Spaß oder Wahnsinn? Pässe an Ferragosto.Dienstag – 16. August 2016
Bormio – Lenzerheide
135 Kilometer – 3.400 HöhenmeterNachdem ich gestern nach Bormio abgefahren bin, steht die weitere Richtung nun fest. Es geht Richtung Schweiz.
Die schlechte Nachricht: heute geht es über 5 Pässe. Die gute Nachricht: keiner davon ist besonders schwer.
Eigentlich sind es sogar 5 ½ Pässe. Der Passo d‘Eire wird manchmal als eigenständiger Pass angesehen. Eigentlich ist es aber nur ein Gegenanstieg auf dem Weg vom Foscagno nach Livigno.
Zunächst nur leicht ansteigend, dann sogar eben geht es das Tal hinter Richtung Foscagno. Später mit angenehmer, gut zu fahrender Steigung; im oberen Bereich längere Galerien. Der Verkehr ist deutlich, aber noch erträglich.
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Die Galerien im oberen Bereich des Foscagno.
Der Fahrer eines laut dröhnenden, kastenartigen, untermotorisierten Vehikels überholt mich in einer der langen Galerien trotz Gegenverkehr und quetscht mich fast an die Wand. Verglichen mit der Gefahr des Verlierens von etwas seiner wertvollen, zuvor mühsam erreichten Geschwindigkeit, scheint das mögliche vorzeitige Ableben eines ihm unbekannten Radfahrers für ihn deutlich geringere Priorität zu haben.
Oben am Pass steht die seltsame graue Wohnmobilkiste mit deutschem Kennzeichen. Der (Wirrkopf) Fahrer sitzt darin, (glotzt) blickt in der Gegend herum und scheint auf einmal alle Zeit der Welt zu haben, wo es für ihn doch kurz zuvor noch um Leben oder Tod zu gehen schien. Manchmal bleibt die Gedankenwelt der motorisierten Verkehrsgenossen ein Rätsel für mich.
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Passo Foscagno – 2.291 m.
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Die Hochebene zwischen Foscagno und Passo d‘Eira
In Livigno - kilometerlanges „Straßenkaff“ - ist alles zugeparkt und Menschenmengen pilgern von einem Zollfrei-Geschäft zum nächsten. Konsum ohne Grenzen. Ich kaufe im nächstgelegenen Laden Verpflegung und sehe zu, dass ich schnellstmöglich hier herauskomme.
Auffällig, dass hier einige Handbiker – nennt man die so? Fahrräder mit Handantrieb – trainieren. Außerdem sehe ich mehrere „richtige“ Reiseradler. Ich glaube, die Pässe hier in der Umgebung eignen sich auch ganz gut für schwerer bepackte Räder.
Und ich sehe eine italienische Familie, alle auf E-Mountainbikes. Der Vater unglaublich beleibt, das E-Bike hat dafür fette Monsterreifen. Auch die beiden Kinder stark übergewichtig, aber mit E-Bikes. Die Mutter verteilt gerade Schokoriegel aus dem Supermarkt. Ich gönne es ihnen, aber auch heute wird es bei denen wohl nichts mit der negativen Kalorienbilanz, trotz Radausflug.
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Forcola di Livigno – 2.315 m.
Leichte Auffahrt zum Forcola di Livigno und erfreulicherweise hält sich der Höhenmeterverlust in der Abfahrt zur Berninapass-Straße in Grenzen.
Es wird nun aber höchste Zeit für die verspätete Mittagsverpflegung, aber ich habe hier schon einen Platz im Sinn. Dazu muss ich aber noch über den Berninapass.
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Der Kreditkartentourer. Die Kreditkarte befindet sich in der kleinen Satteltasche. Aber bitte nicht weitersagen.
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Passo del Bernina – 2.330 m
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Traumstraße?
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Mein Brotzeitplatz am Lago Bianco.
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Meine in Livigno gekaufte einfache, rustikale Brotzeit. In diesem Moment kann ich mir für meine Pause keinen schöneren Ort und kein besseres Essen vorstellen und würde auf das edelste Luxusmenü im angesagtesten Szenerestaurant im Vergleich dazu gerne verzichten.
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Abgefahrene Märklin-Eisenbahnspielwelt?
Von meinem Pausenplatz kann ich die Bernina-Bahn beobachten.
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Die schönste Brotzeitpause ist irgendwann zu Ende. Falls unklar sein sollte, was ich mit "Brotzeit" meine, in manchen südlichen Landesteilen wird das als Vesper bezeichnet. Wie das an anderen Landesteilen heißt, weiß ich leider nicht.
In der Abfahrt komme ich noch an der Moderatsch-Kehre vorbei.
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Die Bildqualität ... Heute bereue ich sehr, dass ich meine Canon zu Hause gelassen habe. Die Bilder sind mit dem Billig-Handy geknipst. Gewichts- und Volumenoptimierung; leider ...Schönste Fotomotive fast nach jeder Kurve. Ständiges Absteigen zum Fotografieren würde andererseits aber auch das Vorwärtskommen und den Fahr-Rhythmus beeinträchtigen.
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Bei der Bewertung der Bildkomposition beachte man rechts unten die gerade vorbeikommende Bernina-Bahn.
In Pontresina hole ich mir am Geldautomaten Schweizer Franken und decke mich im Supermarkt mit Getränken ein.
Das erste Flachstück heute führt durch das traumhafte obere Engadin bis La Punt. Direkt in der Ortsmitte geht es sofort steil in den Anstieg zum Albula, einer der schönsten Pass-Straßen überhaupt. Über den Bernina war schon wenig Verkehr; hier ist es nun total ruhig und ich genieße diese wunderbare Strecke. Die Wolken werden dunkler, immer wieder gibt es leichte Schauer, vereinzelte Windböen. Das stört mich nicht, ich bin jetzt im „Ist-mir-alles-egal-macht-einfach-nur-noch-Spaß-Modus“ unterwegs.
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Im oberen Bereich des Albula.
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Albula – 2.315 m.
Die Abfahrt vom Albula – eigentlich auch die schönere Auffahrt – ist genial. Wenn es die nicht schon gäbe, müsste man sie erst noch erfinden.
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Gemeindeamt mit Steinwildkanzlei
In der Steinwildkanzlei beabsichtigte ich mich über die Lage des Steinwildes im Alpenraum im Allgemeinen sowie im Albula-Gebiet im Besonderen zu informieren. Leider war der Steinwildkanzleivorsteher nicht mehr anwesend und so musste dieses mit Sicherheit unglaublich interessante Gespräch zu meinem großen Bedauern unterbleiben.
Eine Auffahrt fehlt für heute noch, die nach Lenzerheide. Es gibt heute also auch noch eine Bergankunft. Die ist aber keine große Herausforderung mehr und ich treffe bald an meinem Hotel ein.
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Ich werfe einen kurzen Blick auf die Speisekarte des Hotel-Restaurants. Das einfache Vorspeisensüppchen soll 13,50 SFR kosten, der Burger hinterher 36,50 SFR. Gerne lasse ich mir diese Delikatessen entgehen und gebe mich mit den etwas fragwürdig aussehenden Resten meiner Livigno-Brotzeit zufrieden. Sonst speist hier übrigens auch niemand.
Ja Leute, was nützt euch denn die schönste Speisekarte mit den tollsten Preisen, wenn dann kein Mensch mehr reingeht? Schon mal überlegt? Oder hat ihr es einfach nicht mehr nötig? Wegen Reichtum überteuert? Ich weiß es nicht. Vielleicht machen die ja ihren gesamten Jahresumsatz im Winter.
Ich bummle noch ein wenig durch den Ort, aber es ist wenig los. Auch in den anderen Gaststätten nur sehr wenig Kundschaft. Was für ein Gegensatz zu den zuvor besuchten Regionen Bayern, Tirol, italienische Alpen.
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So werden hier im Sommer die Schlitten aufbewahrt.
Mittwoch – 17. August 2016
Lenzerheide - Allgäu
195 Kilometer – 1.100 HöhenmeterAuch das am Vorabend eher widerwillig angebotene Frühstück für 20 SFR, das frühestens um 8:30 serviert würde, da der wahrscheinlich stressbedingt kurz vor dem Burnout stehende schweizer Hotelier ja auf seine ausgedehnte Nachtruhe angewiesen ist, lasse ich gerne sausen, verlasse leise das sich noch in tiefster Stille befindende Haus und versorge mich stattdessen beim Dorfbäcker.
Heute sollte ein leichter Tag werden. Der Plan: nach Chur runterrollen, den Rheinradweg bis Lindau, dort ein bisschen bummeln und dann gemütlich mit der Regionalbahn heim.
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Regenwolken über Chur.
Starker Regen in Chur. Ich freue mich. So habe ich meine Regenklamotten nicht umsonst mitgeschleppt.
Am Rheindamm wird es mir bald langweilig, deswegen nehme ich ab Landquart hübsche kleine Nebenstraßen.
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Irgendwann wieder auf den Rheinradweg.
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Hier mündet die Bregenzer Ache in den Bodensee.
Vor Bregenz nehme ich die stark umwegbehaftete Radausschilderung; ist ganz nett über die Rheinauen und am Bodenseeufer entlang, kostet aber viel Zeit. Viele Spaziergänger, Fahrräder, E-Bikes, E-Bikes, noch mehr E-Bikes.
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Lindauer Hafen
Ich schaue noch ausgiebig in Lindau herum - hier ist auch wieder extrem viel Betrieb – und gehe irgendwann zum Bahnhof, wo ich feststelle, dass wegen Bauarbeiten keine zumutbare Verbindungen in meine Richtung gehen.
Ich befrage einen Bahnbediensteten nach seiner Meinung. Das ist aber wenig erhellend. Er verweist mich auf den Schienenersatzverkehr. Ich verweise auf das von mir mitgeführte Fahrrad. Ich hole mir noch den Tadel ab, dass ich solche Unternehmungen wohl nicht ausreichen planen würde, beende die wenig zielführende Diskussion und nehme dann den Zug mit Endstation Oberstaufen.
So muss ich dann also doch noch mal aufs Rad und bewältige die letzten 70 Kilometer aus eigener Kraft. Schade, wenn ich in Lindau nicht so viel Zeit vertrödelt hätte, hätte ich wohl gleich noch die ganze Strecke ohne die Hilfe des öffentlichen Nahverkehrs bewältigen können.
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Noch mal ein schöner Brotzeitplatz oberhalb des Rottachsees im Allgäu.
Erkenntnisse?
Im Nachhinein bereue ich das kleine Wagnis „bekannte Pässe in der Hauptreisezeit fahren“ überhaupt nicht.
Die angespannte Übernachtungssituation war nicht toll, aber mit etwas Flexibilität zu machen. Fast ohne Planung einfach darauf losfahren ohne genau zu wissen wohin und wie weit, war auch mal wieder schön und vermittelte ein kleines Gefühl von Freiheit.
Teilweise war der Verkehr sicher unangenehm, aber darauf war ich schon eingestellt. Eine gewisse Gewöhnung an Radfahren auf vielbefahrenen Straßen sollte auf jeden Fall vorhanden sein. Aber es gab auch viele schöne und auch ruhige Passagen. Zu Hause bleiben als Alternative? Bestimmt nicht!
Pässe fahren an Ferragosto. Spaß oder Wahnsinn? Von beidem ein bisschen. Schön.