeit verbrachte. Jean-Jacques Rousseau, fast sein ganzes Leben auf der Flucht, weilte drei Jahre von 1762 bis 1765 hier – ein kleines Museum heute (zu meiner Zeit am Nachtmittag ohne erkennbare Hinweise geschlossen). Seine Deutung des Gewissens als natürliche Religion und der damit verbundenen Kritik an allen bestehenden ritualisierten, obrigkeitshörigen Religionen brachte ihn um seine Gunst nicht nur in Paris, sondern auch bei den Calvinisten in seiner Heimatstadt Genf. Rousseau verdankte sein Asyl im Neuenburger Jura sogar Friedrich dem Großen, der damals Neuchâtel als eine preußische Exklave regierte. Friedrich der Große ist nicht nur als Anhänger der Aufklärung bekannt, sondern auch als Freund allen Französischem.

Rousseau – mehr noch als Dürrenmatt – war ein vielschichtiger Geist. Seine wichtigste Bedeutung hatte er zwar historisch als Vordenker der französischen Revolution, doch gehörte er zu den großen Universalgeistern wie es etwa auch Goethe gewesen ist. Politische Theorie, Erziehungslehre, Philosophie, Schriftstellerei, Naturforschung und gar Komponieren gehörten zu seinen Arbeitsfeldern. In Môtiers verfasste er das „Dictionnaire de la musique“, leitete dann eine Phase botanischer Studien ein, die er 1965 auf der Petersinsel im Bieler See fortsetzte – allerdings nur einige Monate – nach seiner eigenen Darstellung seine glücklichste Zeit. Der geheime Rat zu Bern bereitete Rousseaus Inselidylle ein Ende und wies ihn aus. Jurareise 2012 – das ist auch eine Geburtstagsreise zu einem meiner gedanklichen Väter, zu Rousseaus 300sten!!! wein Rousseaus Wohnhaus in Môtiers war bereits auch Thema des Bilderrätsels 789. Da Rousseau zu den vergessenen Komponisten gehört, der in jüngster Zeit wiederentdeckt wurde, ein Klangbeispiel: Ouvertüre & Trio „Daphnis et Chloè“ (4:13 min.). Ein kurzes Extrakt seiner Stellung in der damaligen Musikszene: Rousseau – Beständiges Gekläffe (Spiegel Online).

Von Fleurier verwehren nun enge Talfluchten und aufsteigende Jurahöhenzüge eine vorausschauende Sicht. Beide Klusen Richtung Westen durchfahre ich noch am nächsten Tag. Die Klus St-Sulpice wird vom Chapeau de Napoléon begrenzt, seiner Bergform nach an den Napoléon-Hut erinnernd. Oben thront ein schlossartiges Panoramahotel über dem Tal. Der Aufstieg zur Hochebene des Vallée de la Brévine ist recht hübsch aber nicht spektakulär. Trotzdem sollte sich alsbald die Fahrt tief in mein Gedächtnis einprägen. Noch kurz vor Passhöhe tauchen Nieselwolken die Landschaft in eine kalt abweisende, fast undurchdringliche Gichthölle. Der Wind peitscht die kleinen Tropfen gegen die letzten geöffneten Hautporen und lässt mich an die Arktis denken. – Richtig! Wie auf Kommando bekomme ich zu spüren, was in den Büchern steht: Das Hochtal von La Brévine gilt als die kälteste Region der Eidgenossen, als das Sibirien der Schweiz, wo im Winter regelmäßig die Temperaturen -30 °C erreichen. „Aber es ist doch Mai! Frühjahr!“ schreie ich. Ich bleibe ungehört.

Durch die nasskalte Feuchte sind Finger schon nahe dem Tod, da ich La Brévine schon ein wenig unwirklich zu erkennen vermag. Zum Glück gilt nicht mehr Code BBB, sonst hätten sie mich ausgeschlossen. Dringend suche ich Einlass ins Wirtshaus – ein zweites Hotel-Restaurant ist erheblich teurer. Am liebsten wäre ich natürlich am Esstisch eingeschlafen, um nicht nochmal in das unwirkliche Wetter hinein zu müssen. Doch wer soll die Schweizer Hotelbetten zahlen? – Vergeblich habe ich im Ort nach Nischen und Ecken gesucht für das Zelt – nicht mal an der Kirche ist es möglich. Hinaus also in die einsame Ebene, zum Lac Taillères, in der gichtigen Nacht kaum zu erkennen. Am südlichen Uferweg alte Scheune, verbarrikadiert – dann eine hüttenähnlich, mit offenen Toren und Ausgucken. Tropfendes Gebälk, nicht überall dicht, ein Hochboden – auch dort nicht besser, Ratten waren nicht zu sehen, aber wohl vor Ort. Stattdessen höre ich flattern – keine Fledermaus, nein, ein Vogel, eine Bachstelze gar, ungewöhnlich hier, verwirrt, findet nicht den Weg aus den Scheunenöffnungen. Sie zittert, ich zittere – mag sie auch nicht in diese garstige Nacht hinaus? Ist es überhaupt ein Vogel? – oder ein Geist? – hier scheint alles möglich.

Ich frage: „Wer bist du?“
Sie antwortet nicht. Stumm, dann wieder verängstigend flatternd. Stößt sich an Balken, klammert sich erneut am Boden mit etwas Heu fest. „Warum willst du nicht in die Freiheit?“
Die Stelze antwortet nun überraschend: „Frei sein heißt leiden. Bist du frei?“
„Nein, ich bin nicht frei, aber ich leide trotzdem. Na gut, hier und heute bin ich frei UND leide“, erwidere ich.
„Das kann ich verstehen. Mir ist auch kalt. Glaubst du an Gott?“
„Nein, welche Frage von einem Vogel – habt ihr auch Götter?“ bemerke ich erstaunt.
„Ich glaube nicht. Aber ein Gott könnte jetzt Trost spenden, so ist es doch bei euch Menschen?“
„Naja“, meine ich verlegen, „Trost kann eigentlich nur ein Mensch spenden. Gott ist nicht Mensch – nicht mal wenn er ihn erschaffen haben sollte.“
„Wenn Gott nicht Mensch sein kann, kann er dann ein Gewissen haben wie der Mensch? Würde er dann nicht herabsteigen und uns hier Trost spenden, heute Nacht?“
Die Stelze scheint klug, ihre Augen glühen erwartungsvoll auf meine Antworten. „Das scheint mir schwierig zu sagen. Wenn Gott nicht Mensch ist, kann er auch nicht herabsteigen. Anderseits, wenn er nicht Herabsteigen und Trost spenden kann, wozu ist er dann Gott, der nicht helfen kann?“
„Oh, auch du stellst Fragen. Glückwunsch!“ meint der Vogel schon fast ein wenig hämisch. „Wenn Gott nicht Trost spenden kann, dann ist er doch gewissenlos! Der Mensch aber hat ein Gewissen, deswegen spendet er Trost, wenn er kann.“
„Ja, das klingt hart, aber könnte so sein. Doch der Mensch kann selten helfen, er weiß selten, wo und wann es Trost braucht. Auch verweigert er oft zu helfen. Dann hilft er sich damit, sich einzubilden, von Gott getröstet werden zu können. Der Mensch ist eben so unvollkommen.“
„Lieber ein Mensch mit unvollkommenen Gewissen als ein vollkommener Geist, der kein Gewissen hat“, meint die Stelze mit mahnender Stimme. Ich beginne zu zweifeln.
„Wer bist du eigentlich – wirklich ein Vogel?“ wage ich zu fragen.
„Ich schaue aus wie ein Vogel, heute. Morgen bin ich vielleicht ein Baum, ein Stein, eine Ameise. Das ändert sich. Eigentlich bin ich – Rousseau!“
Ich bin verblüfft und gelähmt. „Rousseau?“ stammele ich mehr vor mich hin als den Vogel zu fragen. „Rousseau, du bist doch 300 Jahre alt – da kann man doch nicht mehr leben – auch nicht als Vogel!?“
„Doch, ein Geist lebt immer. Aber ich kann keinen Trost spenden. Tut mir Leid. Ich bin kein Mensch mehr, ein Wesen ohne Gewissen“, sprach die Stelze fast mitleidig und flugs war sie weg und kam nicht wieder. Hier saß ich nun, ohne Trost, in einer zugigen Holzbaracke, am See im Nachtregen und kalt die Glieder. Ich spürte das Kribbeln in den Bronchien.

Di 22.5. Lac des Taillères – Le Cernil (1174m) – Col des Verrières (931m) – Sulpice – Sources de l'Areuse – Fleurier – Col des Etroits (1153m) – Ste-Croix – bif. La Magnenaz (1200m) – Mauborget – Grandson – Yverdon-les-Bains – Baulmes
91 km | 13,3 km/h | 6:48 h | 930 Hm
W: 9/21/14/21/16 °C, durch Regen verspätete Abfahrt, tiefe Wolken, heiter am Neuenburger See, starke Windböen
E (Hotel de Jura): Salat, Pferdesteak, PF, Rw ~ 30 €
Ü: C wild 0 €

Was die Nacht versprochen, hat auch der Morgen gehalten: Ein See im Trauerkleid, Dauerregen – mal stärker, mal schwächer. Nicht mal ein Fischreiher kommt zum Frühstück. Wie lange Warten? Wieviel Feuchte verträgt der angeschlagene Organismus? Philosophie hat da auch keine Lösung parat. Ob das Rousseau weiß? – Ich kann ihn ja nicht mehr fragen. Den ersten Übergang von Regen zum Niesel nutze ich zum Start. Wie spät der Morgen ist, verrät kein Sonnenstrahl – es könnte auch Mittag sein – oder Abend, die Zeit scheint aufgelöst weil farblos. An der Straße gibt es einige wenige Gasthäuser – doch scheint jedes Haus verlassen. Einen warmen Kaffee? – hier nicht. Ein Restaurant ist gar seemännisch wie ein Schiff geformt, die Taufe kann noch nicht lange her sein, aber auch dort nur ausgestorbene Stille.

Es mag an der mageren Sicht liegen – die folgenden Streckenabschnitte sind wenig markant. Nach einem eher leichten Pass von der Hochebene aus mit Nadelwaldpassage, oben wiederum mit einem Gasthof, offenbar in Betrieb, aber nicht am Morgen, folgt eine weitschleifige Fahrt über Weide- und Streuobstwiesen hinunter ins Val de Travers. Hinunter ist natürlich übertrieben, auch hier befindet man sich noch auf einer Hochebene. Die Fahrt zur Grenze unauffällig, etwas mystisch die moorigen Sickerwiesen. Ein Pass ist topografisch kaum auszumachen, aber irgendwo muss eine Wasserscheide liegen. Der Grenzort Verrières zeigt dezent arbeitsame Geschäftigkeit, etwas Gewerbe, vielleicht auch Absinthproduktion, viele Tankstellen wie es sich an Grenzen von unterschiedlichen Steuersystemen gehört, Rastplatzbistros – eher funktional pragmatisch als gemütlich. Ich trinke den Kaffee in einem Gasthof – auch der wirkt kalt und steril, Tischdecke aus Omas Aussteuerkommode. Das ist oft im Schweizer Jura so (nicht nur dort) – wenig barocke Schönheit, wenig Schnörkel, kein Schick, keine Eleganz, kein Pomp – funktionale Nüchternheit, häufig veraltet, manchmal sogar ärmlich – die Schweiz im Urzustand: genügsam, ländlich schlicht – das Gegenteil der Zürcher Bahnhofsstraße, der Interlaken-International-Hotels, der Engadiner Russenmeile – die Rappen werden gut gehütet für schwierige Zeiten, Schweizer sind sparsam wie Schwaben.

Die Quelle der Areuse tritt dem Karstphänomen entsprechend aus gesammeltem Sickerwasser aus oberen Wasseradern in einer Talschlucht aus Fels unter der Erde ergiebig hervor. Es ist ein mystischer Kreislauf: Rousseau wohnte in Môtiers an der Areuse, eine Bachstelze, die behauptet, Rousseau zu sein, schwebt wie der Wasserdampf aus dem Val de Travers empor zum Lac de Taillères, dort versickert das Wasser ins Erdreich und gelangt auf ungesehene Weise zur Source d’Areuse, wo das Wasser lebhaft sprudelt, wie aus dem Nichts, und die Areuse fließt hinunter nach Môtiers. Das alles in einer Gegend, in der der Absinth erfunden wurde. verwirrt

Gleich bei der Quelle folgt ein kleiner Stausee mit künstlichen Fallstufen darunter, an denen die regengestärkten Wassermassen in einem dichten Sprühnebel aufstäuben. Man kann eigentlich nur erahnen, wo das Wasser aus der Erde tritt – das Wasser ist plötzlich einfach da – nicht als Rinnsal, sondern sofort als Fluss. Man kann die Areuse-Quelle auch direkt von oben anfahren, dazu zweigt ein unscheinbarer, steiler Fahrweg oben an der Straße ab. Da mir aber nicht klar war, ob dieser Weg durchgehend asphaltiert ist und durch die Feuchte ein gefährlich klitschige Angelegenheit sein könnte (dichter Wald), bin ich gesicherter Weise zunächst über die Straße nach St-Sulpice (steiler Abzweig noch vor Fleurier) gefahren und von dort mittels kurzer Stichtour zur Quelle aufgefahren.

Der Tag stimmt nun ein wenig milder, die düstere Wokendecke lichtet sich leicht, lässt gelegentlich Wärmestrahlung durch, die lange Hose kann weichen. Später wird es sogar vereinzelt sonnig, doch bleiben dichte Wolken um den Chasseron als kühler Schattenschirm bis über das Neuenburger Seenland. In St-Sulpice muss ein schräger Sammler wohnen, der sein Skurrilitäten in einem ausgemusterten Triebwagen aufstellt. Die nackte Schaufensterpuppendame gehört ebenso dazu wie ein Haufen alter Fahrräder. Nicht weniger abgedreht der lokale Gartenfigurenkreateur – eine zoologischer Musterschau lässt kaum ein Wesen aus – Calimero, die Lieblingsfigur meiner österlichen Kindheit ist auch dabei.

In Fleurier beginnt die eindrucksvolle Auffahrt zum Col des Etroits. Zunächst buntes Wiesental, dann enger werdende Schlucht, alpines Wasserrauschen, Kaskaden Steinbogen, Hochweiden, der Pass ein schönes Picknickareal, Kreuzungspunkt von Höhenwanderwegen, nach Süden der Blick über Ste-Croix, Wintersportzentrum, noch jurassisch spröde-charmant ohne schändliche Auswüchse, im 19. Jahrhundert auch weltbedeutendes Zentrum für Spieldosen. Statt gleich zur Seeebene abzufahren, wähle ich noch die Höhenpanoramaroute nach Norden. Leider geben die Wolken und Dunst nur wenig erhabene Blicke zum Neuenburger See frei. Ferienchalets und Villen sprechen für bescheidenen Wohlstand in Traumlage. Kühe finden Gras zwischen den juratypischen Steinmauern der Hochweiden. Eine grandiose Route bei gutem Wetter. Hier und jetzt zu kühl.

Auffällig schon von oben zu sehen, dass die Wolkendecke über dem Neuenburger See aufgelockerter ist. Auch wenn nicht sonnig, so dringt mehr Wärme durch. Das merkt man unten am See deutlich. Die Rebenhänge brauchen die Heiterkeit des Himmels auch, damit der Mensch seine Heiterkeit wiederum im Wein findet. Grandson beeindruckt sogleich. Eine große Burganlage mit fünf Wehrtürmen bietet von allen Seite eine mittelalterliche, pittoreske Silhouette. Fast schon durch die Burg führt die Bahntrasse. Ständen jetzt Ritter dort, würden sie die Schwerter und Lanzen aufrichten: Ein Zug mit Panzern rattert gerade durch. Seit Jahrhunderten spielen die Schweizer wie besessen Krieg, bohren Bunkerschächte mit Kanonen in die Berge wie die Löcher in den Appenzeller Käse und doch: Sie finden den Feind nicht – immer nur Frieden. Selbst das Matterhorn konnten die Japaner nicht entwenden – es war schlicht zu teuer. Japaner können sich mittlerweile nicht mehr als eine Swatch im Sonderangebot auf dem Genfer Schwarzmarkt leisten. Aber vielleicht könnten die Chinesen auf die Idee kommen, Stein für Stein das Matterhorn abzutragen – dann braucht es natürlich eine wehrhafte Armee. verwirrt

Das Leben an den Gestaden des Neuenburger Sees hier scheint leicht, angenehm, die berühmte Spur wärmer um aufzublühen, die Menschen quittieren es mit lächelnden Gesichtern, auf den Jurahöhen selten. Ursprünglich von mir als Übernachtungsort geplant, liegt der Camping in Grandson sehr schön am See jenseits des Jachthafens. Schon fast ein Tag Rückstand aber, da suche ich noch ein paar Kilometer zu machen. Doch lohnt das Promenieren am See auch jenseits von Grandson bis nach Yverdon-les-Bains. Eine Naturschutzzone lässt sich lehrreich erkunden. Atmen in Ruhe, ein paar Momente der Besinnung – die Stille am See, nur Enten brechen das schweigende Plätschern des Sees. Das ist Zeit, wertvolle Zeit, schöne Zeit – zumal wenn die Härten der Witterung Milde versprechen?

Auch Yverdon-les-Bains hat Schloss, hat Altes und Sehenswertes, hat Flair – lebt leicht und liebevoll – nicht direkt am See, ein Kanal vom See führt ins nahe Zentrum. Yverdon ist eine Stadt der Bildung, auch wieder Wirkungsstätte eines großen Geistes. Johann Heinrich Pestalozzi arbeite für längere Zeit Anfang des 19. Jahrhunderts in Yverdon. Er setzte mit seine Ansichten zur Erziehung einen Kontrapunkt zu Rousseau, verwarf die natürliche, selbstgelenkte, eigenständige anarchische Entwicklung des jungen Menschen zugunsten einer beschützen Entwicklung aus Liebe und Motivation, einem harmonischen Zusammenwirken von Familie, Bildungswesen und sittlich-religiösen Werten. Welche Weisheit macht den besseren Menschen? Leider finde ich keine Bachstelze mehr, die dazu Stellung nehmen könnte.

Nicht viel bergauf, aber ein kleines Anfahren ist es nach Baulmes schon. Zumindest nach Vuiteboeuf hat man eine unscheinbar wirkende Steigung bewältigen, danach ist es eher flach. Vuiteboeuf liegt genau am Eingang zur Schluchtenge auf dem Weg nach Ste-Croix. Hübsch anzuschauen, wie auch Baulmes, das weniger gut erkennbar auch am Fuße einer Talenge liegt. Hier aber wölbt sich der Berg unmittelbar steil hinter dem Ort auf, ein harter Pedalweg für den nächsten Morgen. Im Gegensatz zu den Orten am See ist man hier wieder in der ländlichen Provinz, die Gastbetriebe sind rar. Das einzige (offene) Hotel im Ort ist Kneipe, Restaurant, auch mal Jugendtreffpunkt. Schlichtes Ambiente, schlichte Landküche. Luxusplätze fürs Zelt gibt es hier nicht – etwas verschämt bleibe ich am Ortsrand zwischen Gebüsch und Kuhfladen – eine Messerspitze wärmer als am Vortag, aber immer noch kalt genug um vom Sommer träumen zu dürfen.

Bildergalerie Teil 2 (150 Fotos):



Die nächste Prüfung folgt