Nein, nein, es folgt kein Wimmern und kein Jammern. Dank der Diskussion im Faden zum Gotthardtrip korrigiere ich meine verhätschelten Ideen und Erwartungen an eine Radtour in den Alpen: Vor mir liegt kein Höllentrip, vielmehr ist das alles bloß ein Kinderspiel. Ich stelle mich also nicht so an und lamentiere keinesfalls über das lästige akustische Inferno der lärmenden Übermotorisierten - jedenfalls nicht mehr als unbedingt nötig.
Breche auf in Brunnen am Vierwaldstätter See und tauche ein in die Dunkelheit der Tunnel der berühmten Axenstraße. Es ist laut und ungemütlich, keineswegs gefährlich, aber trotzdem: Ich will raus hier, nichts wie weg, ich flüchte so schnell ich kann vor dem Gebrüll der keifenden Monster.
Und dann, siehe da, völlig unerwartet zweigt ein winziges Stück der historischen Militärstraße von der Hauptstraße ab und verläuft separat als Radweg außen entlang der Felsen. Das akustische Gemetzel der Unterzivilisierten ist hier wie weggeblasen. Himmlische Ruhe breitet sich aus. Lautlose Stille. Endlich Durchatmen und sofort nehmen mich Anmut und Schönheit dieser Landschaft gefangen. Ich blicke ringsum auf die Gipfel der Berge, hinab auf den tiefdunkelblauen See und hinüber auf saftige Wiesen und üppige Wälder. In einer weiten Ebene tief unten am Ufer wartet schon verschlafen das Örtchen Flüelen auf meinen Besuch. Mann, ist das schön hier, aber nach geschätzten 300 Metern schwenkt der Radweg zurück zur Hauptstraße und der Zauber hat sich erledigt.
Es folgt eine kurze Abfahrt, ein paar Dörfer und ich holpere entlang so einiger Schutthalden, Steinbrüche und Baustellenstraßen. Hier wird wohl der Basistunnel durch das Gotthardmassiv gegraben. Eine insgesamt sowohl imposante als auch staubige Angelegenheit. Ha! Endlich entdecke ich das ersehnte Hinweisschild zur Veloroute 3. Ade Hauptstraße, hier darf ich endlich rechts abbiegen und das Getümmel hinter mir lassen. Die Route bietet sofort ein euphorisches Gefühl, denn ich lese in weißer Schrift auf roter Tafel: Steigt 1560 m auf 34 km.
Das Wetter ist prächtig, die Straße ist schmal und sie ist kaum befahren. Herrlich! Nach der ersten Rampe wird sie schon flacher, dann windet sie sich in ein paar Kurven nochmals empor und überquert souverän die Streckenführung zuerst der Eisenbahn und dann der Autobahn, die dankenswerter Weise im Orkus des Gotthardtunnels versinkt.
Direkt hinter dem Örtchen Göschenen gibt sie sich unmissverständlich zu erkennen. Sie ist nicht zu verfehlen. Teils in atemberaubend eng übereinander führenden Kehren und teils mit in die Flanken der Felsen geschlagenen lang gestreckten Steinschlag- und Lawinenverbauungen – den Galerien - zwängt sich die Straße durch die steil aufragende und immer enger werdende Schlucht, die sich Schöllenen nennt, aber wohl der erosiven Kraft der tosenden Reuss zu verdanken ist. Widme dem Ensemble eine anspruchsvolle ästhetische Betrachtung und verschwende keinen einzigen Gedanken an den Rennradfahrer aus Luzern, der mich vor exakt dieser Passage ausdrücklich gewarnt hat.
Warum sollte ich Angst haben? Entlang der Axenstraße war der Verkehr zwar nervig, aber dank des separierten Radwegs auch völlig ungefährlich. Und die Auffahrt bis hier war im Grunde harmlos, wahrscheinlich sogar belanglos. Jedenfalls fühle ich mich gut und locker und voller Tatendrang. Unbekümmert setze ich mein Velo mit festem Tritt in Bewegung und folge der Straße, die sich mühsam in die Höhe schraubt.
Wo kommen plötzlich bloß die vielen Autos her? Wie kann das sein? Eben noch so beschaulich und jetzt Reisebusse, Lastwagen und Wohnmobile jeder Größenordnung, Dutzende so genannter Krafträder – einige sicher jenseits aller Zulassungsvorschriften - und unzählige Automobile dröhnen, brüllen und brummen von oben und von unten, über mir, vor mir, hinter mir, neben mir. Eine unaufhaltsame Lawine aus Stahl, Metall, Lärm und keifendem Gekreische quält sich durch die Schlucht.
Wenige Zentimeter verbleiben mir auf meiner schmalen Furt zwischen den Stoßstangen, Außenspiegeln und Lastwagenreifen, die mich links bedrängen und einem betonierten Wassergaben, dem ich unmittelbar rechts neben meinem Vorderrad auf keinen Fall zu nahe kommen darf. Unzählige Motoren knurren mich an und ich halte tapfer dagegen. Hier bin ich und hier fahre ich und ihr könnt mich mal.
Bald fließt der Schweiß und rinnt mir in die Augen. Wie die Maus vor der Schlange blicke ich entsetzt in das Licht der halsbrecherisch auf mich zurasenden Scheinwerfer. Überholende Motorräder kommen mir von oben entgegen geflogen. Mir stockt der Atem. Sehen die mich? Als sich das Gekreische dieser Horden bereits talwärts zu verlieren scheint, schiebt sich eine mächtige Stoßstange von hinten an mich ran, ein großer Diesel jault und schnaubt im kleinen Gang, das Ungetüm quält sich langsam auf meine Höhe, ich verteidige todesmutig meinen kleinen Überlebensraum und der Lastwagen furzt mir mit besten Wünschen noch eine apokalyptische Wolke aus Ruß und Abgas ins Gesicht. Es ist ein Inferno, ich weiß nicht, wie lange ich das noch durchhalten kann, komme ins schlingern, ich darf nicht schwächeln und ich darf auf keinen Fall anhalten. Kurbeln, zentimetergenau den Kurs halten. Werden sie mich in den Graben drücken oder schlicht von hinten überrollen?
Ich fahr so schnell ich kann, halte die Spur, weiter, weiter, nichts wie weg, nichts wie raus hier aus dieser Hölle. Ich bin durstig, die Beine werden schwerer, bloß nicht die Hände vom Lenker nehmen und zur Trinkflasche greifen, bloß nicht, Spur halten, Kante zeigen, durchhalten. Meine Kräfte schwinden, vor allem die psychologischen. Die Lage ist dramatisch.
Ich sehe ein Licht, Sonnenlicht am Ende der Galerie. Diesen Punkt muss ich erreichen, das ist mein nächstes Ziel. In kleinen Etappen denken, Kräfte schonen, Meter für Meter, fast hab ich es geschafft, bald bin ich am Ende des Tunnels, nur noch hundert Meter, der Lärm wird fast zur Stille, noch ein paar Meter, finde eine Stelle für eine Rast, lege mich ins Gras, schütte meine Wasservorräte in mich hinein und weiß nicht, wie das hier weitergehen soll. Zurück? Ausgeschlossen. Weiter fahren? Auch Ausgeschlossen.
Klettere etwas die Böschung hinauf und peile die Lage. Ach Du
, das bist Du schon hochgefahren! Blicke hinab in die Schlucht, sehe viele Serpentinen und lange Galerien. Ein paar Kilometer und so einige Höhenmeter hab ich ja wohl schon hinter mich gebracht. Wie weit wird es jetzt noch sein? Halte ich das durch? Blicke nach oben und sehe wieder nur Serpentinenstapel. Ruhig bleiben, keine Panik, Ruhe bewahren. Ordne meine Gedanken: Das Schlimme hier ist nicht der viele Verkehr, sondern der apokalyptische Lärm, der sich in den Galerien tausendfach verstärkt und die Panikgefühle auslöst. Glaubt mir: Die Startbahn auf einem Flugzeugträger im Pazifikmanöver ist ein vergleichsweise stilles Örtchen, im Grunde ein guter Platz für ein beschauliches Nickerchen zwischendurch.
Das Sterben zieht sich hin, zentimetergenaue Navigation, nicht schwächeln, nicht denken, nicht fühlen, möglichst ignorieren, alles ignorieren, den Lärm, die Steigung, die Enge, einfach Meter für Meter treten und bloß nicht schwächeln. Ich schäme mich nicht für meine Angst.
Irgendwann, bereits am Abgrund der Verzweiflung: Parkende Busse, ein paar Militärfahrzeuge der Schweizer Armee. Was ist denn hier los? Ein lässiger Typ in Jeans und Radlersandalen steht mit seinem Randonneur am Straßenrand und winkt mir freundlich zu. Steht hier so rum und winkt. Wie, bin ich schon oben? Ja, das hier ist die Teufelsbrücke und dort ist das Urner Loch. Du hast es geschafft. Du bist oben! Ich kann es garnicht fassen. Der Italiener belächelt mein Gewimmer.
Wir schreien uns häppchenweise an, denn auch hier ist der Verkehr so laut, dass man sein eigenes Wort nicht versteht. Er tourt durch Europa und nimmt heute die Schöllenen bergab. Er sagt, an den Verkehr gewöhne man sich. Er sagt, weil ich das hier geschafft habe, wird mich so schnell nichts mehr schocken können, denn er kenne auch die Auffahrt. Ich sage, dass ich kaum glauben kann, dass ich noch am Leben bin.
Ich empfinde eine unfassbare Erleichterung und ringe um Fassung. Bei überschlägiger Berechnung von Fahrzeit und Fahrstrecke berichte ich meinem neuen Kameraden stolz und scheinbar scherzhaft von meinem mindestens Vierziger-Schnitt die Schöllenen hinauf. Darf ich mich vorstellen: Marco kettenraucher Pantani. Haha. Ich bin völlig aus dem Häuschen, ich hab es tatsächlich geschafft. Wir besprechen noch ein paar velosophische Gedanken und fahren unserer Wege. Ein Händedruck unter Freunden. Viel Glück und Gute Fahrt.
Das Hochtal um Andermatt empfängt mich als Großbaustelle: Hotels. Golfplatz. Straßenbau, was weiß ich, Freizeitpark mit Alpenpanorama. Großvolumig.
Weiß nicht, warum, aber „I was born in a cross fire hurricane …” erklingt in meinen Ohren „… and I howled to my ma in the driving rain…” Die ehemals rotzigen Stones sind vom Himmel gefallen und sie geben mir und meinem Velo ein triumphales Konzert auf der Baustelle vor den Toren der Stadt. “… But it´s all right now, in fact it´s a gas. I´m jumpin Jack flash it´s a gas, gas, gas.“ Danke Jungs, für den netten Empfang. So hat halt jede Tour ihren Soundtrack, ich hab´ s ja gewusst.
Schlängele mich in die Dorfmitte. Gasthöfe. Freundliche Leute. Eine köstliche Gulaschsuppe. Verwerfe meinen Plan, heute Mittag den Gotthard zu fahren. Wer weiß, was mich dort erwartet? Heut fahr ich keinen Meter mehr. Und diese Schlucht fahr ich auch nie wieder. Mir ist eher nach Entspannung. Etwas Zerstreuung im Hurra, wir leben noch. Zimmer frei? Ja. Und eine Ladung Schweizer Rösti bitte. Und ein Bierchen. Bitte, danke, gerne.
Ein Pulk von Rennradfahrern versammelt sich an dem kleinen Platz. Alle in Oranje. Alle. Einer klickt nicht rechtzeitig aus und legt sich volle Breitseite mitten auf das Pflaster. Das riesige Gelächter der holländischen Gruppe hat nicht einen Hauch von Häme im Unterton und klingt einfach nur wunderbar locker, unbeschwert, freundschaftlich und lebenslustig. Holländer eben, extrem sympathisch, die können Humor auch ohne Schadenfreude und Überheblichkeit.
Betrachte zwei Motorräder. Gigantische Boliden, Ducati, die Bremsscheiben fast so groß wie die Felgen, Rennmaschinen für die Rennstrecke, ungeeignet für Amateurfahrer im öffentlichen Verkehr. Meine Meinung. Außerdem belasten sie mein sensibles musikalisches Gemüt, äh, sie gehen mir gehörig auf die Nerven.
Hupen. Vielstimmiges Hupen. Penetrant hupende Autos. Dutzendweise hupende Alfa Romeo historischer Baujahre knattern durchs Dorf, die Fahrer und Beifahrerrinnen winken aus dem Fenster und sie johlen und rufen und grüßen mit großer Begeisterung. Sie finden ihre Art der Freizeitgestaltung offensichtlich toll, toll, ganz, ganz toll. Ich tippe nicht mit dem Zeigefinger den Autofahrergruß an meine Stirn sondern winke halbwegs kooperativ zurück.
Radfahren die nächste Tage kann ich knicken, sagt die Frau, die mir eine fabelhafte Lammfleischsuppe serviert. Es wird Regen geben. Heute noch. Atlantische Störungszonen. Pah, mir doch egal. Als Schönwetterradler sitz ich den Regen auch gern mal in der Kneipe aus.
In der Gaststube fragt der Schweizer: „Sie sind der Radfahrer?“
Kettenraucher: „Ja.“
„Wollen Sie einen Schnaps?“
„Ja, gerne, die ganze Flasche.“
„Ooooh! So durstig?“
„Nein, war nur ein Scherz! Bin heut aber etwas mitgenommen.“
„Warum?“
„Die Schöllenenauffahrt war die Hölle“
„Oh ja, das sagen alle. Zu viel Verkehr. Sehr gefährlich, vor allem in den Galerien.“
„Wem sagen Sie das!“
„Auf großer Tour?“
„Ja, ja. Für meine Verhältnisse schon.“
„Weltreise?“
Ich muss lachen.
„Europatour?“
„Nö, nur Schweiz.“
„Ach so, nur Schweiz.“
Diese Enttäuschung spricht heute und morgen aus vielen Andermatter Mündern zu mir. Man erwartet hier am Alpenhauptkamm gefälligst ein paar abenteuerliche Geschichten über fulminante Weltreisen oder wenigstens eine mickrige Eurasientour. Aber da ich meine Neigung zur wahrheitsgemäßen Auskunft selten unterdrücken kann, ernte ich immer wieder dieses beinahe schon mitleidige „Aha, ach so, nur Schweiz … wie langweilig“.