Hallo zusammen,
einige von Euch erinnern sich vielleicht: Nach mehr als drei Jahrzehnten auf dem „normalen“ Fahrrad habe ich mir im März ziemlich unverhofft ein Liegerad angeschafft
(klick) Latent geliebäugelt damit hatte ich schon lange – vor allem, weil ich (ohne groß darüber zu reden) alles ab 70, 80 km auf dem Upright doch irgendwie unbequem fand. Sowohl am Hintern, als auch an den Handgelenken. Nicht wirklich schlimm, aber halt irgendwie auch nicht optimal. Der Umbau von Bestenstillenker + Hörnchen zu Rennlenker, den ich nach meiner US-Durchquerung machte, brachte nicht die erhoffte Wende, auch ein paar unterschiedliche Sättel lösten das Problem nicht.
Im März hatte ich dann die Gelegenheit, einen sechs Monate alten Grashopper fx, der weniger als 200 km gelaufen war, zu übernehmen, in de luxe-Ausstattung mit Rohloff, Magura Louise und SON – und vor allem faltbar (normale Liegeräder waren mir immer viel zu sperrig), so dass man jeden ICE damit benutzen kann.
Inzwischen bin ich gut 2200 km mit dem guten Stück gefahren, davon rund 600 mit vollem Gepäck im Hinterland der Provence. Ich denke, es ist mal Zeit für einen ersten Erfahrungsbericht, garniert mit ein paar Fotos (Dogfish, soll ich die auch noch in UR stellen?)
Um das Fazit vorweg zunehmen: Die Liege hat zwar auch ihre Tücken, vor allem braucht man am Anfang schon viel Geduld. Ich will aber nichts anderes mehr haben, das Ding macht riesigen Spaß. Sollte mir mein Grashopper heute Nacht geklaut werden (Gott bewahre!), würde ich morgen einen neuen bestellen.
Mal einige wichtige Punkte im Einzelnen:
- Bequemlichkeit
Das war für mich der Hauptgrund, ein Liegerad auszuprobieren. Und ich wurde nicht enttäuscht. Endlich keine Schmerzen mehr. Auch nach 5, 6 oder mehr Stunden auf dem Bock drückt nichts, ist nichts verspannt. Was ein anderer Liegeradfahrer mal sagte, stimmt: bei einer Pause mag man gar nicht aussteigen – jede Bank ist unbequemer. (Ich muss zugeben: Wenn ich Fotos von mir auf der Liege sehe, denke ich mir: Das sieht doch nicht bequem aus. Aber glaubt mir: das ist es!) Eine Downside gibt es: Manchmal, eher selten, schlafen mir auf der Liege die Füße ein.
- Fahrradbeherrschung
Manche sagen, auf der Liege müsse man ganz neu Fahrradfahren lernen. Das ist nur ein bisschen übertrieben. Die ersten 200, 300 km war ich schon ziemlich wackelig und unsicher (nach 20 km war der 1. spiegel kaputt), aber es ging. Relativ lange haben mir enge Kurven Probleme gemacht. Vor allem, wenn man langsam fährt, neigt man anfangs in engen Kurven zum Umkippen. (Immerhin, man fällt nicht tief.) Das legte sich bei mir aber innerhalb der ersten 1000 km weitgehend. Die größten Schwierigkeiten in Sachen Fahrsicherheit hatte ich lange am Berg – bei starken Steigungen zerrte ich wie auf dem Upright am Lenker, wodurch man sich selbst de-stabilisiert. Erst nach ca. einer Woche im sehr bergigen Hinterland der Provence hatte ich mir das halbwegs abgewöhnt. Toll ist, dass man (zumindest subjektiv) höhere Kurvengeschwindigkeiten erreichen kann als auf dem Upright, wegen der anderen Straßenlage.
- Fitness
Ich hatte es zwar immer wieder gelesen, aber nie ganz geglaubt: Auf der Liege braucht man andere Muskeln. Ha, ha, hatte ich gedacht, treten ist doch treten. Weit gefehlt. Als ich am Anfang einen Schnitt von 17 km /h in der Ebene hatte und danach echt kaputt war, habe ich das Ding verflucht. Es dauerte ca. 1000 km, bis sich das gelegt hatte. Wichtig ist, dass man mit Klickies fährt (habe ich vorher schon gemacht), sonst ist das sehr unangenehm.
- Sicherheit
„Ist das nicht gefährlich?“ – das ist eine häufige Frage. Jein. Man wird, glaube ich, tatsächlich tendenziell schon etwas schlechter gesehen, weil Autofahrer nicht darauf getrimmt sind, die Straße in der Liegerad-Höhe zu scannen. Daher fahre ich immer mit Licht, und habe mir (inspiriert von Webmanz hier aus dem Forum) aus einer Warnweste einen großen, roten Wimpel mit Reflektionsstreifen nähen lassen. Damit ist man, so mein Eindruck, deutlich auffälliger als ein „normaler“ Radler. Die Straßenübersicht von der Liege ist ok – bis auf die Tatsache, dass man in der Stadt an zugeparkten Kreuzungen nicht über die Autodächer gucken kann. Da muss man etwas defensiver fahren. Wichtig sind Spiegel, weil man sich nicht gut umdrehen kann.
- Berge
Dazu habe ich noch kein endgültiges Urteil. Zum Glück hatte ich mir vor der Frankreich-Tour ein zweites, kleineres Kettenblatt vorne installiert, das die Berggängigkeit deutlich erhöht. Nur mit dem 52er-Kettenblatt, mit dem HP den Rohloff-Grashopper serienmäßig ausliefert, hätte ich mit Gepäck in der Provence keine Chance gehabt. Bis zu 12, 14 Prozent komme ich jetzt vollbeladen hoch, aber mehr geht (noch?) nicht. Insgesamt bin ich (derzeit?) an starken Steigungen etwas langsamer als mit dem Upright. Meine Sorge, dass die Mindestgeschwindigkeit bei der Liege höher ist, hat sich aber nicht bestätigt. Bis zu 4 km/h kann ist bequem fahren, 3,5 km/h geht kurzfristig auch. (Bergab lässt man übrigens jeden Rennradfahrer stehen.)
- Fahren mit Gepäck
Vier Taschen plus Packrack zu befestigen, ist kein Problem (nur auf die Lenkertasche muss man verzichten) Anders als beim (mit Front- und Backrollern sowie Lenkertasche) beladenen Upright ändert sich das Fahrverhalten der Liege vollbeladen nicht. Vermutlich, weil der Schwerpunkt tiefer liegt, auf jeden Fall sehr angenehm. (Toll ist auch, dass die Gepäckträger von HP deutlich besser lackiert sind als die von Tubus, bei denen schon nach 1x Ortlieb-Nutzung der Lack ab ist, wenn man nicht diese blöden Aufkleber benutzt).
- Handling, wenn man nicht fährt
Das ist grundsätzlich ein Problem auch bei Kurzliegern, finde ich, weil die deutlich sperriger sind als „normale“ Räder. Daher kam für mich nur der faltbare Grashopper in Frage. Zu meiner Überraschung kriege ich ihn sogar auch ungefaltet in unseren Fahrradkeller, zu dem eine sehr steile und enge Treppe führt. Die Dinger sind handlicher als gedacht. Und gefaltet passt in einen Peugeot 206 bei umgelegter Rückbank sogar noch ein „normales“ Rad (Fitnessbike ohne Schutzblecke, bei dem man dort die Laufräder rausnimmt). Das Falten beim Grashopper ist etwas umständlicher als bei echten Falträdern, aber mit der Zeit kriegt man routine. (Die 60 Sekunden, die HP angibt, sind schon ziemlich gestrunzt.) Würde daher immer ein faltbares Liegerad (gibt es leider noch nicht viel Auswahl) empfehlen.
- Die Rohloff
Bis März habe ich das R-Gerät für überteuerten Schnickschnack gehalten und wäre beim Neukauf wohl zu geizig gewesen. Direkt schätzen lernte ich, dass man im Stand schalten kann im Liegerad super, wenn man vergessen hat, beim Bremsen runterzuschalten. Man kann halt nicht so einfach das Hinterrad anheben und im Stand kurz runterschalten. Inzwischen möchte ich einen zweiten Vorteil nicht mehr missen: Dass alle Gänge gleich abgestuft sind. Irgendwie hat die Rohloff bei mir dazu geführt, dass ich deutlich mehr schalte als früher, und dadurch mehr im gleichen Trittfrequenzbereich fahre, was irgendwie angenehmer ist. Was mich anfangs sehr nervte waren die Geräusche, vor allem in den unteren Gängen bis 7. Leiser wäre sie mir auch jetzt noch lieber, aber man gewöhnt sich dran.
- die Louise
Auch Scheibenbremsen hielt ich bis März für teuren Schnickschnack und bei den 20-Zoll-Rädern nur dadurch gerechtfertigt, dass bei langen Abfahrten die Felgen nicht heiß werden und da keine Platten drohen. Besser als die HS11/66 kann man eh nicht bremsen, dacht ich. Die Louise hat mich allerdings schnell eines Besseren belehrt. Die Bremsleistung und Dosierbarkeit ist im Vergleich zur HS11/66 noch mal beeindruckend besser. Vielleicht liegt das subjektiv auch teilweise an der Liege, an der man wegen des anderen und tieferen Schwerpunkts glaube ich schärfer bremsen kann.
- Glotz-Faktor
Was wirklich anders ist als auf dem normalen Rad ist: Viele Leute beglotzen einen, als käme man vom Mars. Das nervt manchmal, manchmal ist’s auch lustig. Ich habe mir inzwischen angewöhnt, da einfach drüber hinweg zu gucken. Aber: unauffällig ist anders.
- Kleinkram
Gewöhnungsbedürftig ist, dass man sich auf einer Art rollenden Sonnenbank befindet. Ich bin eigentlich nicht besonders empfindlich, hatte aber in Südfrankreich trotz Cremes mit Lichtschutzfaktor 30 in den ersten Tagen das Gefühl, gebrutzelt zu werden. Sonnenbrand auf den Schienenbeinen und in den Armbeugen, wo gibt es denn so was? Tricksen muss man auch, wenn man eine Werkzeugtasche mit Flickzeug und eine Luftpumpe befestigen will (auch beim GPS, da konnte ich vom Vorbesitzer zum Glück einen passenden Halter übernehmen). Der Grashopper bietet immerhin die Gelegenheit, Trinkflaschen-Halter anzubringen. Daran habe ich einerseits Befestigungshaken für eine Mini-Pumpe geschraubt, und mir eine Werkzeugdose besorgt, die in den Flaschenhalter passt. Da sind jetzt ein Ersatzschlauch, Flickzeug und Montagehebel drin. Schade ist, dass man auf die Lenkertasche verzichten muss, die ich immer als Fototasche nutzte. Habe jetzt einen Frontroller dazu umfunktioniert.
Alles in allem: Meinen Grashopper gebe ich nicht mehr her. Jedem, der das Upright irgendwie unbequem empfindet, kann ich nur empfehlen, mal ein Liegerad auszuprobieren. Und wer sich ein neues, hochwertiges Reiserad kaufen will, dem würde ich ans Herz liegen, eine Liege ernsthaft in betracht zu ziehen.
Beste Grüße
Olaf